Die Rolle der Schweiz auf dem internationalen Parkett ist heute so grundsätzlich in Frage gestellt, wie seit 80 Jahren nicht mehr. Die Ursache finden wir im veränderten Kräfteverhältnis zwischen den Grossmächten. Daraus resultiert eine fundamentale geopolitische Neuordnung mit tiefgreifenden Konsequenzen für die Schweiz: Erstens ist das Land so isoliert wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Und zweitens befindet es sich genau auf den tektonischen Bruchlinien der geopolitischen Blockbildung.

Allen dämmert, dass die angestammte und allseits respektierte Rolle der Schweiz in eine tiefe Sackgasse geraten ist. Die Bürgerlichen verschliessen die Augen vor dieser Realität und behaupten, die Schweiz fände schon einen Ausweg. Wieso? Weil sie es bisher jedes Mal geschafft hat, sich aus der Isolation zu befreien und ihre Position zu behaupten. 

Tatsächlich steht die Schweiz nicht zum ersten Mal im Abseits. Nach der letzten grossen geopolitischen Neuordnung – nach dem Zweiten Weltkrieg – befand sie sich ebenfalls in einer isolierten Position. Daraus befreite sie sich nicht nur überraschend schnell. Sie integrierte sich auch noch äusserst erfolgreich in die neue Ordnung. Doch historische Parallelen bergen gefährliche Trugschlüsse. Wenn wir nämlich die konkreten Bedingungen anschauen, unter denen die schweizerische herrschende Klasse dieses «Kunststück» vollbrachte, zeigt sich ein anderes Bild. Die heutigen Bedingungen unterscheiden sich fundamental von den damaligen. Und die Trümpfe, die sie damals erfolgreich ausspielte, haben allesamt ihre Schlagkraft verloren, wenn sie denn noch existieren. 

Ein nüchterner Vergleich mit besagter Episode bewahrt uns davor, ebenfalls dem Wunschdenken der verzweifelten Bürgerlichen zu verfallen.

Als Paria aus dem 2. Weltkrieg

Die Ordnung der Nachkriegszeit wurde von den Siegermächten aufgebaut. Von den USA im Westen und von der gestärkten Sowjetunion im Osten. Beide waren nicht gut auf die Schweiz zu sprechen. Dank dem traditionellen hysterischen Antikommunismus hatte die Schweiz seit 1917 keine diplomatischen Beziehungen zu Russland. Die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg verbesserte das nicht. Beide Siegermächte warfen ihr die weitgreifende Kollaboration mit Nazideutschland während des Krieges vor. 

Die USA betonten dies nicht aus Moraldünkel, sondern weil das Schweizer Kapital ihr direkter Konkurrent auf dem europäischen Markt war. Die Schweiz war neben den USA eines der wenigen Länder, deren Produktionsapparat den Krieg nicht nur unzerstört überlebt hatte, sondern auch auf den neuesten Stand der Technik gebracht worden war. Diese Konkurrenz bestand auch auf dem Finanzmarkt – ebenfalls ein Sektor, in dem die Schweiz gestärkt worden war.

Nazikollaboration als Stärke

Das Schweizer Kapital war während des Krieges mehrheitlich in die Nazi-Kriegsindustrie und den Wirtschaftsraum der Achsenmächte integriert: 60 % der Rüstungs- und 40 % der Maschinenindustrie produzierten direkt fürs Reich. Der Staat und die Banken stellten dafür Kredite zur Verfügung und bereicherten sich insbesondere am Gold- und Devisengeschäft mit der Reichsbank. Mit der Niederlage des Reiches verschwand der wichtigste Handelspartner sozusagen über Nacht. Die Schweiz brauchte neue Absatzmärkte – die im zerstörten Europa durchaus existierten. Und die Banken hatten auch die Liquidität, um den kredithungrigen europäischen Ländern die Darlehen zu geben, damit sie Schweizer Maschinen und Exportgüter kaufen. Das Problem war die politische Isolation, insbesondere gegenüber der Siegermacht USA. 

Trümpfe spielen, dann wenn es zählt!

1945, beim Washingtoner Abkommen, erkaufte sich die Schweiz mit einer sogenannten «freiwilligen Spende zum Wiederaufbau Europas» den Goodwill der USA. Für 250’000 Franken kaufte sie sich moralisch frei. Das war eine extrem niedrige Bestechungssumme! Dazu hielt sie sich nie an 2/3 der Abmachungen (was erst in den 90ern unter dem Schlagwort der nachrichtenlosen Konten für Probleme sorgen sollte). 

Alle weiteren Verhandlungen wurden hinausgezögert, bis sich der Kontext verbesserte. Und das tat er fundamental – mit dem aufkommenden Kalten Krieg. Ab 1947 subventionieren die USA den Aufbau des westeuropäischen Kapitalismus grossflächig mit dem Marshall-Plan. Das Ziel war, den Stalinismus einzudämmen. Nur vor diesem Hintergrund wird die Nachsicht verständlich, mit der die USA zuschauten, wie die Schweiz ihre Trümpfe absolut schamlos ausspielte. Der Kredit wurde zur wichtigsten helvetischen Waffe. Der riesige Durst nach Darlehen, diesem «wichtigsten Rohstoff der Schweiz», von Seiten der zerstörten europäischen Mächte, brachte enorme Vorteile profitabler und diplomatischer Natur: Jeder Kredit wurde sehr selektiv eingesetzt und an harte Konzessionen gebunden. 

Doch alle Verhandlungen mit den europäischen Ländern, durch die die Schweiz sich aus der Isolation befreite und in den neuen europäischen Kontext integrierte, sind nur verständlich, wenn die Interessen des grössten Räubers verstanden werden: Das US-Kapital hatte zwei überschneidende Interessen mit dem schweizerischen. Erstens sollten die Schweizer Banken ihr Kapital der grossen Anstrengung des Wiederaufbaus des westeuropäischen Kapitalismus zur Verfügung stellen und so die US-Subventionen ergänzen. Zweitens sollten sie mithelfen, die protektionistischen Tendenzen der europäischen Länder zu bekämpfen. Die USA kämpften für freien Waren- und Kapitalverkehr (weil sie als führende Industriemacht den Weltmarkt dominieren konnten). Die Schweiz spielte dabei eine nützliche Rolle. Die hiesige Industrie und das Finanzkapital waren nicht nur vom Krieg gestärkt, sondern historisch auch auf Freihandel und Kapitalexport eingestellt. Sie war der Freihandel-Rammbock der USA in Europa.

Diese nicht identischen, aber sich überschneidenden Interessen erklären auch, wie die Schweiz es geschafft hat, im Alleingang einen Vorbehalt zu den Statuten der OECD-Vorgängerorganisation durchzusetzen, die sie von unliebsamen Entscheiden ausnahm. Und weil die Schweiz selbst keine Marshall-Hilfe beanspruchte, wurde sie im Gegensatz zu allen anderen westeuropäischen Staaten nie von den USA verpflichtet, den Handel mit dem Ostblock aufzugeben. 

Nur wer den Kontext, die Vorteile und die Interessen der USA kennt, versteht, wie sich die Schweiz vor dem Hintergrund der letzten globalen Neuordnung so gut positionieren konnte. Die Nazi-Kollaboration gab ihr die industrielle und finanzkapitalistische Stärke. Die überlappenden imperialistischen Interessen mit den USA im Kontext des Kalten Krieges erklären die Umstände, in denen ein geschicktes und absolut skrupelloses Ausspielen seiner Asse das Schweizer Kapital nicht nur schnell aus der Isolation befreien konnte, sondern auch in eine Position brachte, in der es vom kommenden Nachkriegsaufschwung optimal profitieren konnte.

Niederkunft der Neutralität der Nachkriegszeit

Damit war die Neutralität der Nachkriegszeit geboren. Die Schweiz stand mit beiden Beinen im westlichen Lager, aber geschäftete mit allen. Doch uns muss klar sein, dass es eine Neutralität hinter den USA war. In jeder direkten Konfrontation mit der Supermacht war die Schweiz chancenlos. Peinlich genau hielt sie sich an das geheime Abkommen von 1951 zum Exportverbot von Waffen in die Ostblockländer – um den von den USA geduldeten Handel mit dem Osten nicht zu gefährden. Und wenn sie im Iran oder in Kuba eine (diplomatische) Sonderrolle einnahm und sich eigenmächtig von US-Sanktionen ausnahm, dann immer, weil sich diese Sonderrolle auch für die USA als vorteilhaft zeigte. 

Die Grenzen dieser Neutralität orientierten sich klar an einem von den USA vorgegebenen Rahmen. Dank der sich überschneidenden Interessen in Freihandel und Kapitalzirkulation – zusammen mit dem enormen Nachkriegsaufschwung – konnte sich die Schweiz in dieser klar hierarchischen Beziehung aber eine Serie von Ausnahmen erlauben. Diese brachten ihr einen entscheidenden Vorteil gegenüber den anderen westlichen imperialistischen Ländern, die ebenfalls im Windschatten der USA segelten. Nur so erklärt sich, dass ein so kleines imperialistisches Land über 80 Jahre in der ersten Liga mitspielen konnte.

Diese Periode ist für immer zu Ende

Heute ist nicht nur die Periode des Aufschwungs zu Ende. Die Stagnation des Weltmarktes führt zur verschärften imperialistischen Konkurrenz. Dazu kommt das veränderte Kräfteverhältnis zwischen den Grossmächten: Die Schutzmacht USA ist im relativen Niedergang. Ihre Hegemonie wird herausgefordert von aufsteigenden Imperialisten wie China und anderen. Die relative Schwäche der USA führt zu einem harten Kampf um die Neuaufteilung der Einflussgebiete. Rund um China entsteht ein neuer, konkurrierender Pol. Die USA reagieren mit Wirtschaftskrieg, Protektionismus und Zöllen, um die eigene Wirtschaft zu verteidigen – insbesondere auf Kosten ehemaliger Verbündeten. Trump kündigte das «Transatlantische Bündnis» und die gesamte «Regelbasierte Ordnung» der Nachkriegszeit. 

Das Problem für die Schweiz: Der Zusammenbruch der Nachkriegsordnung ist auch das Ende der Ordnung, in die sich die Schweiz damals so gewinnbringend integriert hatte. Der Zollhammer steht sinnbildlich dafür, dass die USA das alte Modell der Neutralität einseitig aufgekündigt haben: Trump verweigerte öffentlichkeitswirksam die angestammte Ausnahme, auf die die Bürgerlichen verzweifelt gehofft hatten. Die Schweiz bekam die gleiche Behandlung wie alle europäischen Trittbrettfahrer-Nationen. Diese entsprach ihrem wahren internationalen Gewicht: dem von alten Imperialmächten im Niedergang.

Nicht nur die Ordnung, die der Schweiz ihre Sonderrolle erlaubte, existiert nicht mehr. Auch die Vorteile, die sie ausspielen konnte, existieren so nicht mehr: In Zeiten des Protektionismus brauchen die USA keinen Freihandel-Rammbock mehr. Der helvetische Finanzplatz wird nicht mehr als nützliches Schmiermittel, sondern als Konkurrenz angesehen. Der Exportsektor ist seit Jahren in der Krise, weil alle Märkte übersättigt sind. Die einzige Strategie, die bleibt, ist die des Hinauszögerns. Doch Besserung ist nicht in Sicht, im Gegenteil. Alle aktuellen Tendenzen des Weltkapitalismus laufen den historischen Pfeilern des Schweizer Kapitalismus zuwider. In der zunehmenden Konkurrenz wird dieser immer mehr aufgerieben. 

Die Bürgerlichen bauen weiterhin auf vergangenen Ruhm – und holen sich regelmässig eine blutige Nase. Unsere Rolle ist es nicht, sie davor zu bewahren und den Schweizer Imperialismus neu zu erfinden. Wir setzen alles daran, das gesamte vermoderte System gemeinsam mit der weltweiten Arbeiterklasse zu überwinden.