Spaniens institutionelle Sackgasse ist Ausdruck einer tiefgreifenden Krise, die die gesamte Gesellschaft polarisiert: An der Wahlfront tritt die Rechtsaussenpartei VOX erstmals in Erscheinung, während am 8. März Millionen gegen Frauenunterdrückung und ein marodes System in den Streik treten.
Gerade mal acht Monate hat die sozialdemokratische Regierung von Pedro Sánchez überlebt. Nachdem ihr rosarot angestrichenes Budget von den katalanischen Unabhängigkeitsparteien versenkt wurde, werden am 28. April vorgezogene Neuwahlen stattfinden. Es ist nur die jüngste scharfe Wendung im Prozess der Zersetzung des Regimes, das 1978 ohne sauberen Bruch mit der Vergangenheit aus der Franco-Diktatur hervorging. Anderthalb Jahre nach dem heissen Herbst in Katalonien versinkt Spanien noch weiter in der grössten sozialen und politischen Krise seit dem Tod von Franco.
Die Korruptionsskandale der Monarchie und von Parteien; die Verschärfung des autoritären Kurses des Staates und die Angriffe auf grundlegende demokratische Freiheiten und Rechte; eine Justiz, die Gruppenvergewaltigungen deckt, Künstler einbuchtet wegen Liedern gegen die Monarchie; Menschen, die in den Tod getrieben werden, weil sie Stromrechnungen nicht bezahlen können oder Debatten über das Grab von General Franco, die zum explosiven Politikum werden: Die Polarisierung und Konflikte durchziehen in den letzten Jahren alle Ebenen des gesellschaftlichen und politischen Lebens.
Und nun stürzt in einem Klima des anti-katalanischen spanischen Nationalismus die franquistische VOX mit Paukenschlägen auf die politische Bühne, während gleichzeitig Millionen von Frauen und Männern am 8. März in einer Stimmung des sozialen Aufbruchs gegen Frauenunterdrückung streiken.
Chronik einer angekündigten Regimekrise
Die Regimekrise hat ihre Grundlage in der Krise des Kapitalismus. Spanien wurde besonders hart von der Krise 2008 getroffen. Erst 2017 wurde das BIP von 2007 wieder erreicht. Das verlorene Jahrzehnt hat merklich Spuren hinterlassen und zu einer ungelösten sozialen Krise geführt.
Die harten Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse durch die Sparpolitik haben in den letzten Jahren Politik und Gesellschaft durchgeschüttelt. Die Jahre 2011-2014 waren geprägt von sozialen Bewegungen und dem Widerstand der Massen auf den Strassen. Diese Phase der offenen sozialen Konflikte übersetzte sich in der Folgephase in die politische Polarisierung. Der Aufstieg von Podemos und der rechten Ciudadanos (C’s) führte zu einer seither andauernden institutionelle Krise mit unklaren Mehrheitsverhältnissen und ständigen Neubildungen.
In diesem Kontext der allgemeinen Zuspitzung der Widersprüche brach auch die ungelöste nationale Frage wieder offen aus. Die Krise des spanischen Staates erreichte im Herbst 2017 eine völlig neue Dimension. Die Massenbewegung, das Referendum für die Unabhängigkeit in Katalonien und die Ausrufung der Republik brachten das 78er-Regime an den Rand des Zusammenbruchs. Die Niederschlagung der republikanischen Bewegung und die Absetzung und Verhaftung der gewählten katalanischen Regierung durch den reaktionären spanischen Staat eröffneten eine Welle des spanischen Nationalismus.
Die Katalonien-Frage zieht die Grenzen
Die Katalonien-Frage ist seither der bestimmende Faktor in nahezu allen Konfliktherden. Sie war es auch, die nun die selbstbewusste PSOE-Regierung vom Ross geschlagen hat. Unter Pedro Sánchez sind die Sozialdemokraten der PSOE zumindest in der Rhetorik nach links gerutscht und haben sich damit zunächst vor ihrem völligen Niedergang gerettet. Aber trotz einer Reihe von sozialen Zugeständnissen wie einer teilweisen Mindestlohnerhöhung hat auch die Sánchez-Regierung in keiner Weise mit den Konterreformen im Arbeitsrecht und der Sparpolitik der konservativen Vorgängerregierung der PP gebrochen.
Sánchez verkaufte seinen Budgetvorschlag als grossen sozialen Fortschritt und verlangte von den katalanischen Parteien die Unterstützung gegen die Rechten. Er war aber selbst nicht bereit nur ein einziges Zugeständnis an die katalanischen Unabhängigkeitsführer zu machen. Notabene stellte er sich hinter den aktuell laufenden Grossprozess gegen die Führungsfiguren der republikanischen Bewegung, denen bis zu 25 Jahre Haft (!) drohen. Weil sie selbst von unten von einer Streikbewegung und Massendemonstrationen für die demokratischen Rechte unter Druck gesetzt wurden, konnten die katalanischen Parteiführungen in diesem Moment nicht auf das Budget eintreten.
Die Regierung ist gescheitert, weil sie in ihrer spanisch-nationalistischen Front mit der Monarchie und der franquistischen Rechten mit harter Hand gegen die demokratischen Rechte Kataloniens vorgeht. Die PSOE ist und bleibt eine der Hauptstützen des 78er-Regimes.
VOX und die Fehler von Unidos Podemos
Nichts desto trotz werden grosse Teile der ArbeiterInnenklasse die PSOE wählen, um den drohenden Sieg eines rechten Blocks aus PP, C’s und der erstmals ins Parlament einziehenden VOX abzuwenden. Unidos Podemos (das Bündnis von Podemos und der Izquierda Unida) stellt nach ihrem Rechtsrutsch keine Alternative mehr dar. UP hat sich der Sánchez-Regierung unterworfen und wollte um jeden Preis mitregieren. Von einer Anti-Establishment-Partei ist sie selbst dazu übergegangen, das 78er-Regime zu verteidigen. In skandalöser Weise waren die Führungen von Podemos und IU nicht bereit, sich hinter die katalanische republikanische Bewegung und das demokratische Recht auf Selbstbestimmung zu stellen. Sie weigerten sich, den Moment der Stärke für eine Offensive gegen die am Abgrund stehende spanische Monarchie und das 78er-Regime zu nutzen. Das hat die Jugend und die ArbeiterInnenklasse desorientiert und demoralisiert und der reaktionären Antwort den Boden bereitet.
Dieses Klima der spanisch-nationalistischen Reaktion ist der Nährboden für das Wachstum von VOX. Teile des Kleinbürgertums radikalisieren sich und wüten mit reaktionärem Chauvinismus gegen Katalonien. VOX ist 2013 aus dem franquistischen Flügel der PP hervorgegangen und verkörpert die Verzweiflung und Paranoia der reaktionärsten Teile der herrschenden Klasse Spaniens. Ihre Rhetorik gegen Immigration, gegen Frauenrechte, gegen die Linke und gegen Katalonien ist hart. Aber entgegen den Drohrufen vieler Linker ist es keine faschistische Partei: VOX bewegt sich momentan voll im Rahmen der parlamentarischen Monarchie, ohne den Übergang zu einer Diktatur zu fordern.
Der Kampf gegen die Rechte und der 8.März
Egal wer nach den Wahlen die Regierung stellen wird, werden die Attacken auf die ArbeiterInnenklasse weitergehen, erst recht wenn die am Horizont stehende ökonomische Rezession einbricht. Der breite Unmut und Widerstand wird zunehmen. Wenn sich die Massen der Arbeiterinnenklasse mobilisieren, wird schnell klar, wie schwach die soziale Basis von VOX und der Rechten in Wirklichkeit ist. Das ist der Weg, wie die Rechte bekämpft wird.
Tatsächlich hat eine Welle der sozialen Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse bereits begonnen. Das zeigte vor allem auch der riesige Streik vom 8. März, dem Tag der lohnabhängigen Frauen. Er hat den historischen Erfolg des letzten Jahres sogar noch übertroffen. Millionen setzten erneut ein gewaltiges Zeichen gegen die Frauenunterdrückung und eine tief sexistische und gewalttätige Gesellschaft. Sie brachten ihre geballte Wut gegen die ganzen Verschlechterungen von Jahren der Krise zum Ausdruck, von denen die Frauen der ArbeiterInnenklasse am stärksten getroffen werden. Das ist der Kampf einer ganzen Generation gegen die tiefe Krise des Kapitalismus, der keine Zukunftsperspektiven bietet.
Martin Kohler
Marxistischer Verein Unibe
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