In den letzten Jahren hat sich der Kampf gegen Geschlechterunterdrückung und Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung in vielen Ländern zu Massenbewegungen entwickelt. Über Geschichte, Theorie und Perspektive für die Emanzipation. [von Falce Martello, dem Theoriemagazin der italienischen IMT-Sektion]
Wir haben große Proteste erlebt, welche die Wut und Rebellion – die sich über Jahre und Jahrzehnte aufgebaut haben – gegen die leidige Einmischung des Systems zum Ausdruck brachten, das einen nicht nur dazu zwingt, täglich zu kämpfen, um über die Runden zu kommen, sondern auch das Recht beansprucht, zu entscheiden, was man in seinem Privatleben zu tun oder zu lassen hat, mit wem man eine Beziehung haben kann, ob man ein Kind erziehen darf oder nicht, usw., und das jeden, der von den Normen der sogenannten „traditionellen Familie“ abweicht, sozial und rechtlich ausgrenzt und diskriminiert.
Mit ihren Forderungen nach Befreiung und ihrer Massenbasis tragen diese Proteste ein revolutionäres Potential in sich. Gleichzeitig wird bewusst versucht, diese Themen auf eine Frage der Kultur zu reduzieren und die Ziele der Bewegung auf den Kampf für kleine Zugeständnisse zu beschränken, die mit dem normalen (d.h. unterdrückerischen) Funktionieren des Kapitalismus vereinbar sind. In der öffentlichen Debatte erhalten jene Theorien eine große Plattform, die an der Oberfläche radikal erscheinen, aber in der Praxis den Kampf der LGBT+-Bewegung in idealistische und existenzialistische Bahnen lenken lenken, die in einer Sackgasse enden, obwohl es eigentlich darauf ankommt, die materiellen Bedingungen zu verändern.
Für den Sieg der LGBT+-Bewegung ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie einen Klassenansatz verfolgt, mit dem der Kampf gegen homophobe Unterdrückung und für volle Bürgerrechte mit dem allgemeinen Kampf für ein menschenwürdiges, von wirtschaftlicher und sozialer Unterdrückung freies, Leben verbunden wird. Es ist ebenso wichtig, dass die Arbeiterbewegung den LGBT+-Kampf aufnimmt und die historisch bestehende Kluft überwindet, die insbesondere aufgrund der reformistischen und stalinistischen Führung der Linken existiert.
Als Revolutionäre ist dieses Ziel ein wichtiger Teil unserer politischen Tätigkeit und dieser Artikel bietet eine Grundlage für weitere theoretische Debatten über diese Frage.
Heute ist Homosexualität oder jedes andere damit zusammenhängende Verhalten in 72 Ländern immer noch offiziell illegal, mit Strafen von einem Monat bis zu 15 Jahren Gefängnis, bis hin zu lebenslanger Haft und sogar der Todesstrafe (in 8 Ländern). In Ländern wie Saudi-Arabien wird die Todesstrafe durch Steinigung vollzogen, während in anderen Ländern Formen der körperlichen Bestrafung wie Peitschenhiebe verhängt werden. Gleichgeschlechtliche Ehen werden nur in 23 Ländern und in weiteren 27 Zivilverbänden anerkannt1.
Aber auch dort, wo es Formen des Rechtsschutzes gibt, nimmt die offizielle Diskriminierung viele Formen an. In mehreren US-Bundesstaaten gibt es beispielsweise „Gesetze gegen die Förderung der Homosexualität“, die bestimmte Verhaltensweisen einschränken oder Leitlinien für die Art, wie Sexualmoral in Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen unterrichtet werden soll, vorgeben. Dies ist nur allzu bekannt in Italien, wo die Rechten und die katholische Kirche Kreuzzüge gegen die sogenannte „Gender-Theorie“ in italienischen Schulen gestartet haben. Diese Menschen ermutigen die Rechtsextremen zum Handeln und organisieren Gruppen, die gewalttätige Angriffe gegen Homosexuelle (sowie Einwanderer und linke AktivistInnen) durchführen. Es ist kein Zufall, dass ein Gesetzentwurf gegen die Aufstachelung zu homophobem Hass und für erschwerende Umstände in einer Schublade einer parlamentarischen Kommission seit drei Jahren Staub ansammelt. Dieses Gesetz geht zwar nicht weit genug, würde aber zumindest ein gewisses Maß an Schutz gewährleisten. Aber offenbar steht der Gesetzentwurf von Minniti, der die Ausweisung von MigrantInnen ermöglichen würde, die die Flucht über das Mittelmeer im Boot überlebt haben, viel weiter oben auf ihrer Prioritätenliste!
Hinzu kommt, dass die Diskriminierung das Alltagsleben – in der Schule, am Arbeitsplatz und zu Hause – durchdringt und sich in dem ständigen ideologischen und sozialen Druck niederschlägt, der LGBT+-Menschen belastet. Laut einer Studie des ISTAT (Italienisches Nationales Statistikamt) deklariert nur jedeR vierte homosexuelle ArbeiterIn offen seine oder ihre sexuelle Orientierung, aus Angst vor Mobbing oder Entlassung. Dieser Trend ist in den Provinzen besonders ausgeprägt. Laut einer EU-Umfrage sind 68 % der EU-BürgerInnen der Meinung, dass es Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung gibt. Einer anderen Umfrage zufolge gehen in Italien nur 6 % der LGBT+-Jugendlichen an Gymnasien mit ihrer sexuellen Orientierung in ihrem weiteren Umfeld völlig offen um, während weitere 39 % in einem kleineren Freundeskreis nur teilweise offen sind – die Durchschnittswerte in anderen EU-Ländern sind ähnlich. Dass 94% der LGBT+-Jugendlichen es vorziehen, ihre sexuelle Orientierung ganz oder teilweise zu verbergen, spricht Bände über die persönliche Not, die soziale Diskriminierung mit sich bringt. Dieser Druck hört zu Hause nicht auf, und die Familie ist in der Tat oft der erste Ort, an dem die Nichtakzeptanz zu finden ist, und dies geht bis zu allen Arten von Gewalt, vom Einsperren im Haus bis hin zu Schlägen und „korrigierenden“ Vergewaltigungen. Es ist nicht ungewöhnlich, Nachrichten von Jugendlichen zu lesen, die „Selbstmord begangen haben, weil sie schwul waren“, das tragische Endergebnis des psychologischen Drucks, der auf sozialer und familiärer Ebene entsteht.
Jede homophobe Kampagne basiert auf dem Argument, dass Homosexualität grundsätzlich „gegen die Natur“ sei. Die vulgärsten Darstellungen dieser Denkweise finden sich im religiösen Fundamentalismus, aber das Argument war längstens auch in der „wissenschaftlichen“ Welt präsent – eine Bestätigung dafür, dass die Wissenschaft von der herrschenden Ideologie geprägt ist. In der Psychologie wurde Homosexualität lange Zeit von der Mehrheit der wissenschaftlichen Gemeinschaft als pathologisch oder zumindest als nicht-physiologischer Zustand angesehen, selbst von den fortschrittlichsten PsychologInnen. Das war der Fall bei Freud, der, obwohl er keine Diskriminierung förderte, die Homosexualität als eine Unterbrechung der sexuellen Entwicklung ansah. Sogar Wilhelm Reich, im Allgemeinen ein Befürworter der sexuellen Befreiung, der auch eine materialistische und revolutionäre Einstellung hatte (zumindest in seinen frühen Jahren), definierte Homosexualität als „die Folge einer sehr frühen Störung in der Entwicklung der affektiven und sexuellen Funktionen„. Erst 1973 hörte die APA (American Psychiatric Association) auf, Homosexualität als Pathologie zu betrachten, und 1986 wurde schließlich die Kategorie der „ego-dystonischen Homosexualität“ entfernt (eine vermeintliche Form der pathologischen Homosexualität, die im Gegensatz zur physiologisch begründeten ego-syntonischen Homosexualität als Quelle von Stress angesehen wird), in Anerkennung der Tatsache, dass der psychische Stress in Wirklichkeit durch den sozialen Druck auf Homosexuelle verursacht wurde. Vier Jahre später, am 17. Mai 1990, strich die Weltgesundheitsorganisation die Homosexualität endgültig von ihrer Liste der psychischen Erkrankungen.
Die Tatsache, dass nicht-heterosexuelle Orientierungen und Verhaltensweisen nichts Ungewöhnliches sind, wird durch ihre weite Verbreitung in der Menschheitsgeschichte und auf der ganzen Welt bestätigt, was durch anthropologische, historische und literarische Studien reichlich belegt ist.2 Es gibt Aufzeichnungen über sogenannte „Menschen der beiden Geister“ unter den UreinwohnerInnen Amerikas, Männer, die sich als Frauen kleideten und benahmen, und umgekehrt, und die oft an religiösen Zeremonien beteiligt waren. Es ist bekannt, dass in Theben im 4. Jahrhundert v. Chr. ein heiliges Bataillon geschaffen wurde, das aus 150 männlichen Soldatenpaaren bestand, deren Unbesiegbarkeit im Kampf darin lag, dass jeder von ihnen seinen eigenen Partner schützen und tapfer vor ihm erscheinen wollte – jeder Soldat wird in allen Schlachten sein Bestes gegeben haben. Es ist auch allgemein bekannt, dass in Athen und Rom (männliche) homosexuelle Beziehungen sozial und rechtlich anerkannt wurden. Allerdings wäre es falsch, diese als Beispiele für völlige Freiheit der sexuellen Beziehungen zu betrachten, wie wir sie in einigen oberflächlichen Interpretationen sehen, oder nach einem „goldenen Zeitalter der Homosexualität“ vor der modernen Repression zu suchen.
In Athen waren die sozial geregelten männlichen homosexuellen Beziehungen in der vorstädtischen Zeit und in den ersten Jahren nach der Geburt der Polis sogenannte Päderastenbeziehungen zwischen einem freien, erwachsenen, männlichen Bürger (in der Regel über 25 Jahre alt) und einem freien, männlichen Jugendlichen (zwischen 12 und 17 Jahren). Sie hatte die Erziehung des Jugendlichen zum Erwachsensein und den Status als Bürger zum Ziel. Die sexuelle Beziehung war ein Teil dieser Erziehung und war selbst Erbe eines viel älteren Initiationsrituals ins Erwachsenenalter, in dem die Rollen starr festgelegt waren: der Erwachsene war aktiver Verehrer, der Jugendliche hingegen unterwürfig und schüchtern, und sollte nur dann nachgeben, wenn der Verehrer die Ernsthaftigkeit seiner Absichten bewiesen hatte. Diese Beziehung wurde geführt, bis der jüngere Partner das Erwachsenenalter erreichte, woraufhin er eine Periode der Abstinenz durchlief, um danach eine andere Rolle bis zur Heirat zu übernehmen. Beziehungen mit Sklaven waren nicht erlaubt – diese hätten keinen erzieherischen Zweck gehabt, da Sklaven nicht dazu bestimmt waren, Bürger zu werden – genauso wie (zumindest theoretisch) homosexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen untersagt waren. Solche Beziehungen waren vor der Heirat allgemein üblich, wurden jedoch nur in einigen Fällen danach weitergeführt. Frauen hingegen wurden im Haus abgeschieden und aus dem gesellschaftlichen Leben verbannt, während lesbische Beziehungen als geschmacklos galten, obwohl sie vor allem in Schulen für die Ausbildung junger Frauen (Sappho war Erzieherin) existierten, bevor sie schließlich im Haus eingeschlossen wurden. Im Laufe der Jahrhunderte führten die Verbreitung männlicher homosexueller Beziehungen und eine Schwächung der Rollenverteilung zu einer gewissen sozialen Stigmatisierung.
In Rom hingegen war die Sexualität ein Beweis für die männliche Herrschaft, und es war daher nicht hinnehmbar, dass ein freier Bürger eine passive Rolle übernahm (auch nicht in jungen Jahren). Homosexuelle männliche Beziehungen wurden unter der Bedingung als völlig legitim angesehen, dass der unterwürfige Partner ein Sklave oder eine männliche Prostituierte war – die Lex Scatinia (3. oder 2. Jahrhundert v. Chr.) verbot die sexuelle Belästigung junger, freier Männer und verbot ihnen, eine passive Rolle in Beziehungen mit erwachsenen Männern einzunehmen – ein solches Verhalten wurde mit Geldstrafen bedacht. In der Zeit des Römischen Kaiserreiches verbreiteten sich durch den griechischen Einfluss allmählich Beziehungen analog zur hellenischen Päderastie. Und mit einer allmählichen Deregulierung verbreitete sich passives Sexualverhalten unter freien Männern, Sklaven und männlichen Prostituierten, auch unter prominenten Persönlichkeiten wie Julius Cäsar und Cäsar Augustus. Ab dem 4. Jahrhundert n. Chr. wurden homosexuelle Beziehungen jedoch durch das Gesetz wieder eingeschränkt: Es gab die Strafe der Kastration für Passivität (342 n. Chr.), Tod durch Brennen auf dem Scheiterhaufen für passive männliche Prostituierte (390 n. Chr.), Tod für alle passiven Männer (438 n. Chr.) und schließlich für alle Formen homosexueller Aktivität (533 n. Chr.).
Eine entscheidende Rolle bei der Unterdrückung der Homosexualität spielte der Aufstieg des Christentums zur dominierenden Religion. Die Kirche war die erste, die homosexuelle Beziehungen als „widernatürlich“ deklarierte, eine Idee, die bis heute in der religiösen Moral fortbesteht. Dies war ein völlig neues Konzept, da früher selbst diejenigen, die gegen homosexuelle Beziehungen waren sie nicht als unnatürlich verurteilten, sondern vor allem die Rolle und Stabilität der Familie in der Gesellschaft stärken wollten, oft mit dem Argument, dass dies für das Bevölkerungswachstum notwendig sei. Es war Kaiser Justinian, der als erster die Idee der göttlichen Strafe für Homosexuelle aufwarf. Diese Unterdrückung der Homosexualität ging Hand in Hand mit dem Konzept der christlichen Abstinenz, wonach Geschlechtsverkehr nur dann legitim ist, wenn er mit dem Ziel der Fortpflanzung durchgeführt wird, und daher unkontrollierter und ehebrecherischer Verkehr unterdrückt werden muss (davor war Ehebruch gesellschaftlich akzeptiert – natürlich nur für Männer).3
Aus diesem kurzen historischen Überblick können wir einige Schlussfolgerungen ziehen. Erstens gab es schon immer homosexuelle und bisexuelle Verhaltensweisen, wie einerseits die soziale Praxis zeigt, aber vor allem auch die Tatsache, dass nicht regulierte homosexuelle Beziehungen (zum Beispiel zwischen erwachsenen männlichen Bürgern oder zwischen Frauen, sowohl in Griechenland als auch in Rom) eingeschränkt wurden, nämlich solche, die der homosexuellen Liebe im modernen Sinne näherkamen, und die im Laufe der Geschichte immer wieder aufgetreten ist.
Zweitens können wir sehen, dass es in verschiedenen historischen Epochen unterschiedliche soziale Normen bezüglich der Sexualität gegeben hat, was beweist, dass es keine Grundlage für das Konzept der „traditionellen Familie“ gibt, geschweige denn eine traditionelle monogame Familie mit gegenseitiger Treue, wie es heute gefordert wird. Dieses Modell wurde nur unter dem Christentum und auch hier nur als Idealvorstellung übernommen. Die soziale Realität von Ehebruch und Prostitution, die den Männern zur Verfügung steht, zeichnet ein ganz anderes Bild, und sie hat unzählige Veränderungen erfahren, die heute abhängig von den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in vielen Formen existieren (man denke nur an den Unterschied zwischen der alten Großfamilie der Bauern und der Kernfamilie Familie der ArbeiterInnen oder Angestellten heute).
Drittens und letztens müssen wir feststellen, dass diese Normen keinesfalls Ausdruck sexueller und emotionaler Freiheit waren. Zunächst wurden Sklaven und Frauen völlig ausgeschlossen, und nur bestimmte Verhaltensweisen wurden als legitim angesehen, während andere verboten wurden, und – zumindest im Falle Griechenlands waren Päderastenbeziehungen eine soziale Einrichtung, die weder die sexuelle Orientierung des Bürgers noch die des betroffenen Jungen berücksichtigte, der sie vielleicht mit Unbehagen erlebte.
Folglich waren solche Gesetze in Wirklichkeit verschiedene Formen der Regulierung des emotionalen, häuslichen und sexuellen Lebens, einschließlich Unterdrückungsmaßnahmen, wenn rechtmäßiges Verhalten verletzt wurde. Dabei war es von der Struktur der Gesellschaft abhängig, was als rechtmäßig angesehen wurde.
Vor diesem Hintergrund wollen wir festhalten, dass es in der gesamten Menschheitsgeschichte eine Unterdrückung von nicht-heterosexuellem (homosexuellem, bisexuellem …) Verhalten gab, mit unterschiedlicher Stärke und unterschiedlichen Einschränkungen. Sie hat und hatte das Ziel, die Familienbeziehungen zu stabilisieren, insbesondere um die Gründung und Stärkung der monogamen Familie zu gewährleisten.
Wie Engels in „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ erläuterte und durch die wichtigsten Schlussfolgerungen mehrerer neuer anthropologischer Studien bestätigt wurde, ist die Familie keine stabile Institution, die schon immer existiert hat. In Jäger und Sammler Gesellschaften, als die Verwaltung von Wirtschaft, Lebensmitteln und Werkzeugen und die Erziehung von Kindern auf gemeinschaftlich und kommunal durchgeführt wurden, hatten Frauen eine prominente Rolle und die Gesellschaft war matrilinear (d.h. Abstammung und Erbe waren von der Mutterseite bestimmt). Aufgrund der Domestizierung von Tierer, der Einführung von Landwirtschaft und der Konzentration der Produktionsmittel in den Händen der Männer entstand – zusammen mit der Klassengesellschaft – die patriarchalische Unterdrückung. Die monogame Ehe wurde zur Grundlage der neuen Familienstruktur, deren Hauptzweck es war, die Vaterschaft nachweisen zu können, um den Kindern der Männer das Erbe zu gewährleisten. Daraus ergeben sich die heute noch so weitverbreiteten Besitzansprüche von Männern über Frauen und Kinder, die das Leben von Milliarden von Individuen negativ beeinflussen.
In diesem Zusammenhang entstanden die Unterdrückung der Frauen, ihre Marginalisierung innerhalb der Gesellschaft und die Unterdrückung ihres Sexualverhaltens, die sie zu bloßen Reproduktionsinstrumenten (Haushalts- und Kinderpflege) machte. Sie wurde strukturell und historisch verankert, zusammen mit der Entstehung verschiedener familiärer und sozialer Strukturen. Die Haltung einer Gesellschaft zu Sexualverhalten, das außerhalb der Fortpflanzung in der monogamen Familie liegt, hängt davon ab, wie sehr dieses als Bedrohung für die Familie als Institution angesehen wird. Die homosexuelle Liebe zwischen Frauen wurde zu verschiedenen Zeiten der Geschichte unterschiedlich stark unterdrückt (wir haben nur einige wenige erwähnt). Wir können jedoch argumentieren, dass es unmöglich sein wird, die soziale Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung zu überwinden, solange die monogame Familie als Grundpfeiler der Gesellschaft und als einziges Modell für legitimes emotionales und sexuelles Verhalten angesehen wird.
Der Kampf gegen sexuelle Diskriminierung ist aus mehreren Gründen mit dem Kampf gegen die Klassengesellschaft im Allgemeinen verbunden. Der erste ist, wie wir erklärt haben, dass nur die Abschaffung der Klassengesellschaft die materielle wirtschaftliche Grundlage und den kulturellen Antrieb schaffen kann, die ausreichen, um das Modell der monogamen Familie als einzige Grundeinheit der Gesellschaft abzubauen. Indem man alle Aufgaben, die heute der Familie und vor allem den Frauen (Kochen, Putzen, Kindererziehung) übertragen werden, als Gesellschaft und öffentlich wahrnimmt, und indem die freie Entfaltung der Individuen mit Zugang zu den besten materiellen und kulturellen Ressourcen der Gesellschaft ermöglicht wird, wird es möglich sein, zwischenmenschliche und familiäre Bindungen allmählich von materiellen Zwängen zu befreien, sodass Beziehungen ausschließlich den romantischen und sexuellen Wünschen der Individuen entsprechen, wodurch die derzeit bestehenden repressiven Normen und Diskriminierungen aufgelöst werden.
Der zweite Grund ist, dass die überwiegende Mehrheit der LGBT+-Menschen ArbeiterInnen, Jugendliche, temporär Beschäftigte und Arbeitslose sind, die eine doppelte Unterdrückung sowohl in Bezug auf ihre Klasse, ihren Arbeitsplatz und ihre Lebens- (oder Überlebens-)Bedingungen, als auch bezüglich ihrer Identität oder sexuellen Orientierung erfahren. Den Kampf gegen diese zwei Formen der Unterdrückung zu verbinden ist daher die natürlichste Sache, besonders wenn man bedenkt, dass der Feind in beiden Fällen derselbe ist. Außerdem sollte nicht vergessen werden, dass homophobe Vorurteile auch zur Spaltung von ArbeitInnen geschürt werden – zum Beispiel, um heterosexuelle ArbeitInnen glauben zu machen, dass sie zwar unterdrückt werden, sie dem Schwulen aber immer noch überlegen sind (wie befriedigend!), so wie auch rassistische Vorurteile gepflegt werden. Die Rolle der Rechten in diesem Prozess ist offensichtlich.
Wer sagt, dass die beiden Fronten des Kampfes getrennt werden müssen, spielt dem Feind in die Hände. Diejenigen, die für die Trennung der Kämpfe argumentieren sind oft wohlhabende Menschen in der LGBT+-Bewegung, welche die materiellen Probleme von LGBT+-ArbeiterInnen und Jugendlichen nicht kennen. In der Tat beschränken sie die Bewegung darauf, von der Regierung kleine Zugeständnisse zu fordern, ohne zu viel Lärm zu schlagen und oft ohne nennenswerte Siege. Das gilt beispielsweise für die homosexuellen-freundlichen Bewegungen der 1950er Jahre (sowohl in Italien als auch international), die später von den homosexuellen Befreiungsbewegungen der 1960er und 1970er Jahre stark kritisiert wurden, als diese sich auf den Wellen des Klassenkampfes zu jener Zeit in Richtung Revolution entwickelten.
Andererseits halten wir fest, dass ein Großteil der Schuld für die Spaltung zwischen der LGBT+-Bewegung und der Arbeiterbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Führung der kommunistischen Parteien fällt, die aufgrund der stalinistischen Degeneration offen homophobe Positionen einnahmen. Diese schwächten sich erst zu einem späteren Zeitpunkt ab und nahmen dann meist die reformistische Sichtweise eines Kampfes für die Bürgerrechte an, die den Reformismus ihres politischen Programms widerspiegelt.
Aber es war nicht immer so. Obwohl in den Schriften von Marx und Engels die Homosexuellenfrage nicht erwähnt wird, gibt es mehrere Äußerungen von Führern der alten deutschen Sozialdemokratie, die sich gegen jegliche Diskriminierung von Homosexuellen oder Bestrafung von Homosexualität im deutschen Recht aussprechen. Als Magnus Hirschfeld Ende des 19. Jahrhunderts das „Wissenschaftlich-humanitäre Komitee“ für die Abschaffung des Paragraphen 175 im Strafgesetzbuch gründete, der Homosexualität rechtswidrig machte, erhielt seine 1898 im Parlament diskutierte Petition nicht zufällig nur die Unterstützung der Minderheiten-SPD im Parlament. Hirschfeld setzte seine Arbeit mit der Gründung des „Instituts für Sexualwissenschaft“ und der anschließenden Organisation der „Ersten internationalen Tagung für Sexualreform“ im Jahr 1921 fort, an der auch ein sowjetischer Delegierter teilnahm. Hirschfelds Arbeit stellt die erste große Bemühung in der Moderne dar, Homosexualität auf der Grundlage wissenschaftlicher Debatten zu entkriminalisieren. Hirschfeld selbst hielt Homosexualität für einen pathologischen – oder zumindest nicht-physiologischen – Zustand, für den es jedoch keinen Grund gab, Strafen zu verhängen.
Artikel 175 wurde jedoch nicht abgeschafft und der Triumph des Nationalsozialismus über die deutsche Arbeiterbewegung eröffnete eine Zeit der schwarzen Reaktion, die unerbittlich homosexuelle Menschen vernichtete. Das Institut für Sexualwissenschaft gehörte zu den ersten Gebäuden, die am 6. Mai 1933 von Nazi-Jugendlichen überfallen wurden. Sie verbrannten alle Texte, die sie in der Bibliothek fanden öffentlich auf der Straße. Die Nazis verschärften die durch Artikel 175 verhängten Strafen, was zur Fesatnahme von 100.000 Homosexuellen, 60.000 Gefängnisstrafen, Internierung in psychiatrischen Krankenhäusern und Zwangssterilisation führte. Schwule wurden zusammen mit Juden und Jüdinnen, SozialistInnen und KommunistInnen in die Konzentrationslager geschickt.
Die bolschewistische Revolution von 1917 in Russland, bei der die ArbeiterInnen zum ersten Mal in der Geschichte die Macht übernahmen (mit Ausnahme der kurzen Zeit der Pariser Kommune 1871), veränderte das Leben von Millionen Menschen nicht nur in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch in Bezug auf die Familie. Die sowjetische Regierung gewährte Frauen die gleichen Rechte wie Männern, legalisierte Scheidung und Abtreibung und förderte den massiven Ausbau sozialer Dienstleistungen, um die wirtschaftliche Grundlage für die Befreiung von Familienpflichten zu schaffen: Kindergärten, öffentliche Kantinen, Wäschereien, Tageskliniken, Kinos, Theater etc. Gleichzeitig wurde mit der Abschaffung des zaristischen Strafgesetzbuches die Homosexualität entkriminalisiert (während sie unter dem Zaren mit schweren Gefängnisstrafen bedroht war).
Die bolschewistische Partei war der Ansicht, dass Sexalverhalten Teil der Privatsphäre ist und als solches nicht sanktioniert oder reguliert werden sollte, es sei denn, es schadete anderen (z.B. bei Nötigung oder Gewalt). In der russischen Wissenschaftsdebatte wurde Homosexualität – wie in jedem anderen Land – noch immer als Krankheit angesehen, aber aus dieser Meinung entstand keine Diskriminierung. Unter den konkreten Beispielen für die Haltung der sowjetischen Regierung in dieser Frage können wir die Teilnahme eines sowjetischen Delegierten an Hirschfelds Kongress für Sexualreform, sowie die Ernennung von Georgy Chicherin, der offen schwul war, zum Kommissar für auswärtige Angelegenheiten im Jahre 1918 nennen. Solche Handlungen waren im damaligen historischen Kontext weltweit einmalig.
Die traditionelle Familie begann sich durch die sozialen Veränderungen aufzulösen: Männer und Frauen wurden aufgefordert, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, und die Jugend wurde zumindest teilweise von der traditionellen Familienautorität befreit und strebte nach neuen sozialen (auch emotionalen und sexuellen) Beziehungen4, insbesondere innerhalb der Jugendorganisationen. Allerdings stießen die radikalen Veränderungen auch in der Familie und hinsichtlich sexueller Beziehungen, die durch die Revolution eingeleitet wurden, sehr bald auf die Probleme, die durch die Isolation und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten versucht wurden, denen die Revolution ausgesetzt war. Die materiellen Ressourcen waren zu begrenzt, um eine gesellschaftliche Alternative zu bieten: Oft waren die öffentlichen Dienstleistungen von so geringer Qualität, dass die Tendenz bestand, zur alten Familienstruktur zurückzukehren. Gleichzeitig begann die bürokratische Deformation, die zum Stalinismus führte, was einen Bruch mit den Idealen von Lenin, Trotzki und der Oktoberrevolution bedeutete.
Dieses Phänomen hatte zwei Konsequenzen. Einerseits erlebte die traditionelle Familie ein Comeback, da für die Entwicklung von Familien- und emotionalen Beziehungen auf einem fortschrittlicheren, sozialeren Level die materielle Grundlage fehlte. Es würde Jahrzehnte dauern, die alten Beziehungsformen auch unter den besten Bedingungen vollständig zu überwinden. Andererseits sah das stalinistische Regime in der Rückkehr zur Familie und der traditionellen Moral eine Quelle der Stabilität für das Regime, insbesondere ein Instrument zur Stärkung der Idee der Autorität (beginnend mit der des Familienoberhauptes über die Kinder), die aktiv gefördert wurde.
Trotzki schrieb in seinem Buch „Verratene Revolution“:
„Die feierliche Rehabilitierung der Familie, die – welch ein Wunder der Vorsehung! – mit der Rehabilitierung des Rubels zusammenfiel, war durch ein materielles und kulturelles Versagen des Staates verursacht. Statt offen zu sagen: es zeigte sich, dass wir noch zu arm und zu roh sind, um sozialistische Beziehungen zwischen den Menschen zu schaffen, diese Aufgabe werden unsere Kinder und Enkel erfüllen, verlangen die Führer, nicht bloß die Scherben der zerbrochenen Familie wieder zusammenzuleimen, sondern sie auch, unter Androhung schlimmster Strafen, als geheiligte Urzelle des siegreichen Sozialismus zu betrachten. Schwerlich ist das Ausmaß dieses Rückzugs mit bloßem Auge zu ermessen!“ (Verratene Revolution, Kapitel 7, Familie, Jugend und Kultur, Thermidor in der Familie).
Dieser Prozess veränderte auch die Einstellung zur Homosexualität. Anstatt sich auf die städtischen Proletarier zu verlassen, die Vorurteile gegen Homosexuell schneller und bereitwilliger überwunden hatten, setzte das Regime auf die kleinbürgerlichen Elemente und die unterentwickelten fernöstlichen Regionen. (1925 wurde zum Beispiel in Turkestan eine zusätzliche Klausel in das Strafgesetzbuch der Sowjetunion aufgenommen, die Strafen für Homosexualität vorsah). Und 1933-34 wurde das Verbot männlicher homosexueller Beziehungen wiederhergestellt, was mit Gefängnisstrafen geahndet wurde. 1935 wurde das Scheidungsrecht stark eingeschränkt, die Anerkennung freier Partnerschaften wurde abgeschafft und 1936 wurde die Abtreibung erneut verboten. Sowie das „Dogma der Familie“, um es in Trotzkis ironischen Worten auszudrücken, zum „Eckpfeiler des siegreichen Sozialismus“ geworden war, so wurde Homosexualität, die als Bedrohung für die Familie angesehen wurde, zu einem ‚Laster der bürgerlichen Dekadenz‘. Diese homophobe Haltung infizierte später die kommunistischen (stalinistischen) Parteien auf internationaler Ebene zutiefst und gefährdete eine an und für sich natürliche Entwicklung der Homosexuellenbewegung, die mit der generellen revolutionären Bewegung verknüpft ist.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, in einer Zeit der allgemeinen Ebbe des Klassenkampfes, spielten jene schwulen Gruppen eine führende Rolle, die, wie oben erklärt, versuchten, einen Dialog und eine sanfte Herangehensweise an Regierungen zu etablieren, um einige minimale Rechte zu gewinnen – mit wenig Erfolg. Nach einer Zeit der Ebbe in den sozialen Kämpfen und der Schwächung der Homosexuellenbewegung brach sie 1969 in New York mit dem Stonewall-Aufstand erneut (oder in gewissem Sinne zum ersten Mal) als Massenbewegung aus. In der Nacht vom 28. auf den 29. Juni stieß die x-te Razzia der Polizei auf eine Schwulenbar (das Stonewall Inn), die bis dahin als Routinepraxis galt, erstmals auf Massenwiderstand, der sich zu einer zweitägigen Schlacht entwickelte, an der tausend Menschen beteiligt waren.
Der Stonewall-Aufstand veränderte das Gesicht und die Natur der Homosexuellenbewegung, die nicht mehr aus kleinen Kreisen von Wissenschaftlern oder Komitees bestand: sie brach mit der Vorstellung von Homosexualität als Anomalie, und drückte stattdessen Stolz darauf aus. Die Bewegung wurde linker und näherte sich revolutionären Positionen, die sie zwar vage, aber doch mit den anwachsenden Klassenkämpfen in den späten 1960er und 1970er Jahren verband. Nach Stonewall wurde Anfang Juli 1969 die Gay Liberation Front in den USA gegründet. Sie nahm antikapitalistische und „Dritte-Welt“ Positionen5 ein und unterstützte den Kampf der Black Panthers. Ähnliche Organisationen wurden 1970 in mehreren Ländern gegründet: die Gay Liberation Front in Großbritannien, die in Folge hunderte von AktivistInnen gewann, dann aber politisch zersplitterte, die Front Omosexuel d’Action Révolutionnaire (FHAR) in Frankreich und die Mouvement Homosexuelle D’Action Révolutionnaiere (MHAR) in Belgien.
In Italien wurde 1971 die Fronte Unitario Omosessuale Rivoluzionario Italiano (FUORI, das Akronym bedeutet „RAUS“ auf Italienisch) gegründet. Die andern Gruppen waren nicht besonders groß: kaum hundert Aktivisten in drei Gruppen in Turin, Mailand und Rom (mit großen politischen Unterschieden zwischen den drei Städten). Ihre Zeitung wurde zunächst monatlich in den Kiosken mit einer Auflage von 8.000 Exemplaren verkauft.
Am 5. April 1972 organisierte FUORI in der Stadt Sanremo die erste öffentliche Demonstration gegen den Internationalen Sexologenkongress, der eine Diskussion über die Ursachen der Homosexualität und mögliche heilende Therapien auf der Tagesordnung hatte. Um einen Eindruck vom Tenor der Diskussion zu vermitteln: eine Therapie schlug vor, milde schmerzhafte Elektroschocks zu verabreichen und dabei Bilder von nackten Männern, aber nicht von nackten Frauen, zu zeigen, während eine andere darin bestand, die Teile des Gehirngewebes zu entfernen.
Außerhalb des Kongresses versammelten sich Dutzende AktivistInnen, schrien Slogans wie „Wir sind normal! Wir sind normal“ und hielten Plakate mit der Aufschrift „Psychiater, steckt euch eure Elektroden in euer eigenes Gehirn“. Angelo Pezzana, Mitglied von FUORI, ergriff indes im Konferenzsaal das Wort und eröffnete mit den berühmten Worten „Ich bin homosexuell und glücklich, so zu sein“. Die Demonstration markierte einen Wendepunkt in der Homosexuellenbewegung und einen Bruch mit den gemäßigten pro-homo Organisationen.
Die Wende zu einer revolutionären Perspektive war wichtig: In der ersten Ausgabe der Zeitung wandte sich die Redaktion an „die revolutionären [heterosexuellen] Genossen“ und bat sie, „die ersten zu sein, die die Realität der Homosexuellen verstehen“, da „die sexuelle Unterdrückung die erste, die hinterhältigste und gefährlichste Methode der Unterwerfung jedes repressiven Systems ist“.
„Wir argumentieren“, fuhren die AktivistInnen von FUORI fort, „für die Notwendigkeit einer sexuellen Revolution, gleichzeitig mit und integriert in die politische Revolution, die bereits in jedem Land stattfindet.“ 6 Es war eine Organisation die zwar kein klares marxistisches Programm hatte, die aber dennoch das Potential erkannte das der Homosexuellenbewegung innewohnt, wenn sie sich eine revolutionäre Perspektive gibt. Aber wieder einmal war der Hauptgrund dafür, dass dies nicht vollständig gelang, die homophobe Position der Führer der Arbeiterbewegung.
Wenige Wochen nach der Demonstration von Sanremo, am 1. Mai 1972, organisierte die römische Sektion von FUORI zusammen mit anderen Gruppen eine Demonstration auf dem Campo de‘ Fiori Platz, ein „Fest der Freude, gegen die Arbeit und für die sexuelle Befreiung“. An einem bestimmten Punkt traf eine Gruppe von Aktivisten der außerparlamentarischen Linken ein, „die sich zu Mitgliedern von Potere Operaio[Arbeitermacht, eine ultra-linke Gruppe] erklärten, während sie ‚Schwuchteln weg vom Campo de‘ Fiori‘ schrien, und begannen, Eimer mit Wasser auf die Aktivisten zu schmeißen.“7
Die Kommunistische Partei Italiens (PCI), die sich nie offiziell mit diesem Thema befasst hatte, veröffentlichte 1974 in Ausgabe 3-4 der Zeitschrift „Critica Marxista“ einen Artikel von Luciano Gruppi, in dem die folgenden Ideen vorgebracht wurden:
„Es ist eben die Beziehung, die, wie wir argumentieren, zwischen Gesellschaft und Natur hergestellt werden muss, die uns sagt, wie sehr Homosexualität ebendiese Beziehung bricht, indem sie einem grundlegenden Instinkt jedes Lebewesens widerspricht: der Kontinuität der Spezies. Daher verarmt und verändert Homosexualität Persönlichkeit des Menschen daher tiefgreifend. Oft aus der Einsamkeit geboren, endet sie oft auch in der Einsamkeit.“ 8
Man muss nicht weiter erklären, wie unangenehm sich homosexuelle ArbeiterInnen und StudentInnen in dieser Partei gefühlt haben müssen. Erst der Mord an Pier Paolo Pasolini im Jahr 1975 löste eine Debatte innerhalb der Partei aus, die zu Änderung ihrer Position zur Homosexualität Ende der 70er Jahre führte – kurz bevor die Welle des kämpferischen Aktivismus, der Italien seit 1968 erfasst hatte, abebbte. Und all dies wurde in eine zunehmend reformistische Politik der Partei eingebettet.
Anstatt also den AktivistInnen der neuen Homosexuellenbewegung, die ihre verwirrten, durchmischten politischen Ideen hätten überwinden können, eine Perspektive des allgemeinen politischen Kampfes anzubieten, wurden diese AktivistInnen von der Arbeiterbewegung verdrängt, und so gingen sie unterschiedliche Wege. Aus organisatorischer Sicht fusionierte FUORI 1974 mit der Radikalen Partei – die sich in jenen Jahren nach links orientierte – und gab damit die revolutionäre Perspektive auf, um stattdessen kämpfte lediglich für Bürgerrechte innerhalb der Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft zu kämpfen. Einige führende Persönlichkeiten der FUORI, darunter Mario Mieli, brachen deswegen mit der Bewegung und wandten sich der außerparlamentarischen Linken zu, leider zu einem Zeitpunkt, als auch diese in eine unumkehrbare Krise geraten war.
Die verpasste Gelegenheit, eine Verbindung zwischen der LGBT+-Bewegung und der Arbeiterbewegung herzustellen, wurde im Film Pride! aus dem Jahr 2014 sehr gut hervorgehoben, der die wahre Geschichte von Mark Ashton erzählt, einem schwulen Aktivisten in der Jugendabteilung der Kommunistischen Partei Großbritanniens (CPGB), der auf dem London Pride Marsch 1984 eine Spendenaktion zur Unterstützung des Bergarbeiterstreiks gegen Thatcher auf der Grundlage von Klassensolidarität und gemeinsamer Opposition gegen die reaktionäre Thatcher-Regierung und das weitere kapitalistische System startete. Er schaffte es, eine Gruppe mit dem Namen „Lesben und Schwule unterstützen die Bergarbeiter“ aufzubauen und das gegenseitige Misstrauen zwischen der Londoner Schwulenkultur und der organisierten Arbeiterbewegung zu überwinden. Er schuf eine Verbindung, die in einer breiten Mobilisierung britischer Schwuler und Lesben in Solidarität mit den Bergarbeitern gipfelte und zur Teilnahme einer großen Delegation von Bergarbeitern bei der Regenbogenparade 1985 und zur Aufnahme von Schwulenrechten in das Programm der Gewerkschaften führte. Anfang der 70er Jahre gab es eine ähnliche Solidaritätsbekundung unter der Leitung von Harvey Milk, die von der Gay-Community in San Francisco mit dem Boykott von Coors Bier durch die Teamsters aufgegriffen wurde.
Der große britische Bergarbeiterstreik von 1984, der bis heute als beispielhafter Kampf gilt, fand während des letzten großen Ausbruchs der Arbeitskämpfe statt, der in den 70er Jahren begonnen hatte, aber sehr schnell von einer Periode tiefer Flaute der Bewegung gefolgt war, die sowohl die Arbeiterbewegung als auch die Homosexuellenbewegung zurückwarf.
In diesem Kontext der Flaute erleben wir eine Zersplitterung der schwulen Befreiungsbewegung, die sich auf die Ebene der Wohlfahrtspolitik zurückzieht, insbesondere im Hinblick auf das Thema AIDS in den 1980er Jahren, die Solidarität gegen homophobe Gewalt und den Kampf für Gesetze gegen Diskriminierung, und später für die Anerkennung von Bürgerrechten.
So kam es einerseits zu einer Rückkehr zum reformistischen und versöhnlichen Ansatz der Homosexuellen-Gruppen der 1950er Jahre, andererseits bauten sie auf den Errungenschaften des Kampfes der 1970er Jahre auf, der ein für alle Mal die Natürlichkeit der Homosexualität, und den Stolzes und die Würde dazu zu stehen erklärte. All dies zwang auch die Wissenschaft, in den folgenden Jahren ihren Ansatz zu ändern und die Legitimität der Homosexualität anzuerkennen, wodurch die Isolation des Kampfes um die Rechte der Homosexuellen durchbrochen wurde. Auf dieser Basis entwickelte sich der italienische Verein Arci-gay, der von einigen wenigen Filialen in den frühen 1980er Jahren zu seinem heutigen landesweiten Netzwerk wuchs.
Während der Niedergang der Bewegungen in den 1980er und 1990er Jahren zu einer Demobilisierung und einem Rückzug aus dem offenen Kampf führte, eröffnete sich in der akademischen Welt eine Debatte, insbesondere über die Frage der Geschlechteridentität, die zu sogenannten Queer Studies oder Queer Theory führt. Der Begriff stammt aus dem Jahr 1990. Ein Jahr zuvor hatte Judith Butler „Das Unbehagen der Geschlechter“ (orig. „Gender Trouble“) veröffentlicht, was zu einem Bezugspunkt für weitere Ausführungen wurde.
Auch wenn diese Ausführungen nie zu einer allgemeinen Theorie entwickelt haben, steht in ihrem Mittelpunkt die Kritik an der Vorstellung, dass Geschlechtsidentität und ein männlich/weibliches biologisches Geschlecht in der Natur existieren. Diese seien vielmehr das Produkt einer heteronormativen Gesellschaft sind, also einer Gesellschaft, die als Norm (und über Machtverhältnisse) eine binäre Teilung (in männlich und weiblich) auf der Grundlage eines heterosexualisierten „Diskurses“ etabliert. Dies ist das letzte Glied in einer Denkkette, die mit feministischem Separatismus beginnt (gegen die patriarchalische Gesellschaft, wobei es Frau gegen Mann steht), durch lesbischen Separatismus geht (das „Frausein“ ist nicht länger zu bekräftigen, da Frauen nur im Verhältnis zu Männern definiert werden: nur eine Lesbe im politischen Sinne kann gegen ideologische Männerherrschaft rebellieren) und mit Queer Theory endet (jede Form von Geschlechtsidentität ist das Ergebnis heterosexueller patriarchalischer ideologischer Herrschaft, deshalb müssen sie alle abgelehnt werden).
Für Menschen, denen es nicht erlaubt ist, ihre eigene Geschlechtsidentität oder ihre eigene sexuelle Orientierung frei auszudrücken, können diese Theorien als radikale Ablehnung sozialer Zwänge erscheinen und somit attraktiv sein. Das Problem ist, dass, sobald man etwas tiefer gräbt, sie sich als Sackgasse für jeden erweisen, der versucht, etwas zu verändern.
Laut Butler ist die Geschlechtsidentität nicht natürlich, sondern wird „performativ“, d.h. auf der Grundlage von ständig wiederholten Handlungen kreiert, die durch gesellschaftlich etablierte Normen und „Diskurse “ bestimmt sind9. Es handle sich um eine künstlich produzierte Identität, die uns wiederum die Idee in den Kopf setze, dass es in der Natur zwei Geschlechter gebe, männlich und weiblich. Diese Theorie ist Foucault entlehnt:
„Für Foucault ist der Körper in keinem signifikanten Sinne ‚geschlechtlich‘, bevor er nicht innerhalb eines Diskurses bestimmt wird, wodurch er mit einer ‚Idee‘ des natürlichen oder essentialistischen Geschlechts ausgestattet wird. Der Körper erhält im Diskurs nur im Kontext von Machtverhältnissen Bedeutung. Sexualität ist eine historisch spezifische Organisation von Macht, Diskurs, Körper und Befindlichkeit. Als solche produziert Sexualität bei Foucault ‚Geschlecht‘ als künstliches Konzept, welches sich wirkungsvoll ausdehnt und die Machtverhältnisse verschleiert, in denen es seinen Ursprung findet.“10
So wären männlich und weiblich, aber auch heterosexuell, schwul, lesbisch, bisexuell, allesamt illusorische Kategorien, die sich aus diesem Mechanismus ergeben, denn wenn biologische Geschlechter nicht existieren gibt es auch keine sexuellen Orientierungen.
Dies ist ein klassisches Beispiel dafür, wie eine Teilwahrheit genommen und von der Realität losgelöst werden kann, um daraus ein Argument zu konstruieren, das zu nichts führt. Niemand stellt in Frage, dass das Bewusstsein eines Menschen stark vom sozialen Kontext beeinflusst wird, in dem es sich entwickelt. Doch was für einen Sinn ergibt es, ausgehend von dieser richtigen Prämisse die Existenz des männlichen und weiblichen Geschlechts mit all seinen anatomischen und biologischen Unterschieden zu leugnen?11 Dies hat eine gewisse Bedeutung, wenn wir beispielsweise von der Welt der akademischen Hypothesen zu medizinischen Therapien oder zu Schwangerschaft und Stillen übergehen. Und selbst wenn ich sage, dass mein Bewusstsein (und damit die Art und Weise, wie ich meine eigene Geschlechtsidentität wahrnehme) von den sozialen Bedingungen, in denen ich lebe, bestimmt wird, macht es das weniger real? Nein, es spiegelt meine realen Lebensbedingungen wider, sowohl natürliche als auch soziale, und wird sich mit der Entwicklung der Gesellschaft entwickeln.
Aber vor allem: Wie kann ich ausgehend von dieser Theorie für die sexuelle Befreiung kämpfen? Ganz einfach gesagt, ich kann es nicht. Um noch einmal Butler zu zitieren:
„Daher kann Macht weder entzogen noch verweigert werden, sondern nur neu verteilt werden. Meines Erachtens sollte der normative Schwerpunkt der schwulen und lesbischen Praxis eher auf der subversiven und parodistischen Umschichtung von Macht als auf der unmöglichen Phantasie ihrer vollständigen Transzendenz liegen „12
Das heißt das Beste, das wir erreichen können, ist eine kreative Parodie, eine Karikatur der Geschlechtsidentitäten, um zu zeigen, dass sie keine natürlichen Wesenheiten sind, sondern ein Produkt. Damit zeigen wir, dass es kein Geschlecht gibt, und es gibt dann die Möglichkeit, „Geschlechterkonfigurationen außerhalb der einschränkenden Rahmen männlicher Dominanz und Zwangsheterosexualität zu verbreiten „13. Der Berg hat die postmoderne Maus geboren: Ich kann Geschlechterunterdrückung sehen, aber ich habe eine Klassenanalyse der Gesellschaft aufgegeben, und so kann ich die Ursachen dieser Unterdrückung nicht mehr sehen; dann erhebe ich Unterdrückung (oder besser gesagt, einen einzelnen, speziellen Aspekt von Unterdrückung – die heterosexualisierende Macht) zu einer metaphysischen Einheit, von der alles abhängt, und ich habe nicht die geringste Vorstellung davon, wie man sie beseitigt; die einzige Form der Subversion, die mir bleibt, ist, in einen Subjektivismus zu fallen, in dem ich die Realität verleugne, und ich behaupte, dass jeder seine eigene Realität erfinden kann, ohne etwas außerhalb meines eigenen Bewusstseins zu verändern.
Es überrascht nicht, dass die herrschende Klasse diese Theorien nicht fürchtet. Gleichzeitig ist es offensichtlich, dass diese Theorien außerhalb eines akademischen Diskussionskreises wenig oder gar nichts zu bieten haben. Alle, die das dringende Bedürfnis haben, für ihre eigenen Rechte in der realen Welt zu kämpfen, sollten sich besser mit schärferen Theorien und Formen des Kampfes rüsten.
Hier lohnt sich ein kurzer Blick auf die Idee der Intersektionalität, die in letzter Zeit bei einigen Schichten der Bewegung sehr beliebt geworden ist. Es bedeutet mehr oder weniger, dass es in der Gesellschaft verschiedene Formen der Unterdrückung gibt (basierend auf Geschlecht, Rasse, Klasse, sexueller Orientierung usw.), und diese sind miteinander verflochten und überschneiden sich transversal (d.h. quer-hindurchlaufend), daher der transversale Charakter der Bewegungen und die Möglichkeit, sie in Koalitionen zusammenzuführen.
Butler selbst hebt hervor, dass die Notwendigkeit, die universelle Kategorie der „Frau“ zu schwächen, auf „Kritik von Frauen zurückzuführen ist, die behaupten, dass die Kategorie der ‚Frauen‘ normativ und ausschließend, wobei die unversehrten Dimensionen von Klassen- und Rassenprivileg intakt bleiben.“14
Richtig! In der Tat ist die Erfahrung von Geschlechterunterdrückung nicht dieselbe für Arbeiterinnen und bürgerliche Frauen. Der Kampf für die Befreiung der Frauen, wenn er die Privilegien der herrschenden Klasse in Frage stellt, führt zu einer Teilung der Bewegung entlang von Klassenlinien, bei der die bürgerlichen Frauen wegbrechen, weil sie ihre materiellen Klassenprivilegien verteidigen müssen, ja sogar ihren (bürgerlichen) Ehemännern im Haus untergeordnet bleiben müssen.
Dasselbe sehen wir in der LGBT+-Bewegung, wenn wir in den Bereich der wirtschaftlichen Kämpfe (für Wohnen, Arbeit, Gesundheit und so weiter) eintreten, denn in diesen Kämpfen werden die ‚Bürgerrechte‘ konkret. Dies sagt uns einfach, dass der grundlegende Widerspruch in der Gesellschaft, der Klassenwiderspruch, den Rahmen bestimmt, in dem wir kämpfen, und dass wir nur durch das Vorantreiben des Klassenkampfes bis zum Sturz des Kapitalismus den Bewegungen, die gegen die vielen Formen der Unterdrückung in der Gesellschaft kämpfen, eine Perspektive des Sieges bieten können.
Wenn wir die Vorstellung aufgeben, dass der Klassenkampf der zentrale Punkt ist, was bleibt dann übrig? Wir haben ein ständiges – und unvollständiges – Streben nach Koalitionen zwischen verschiedenen Bewegungen (LGBT, Antirassismus, Grün, etc.), von unterschiedlicher Zusammensetzung und Ausgewogenheit, je nachdem, welche davon in einem bestimmten Moment die stärkste ist. In der postmodernen Perspektive geht dieser Ansatz bis hin zur Neudefinition der Identität der Teilnehmer:
„Eine offene Koalition wird also Identitäten bejahen, die abwechselnd je nach den konkreten Bedürfnissen eingesetzt und aufgegeben werden; sie wird eine offene Ansammlung sein, die multiple Konvergenzen und Divergenzen ohne Gehorsam gegenüber einem normativen Telos der Definitionsschließung zulässt.“
So kann sich auch meine Identität bei jeder Gelegenheit ändern, je nach Zusammensetzung eines Meetings oder was es entscheidet! Kein Wunder, dass die Menschen von all dem verwirrt sind …
Es ist nicht verwunderlich, dass diese Theorien in einer Zeit der Flaute im Klassenkampf an Boden gewonnen haben, als der wichtigste Bezugspunkt – die Arbeiterklasse – fehlte und keine wirkliche Möglichkeit bieten konnte, den Kapitalismus und damit alle Formen der Unterdrückung, die er schafft oder reproduziert, zu stürzen. Der Aufstieg des Klassenkampfes wird, wie immer, auch im ideologischen Bereich eine klärende Wirkung haben.
Seit dem Jahr 2000 haben wir in vielen Ländern die Verabschiedung von Gesetzen gegen Diskriminierung und für Bürgerrechte gesehen, von der Homo-Ehe bis hin zu eingetragenen Partnerschaften. Diese wichtigen Eroberungen wurden dank des ständigen Drucks des Homosexuellen-Aktivismus und der wachsenden Unterstützung in der Gesellschaft, auch unter heterosexuellen Menschen, für gleiche Rechte erreicht. Heute ist das Banner der Bürgerrechte nicht nur in der Linken, sondern auch in Teilen der kapitalistischen Klasse und ihrer politischen VertreterInnen aufgegriffen worden: Wir haben den Internationalen Tag gegen Homophobie, der von der Europäischen Union gefördert wird, wir sehen Resolutionen der Vereinten Nationen zu dieser Frage und so weiter.
Wir drüfen uns jedoch keine Illusionen machen und auch keine zweideutige Haltung einnehmen. Diese „liberalen“ Regierungen und „aufgeklärten“ Sektoren der Bourgeoisie sind dieselben Menschen, die Diktaturen in verschiedenen Teilen der Welt unterstützen, in denen Schwule und Lesben gehängt oder enthauptet werden. So sehen wir, wie die US-Regierung – sowohl unter Trump als auch unter Obama – Waffen nach Saudi-Arabien liefert. Dasselbe gilt für alle europäischen Großmächte, die zwar die Homo-Ehe legalisieren, aber gleichzeitig das Al-Sisi-Regime in Ägypten unterstützen, das neben all den Verhaftungen, Morden und Foltern politischer GegnerInnen auch harte Repressionen gegen Homosexuelle eingeleitet hat. Diese Heuchelei kann für reaktionäre Zwecke genutzt werden, und die Verteidigung der Rechte von LGBT+-Menschen kann zum Vorwand für die Unterstützung der imperialistischen Politik werden. Dies ist eindeutig der Fall, wenn man uns sagt, dass Israel das Land im Nahen Osten ist, das über die fortschrittlichsten LGBT+-Rechte verfügt. Erlaubt dies Israel, die Palästinenser zu massakrieren, zu bombardieren und Embargos zu verhängen, deren Regierungen sich weniger um die Gesetzgebung von Bürgerrechten kümmern? In den Niederlanden nutzt die Regierung die Aufrechterhaltung der LGBT+-Rechte, um die so genannte „homophobe“ Einwanderung einzuschränken, selbst bei Aufnahmeprüfungen in niederländischen Botschaften auf der ganzen Welt. Wenn wir das Gesamtbild aus den Augen verlieren und vor allem, wenn wir die Klassenperspektive aufgeben, können wir sehr schnell im Lager der Reaktion landen, wie es einige Gruppen für LGBT-Rechte getan haben, die mehr darauf bedacht sind, Machtpositionen zu gewinnen und mehr als bereit sind, die Augen vor dem zu verschließen, was ihre verbündeten Regierungen tun15.
Aus bürgerlicher Sicht haben Zugeständnisse bei den Bürgerrechten sowohl ein wirtschaftliches als auch ein politisches Ziel. Wirtschaftlich gesehen sind LGBT+-Menschen einfach ein Marktsektor, indem ein queer-freundliches Unternehmensprofil Kunden anziehen kann. Ikea hat kein Problem damit, Bilder von männlichen Paaren in seinen Katalog aufzunehmen, vorausgesetzt, sie haben das Geld, um die Küche zu kaufen. Auf die gleiche Weise hat Ikea kein Problem damit, geschiedene Eltern in ihre Werbung einzubeziehen, vorausgesetzt, sie haben das Geld, um genau die gleichen Möbel für zwei Schlafzimmer für das Kind zu kaufen, sodass sie in beiden Häusern genau gleich sein können. Arbeitslose Schwule hingegen müssen damit leben, dass es sie in der Welt der Werbung nicht gibt, ebenso wenig wie heterosexuelle Arbeitslose.
An der politischen Front jedoch versucht ein Teil der herrschenden Klasse, einen Bereich möglicher sozialer Konflikte zu entschärfen, indem sie das, was in das System aufgenommen werden kann, aufgreift und Unterstützung von den gemäßigten FührerInnen der LGBT+-Bewegung sucht, während sie gleichzeitig fremdenfeindliche, arbeitsfeindliche, drakonische Sparpolitiken vorantreibt und Kürzungen bei Sozialleistungen durchsetzt.
So sehen wir, wie ein Flügel der herrschenden Klasse angesichts einer Krise der ‚traditionellen‘ Familie und aufgrund des Drucks von unten die rechtliche Anerkennung homosexueller Paare akzeptiert hat, während er gleichzeitig Homosexuelle in die grundlegende Rolle der Familie in der kapitalistischen Gesellschaft zurückdrängt und sie dazu drängt, die ideologische Perspektive der Bourgeoisie zu teilen. Daher haben wir die Förderung der Homo-Ehe, die sich jedoch an das Modell der monogamen Familie anpassen muss. Dies führt in einigen Fällen zu einer Replikation der Geschlechterrollen innerhalb homosexueller Paare, einschließlich der Aufgabenteilung der Hausarbeit und aller traditionellen bürgerlichen Werte.
Heißt das, dass wir die Frage von Bürgerrechte unterschätzen? Auf keinen Fall! Wir kämpfen für die volle Anerkennung und Anwendung der Bürgerrechte, d. h. die vollständige Gleichstellung von Familien- und Individualrechten, unabhängig von Geschlecht und sexueller Orientierung. Dazu gehören das Recht auf Heirat und Adoption (das auch für Alleinstehende gelten muss) und Stiefkindadoption (d.h. das Recht, das Kind des Partners zu adoptieren) auch für gleichgeschlechtliche Paare.
Wir dürfen jedoch das Gesamtbild nicht aus den Augen verlieren und nicht vergessen, auf welcher Seite der Barrikade wir uns im Klassenkampf befinden.
Deshalb gehört zu den Rechten, die wir verteidigen, nicht die Legalisierung der Leihmutterschaft, die wir ablehnen, denn unter dem Kapitalismus geht es zwangsläufig um die Schaffung eines Marktes von Frauen, die aus wirtschaftlichen Gründen ihren Körper verkaufen und hochgradig traumatische Erfahrungen machen, wie z. B. eine Schwangerschaft durchmachen und dann das Neugeborene entfernen lassen, mit allen damit verbundenen physischen und psychischen Folgen. Wir bezweifeln nicht, dass es Fälle gibt, in denen dies freiwillig geschieht, als „Geschenk“, aber die vorherrschende gesellschaftliche Realität ist ganz anders, und wir können es daher nicht akzeptieren.
Wir sollten auch betonen, dass der Wunsch, biologische Nachkommen zu haben, oder die Vorstellung, dass die emotionale Bindung an ein Kind notwendigerweise mit der biologischen Elternschaft verbunden ist in unsere Köpfe gehämmert wurde, da dies der Notwendigkeit entspricht, Eigentum innerhalb der monogamen Familie zu übertragen, die es vor dem Aufstieg des Privateigentums allerdings nicht gab:
„Ihr Weißen“, sagte ein amerikanischer Ureinwohner zu einem Missionar, „liebt nur eure eigenen Kinder. Wir lieben die Kinder des Clans. Sie gehören allen Menschen und wir kümmern uns um sie. Sie sind Knochen von unserem Knochen und Fleisch von unserem Fleisch. Für sie sind wir alle Vater und Mutter. Weiße Menschen sind Wilde; sie lieben ihre Kinder nicht. Wenn Kinder verwaist sind, müssen die Menschen dafür bezahlt werden, sich um sie zu kümmern. Wir kennen solche barbarischen Ideen nicht“.16
Wir kämpfen für die Anerkennung aller Bürgerrechte, und wir begrüßen sie mit Enthusiasmus, wenn sie gewährt werden – auch im Kapitalismus. Wir müssen uns aber auch darüber im Klaren sein, dass die Schärfung des Klassenkampfes die herrschende Klasse jederzeit dazu bewegen kann, sich für einen reaktionäreren Ansatz zu entscheiden und somit das zurückzunehmen, was sie zuvor gewährt hat. Denken wir daran, dass die Clintons zu den Trumps führen, die Macrons zu den Le Pens, es sei denn, sie werden vom Klassenkampf aufgehalten. Keine Errungenschaft ist sicher, solange wir im kapitalistischen System bleiben.
Und wo diese Rechte gewährt wurden – ist es wirklich unser Ziel, dass Homosexuelle und Heterosexuelle gleichermaßen ausgebeutet werden? Was bringen mir Bürgerrechte, wenn ich kein Dach überm Kopf und keinen Arbeitsplatz habe, wenn das Gesundheitssystem zusammenbricht und ich kein Geld für medizinische Versorgung für mich und meine Angehörigen habe, wenn ich keine Aufenthaltsgenehmigung habe? Was nützt mir das Recht auf Ehe, wenn ich meine ganze Zeit und Energie einem Boss schenken muss, um am Ende des Tages erschöpft nach Hause zu kommen?
Sobald wir über Alltagsprobleme sprechen, öffnet sich innerhalb der LGBT+-Bewegung eine Kluft zwischen den Klassen, denn unser alltägliches Leben unterscheidet sich stark, je nachdem welcher Klasse wir angehören. Wir haben dies in Italien während der Mobilisierungen 2016 für eingetragene Partnerschaften deutlich gesehen, wo die Massenbasis der Bewegung, die hauptsächlich aus jungen Menschen, ZeitarbeiterInnen und Studierenden bestand, viel radikaler war als ihre Führung (darunter die Arci-gay), die die Mobilisierungen lediglich als Mittel sah, um Unterstützung für das neue Gesetz zu gewinnen und möglicherweise ein wenig Druck auf den rechten Flügel der Parlamentsfraktion der PD (Demokratische Partei) auszuüben. Was wir dann sahen, war, dass die PD das Recht auf Stiefkindadoption über Bord warf und den Umfang der Reform einschränkte. Die Führung der Bewegung akzeptierte diesen Kompromiss, aber die Basis forderte eine Wiederbelebung der Proteste.
Diese Spaltung zwischen der Führung und der Masse der DemonstrantInnen war für uns deutlich sichtbar, als wir in der Bewegung intervenierten und eine Verallgemeinerung des Kampfes gegen die PD-Regierung forderten, indem auch die Kämpfe um Arbeit, Wohnen und Sozialleistungen einbezogen werden. Die Mehrheit der DemonstrantInnen nahm unsere Parolen mit Begeisterung auf, während die Führung – manchmal die PD selbst, die Treffen organisierte, um zu zeigen, wie wichtig ihnen doch Bürgerrechte sind – beschämt um sich schaute und die Leute anhielt, sie sollten ‚nicht so übertreiben‘. Wir können diesen Menschen nicht die Aufgabe übertragen, den Kampf für unsere Rechte zu führen.
Wir sahen überfüllte Plätze, wo diejenigen, die gleiche Rechte für alle forderten, nicht nur LGBT+-Menschen waren, sondern auch viele Heterosexuelle, und wir sahen auch, wie der Kampf um die rechtliche Gleichstellung sich sofort mit dem Kampf um Wohnungen, Arbeitsplätze und Gesundheitsfürsorge verband. Eine solche Einheit kann zum Sieg führen. Was notwendig ist, ist die Entwicklung der LGBT+-Bewegung entlang von Klassenlinien, mit ihrer vollen Integration in die Arbeiterbewegung, und dass die Arbeiterbewegung sich ein revolutionäres Programm gibt.
Wir müssen den Kapitalismus stürzen, uns von der herrschenden Klasse befreien, die produktiven Ressourcen und den Reichtum übernehmen und diese in einer geplanten und harmonischen Weise für uns nutzen – nicht für die Profite einiger Wenigen, sondern für die kollektiven Bedürfnisse der Gesellschaft. Hausarbeit muss vergesellschaftet werden, und Kinderbetreuung und -erziehung muss von hoher Qualität sein. JedeR sollte das Recht auf ein Zuhause haben; die Arbeitszeit sollte verkürzt werden, damit jeder die Zeit und Energie hat, sein Leben wirklich zu leben.
Auf dieser materiellen Grundlage werden wir mit der Moral der Bourgeoisie hinsichtlich Familienstruktur und sexuelle Orientierung brechen können. Wir werden in der Lage sein, das Patriarchat und Homophobie auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern, und wir werden frei sein, unser Leben zu leben, wie wir wollen, und jedeR wird in der Lage sein, die eigenen sexuellen und emotionalen Gefühle frei auszudrücken. Zu entscheiden, wie dies geschehen soll, in welcher Form und in welchen familiären Beziehungen die Gesellschaft leben wird, ist eine Aufgabe, die den künftigen Generationen obliegt.
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024
Europa — von Jack Halinski-Fitzpatrick, marxist.com — 11. 11. 2024