„Die Wachen sind müde. Wir haben den Befehl den Saal zu räumen.“ Der Matrose Schelesnjakow unterbricht das langatmige Referat des ehemaligen Landwirtschaftsministers Tschernow. Damit endet am 6. Januar 1918 um kurz vor 5 Uhr morgens die kurze Episode der „Verfassungsgebenden Versammlung Russlands“. Die verbliebenen Delegierten versuchen, noch rasch einige Beschlüsse zu fassen, ehe sie den prachtvollen weissen Saal im taurischen Palais verlassen müssen. Ein Erlass der revolutionären Koalitionsregierung und eine einzelne Wache vor dem Tor des Palais genügen, dass sie nicht zurückkehren.
Kritik aus der Ferne
Die Auflösung dieser Farce einer Versammlung dient für ein geläufiges Argument gegen die siegreiche Russische Revolution: Die Bolschewiki hätten den Volkswillen mit Füssen getreten und lediglich ihre eigene Alleinherrschaft installieren wollen. Dabei sei die Wahl zur Konstituierenden Versammlung, auch Konstituante genannt, der Inbegriff des demokratischen Willens gewesen. Das ist aber viel zu kurz gegriffen und wird der Komplexität und Dynamik der Revolution nicht gerecht. Man kann die Situation 1917 nicht durch das Aufdrücken heutiger Schablonen verstehen.
Es gab 1917 in Russland tausende von Wahlen und Abstimmungen: ländliche Selbstverwaltungsorgane (Semtswos), lokale Parlamente (Dumas), Genossenschaften und Fabrikomitees. Den direktesten Ausdruck fand der Wille der revolutionären Massen in den diversen Räten (Sowjets). Hier betätigten sich die Arbeitenden selber in der Politik und die Mitglieder der Räte konnten ständig von den Wählenden ersetzt werden. Die Sowjets hielten jeden Tag neue Debatten und Abstimmungen ab und waren eng mit der Strasse verbunden.
Welche dieser Gremien und Wahlen drücken nun den Volkswillen aus? Nur eine Wahl zu betrachten – die zur Konstituierenden Versammlung – ist absurd. Stimmungen und Mehrheiten wandeln sich in einer Revolution täglich, auch demokratischste Strukturen können nicht mithalten. Wenn in jeder Strassenbahn über die Kriegspolitik debattiert wird und RednerInnen an allen Kreuzungen Publikum finden, ist das chaotisch. Will man beurteilen, wer welche demokratische Legitimation hatte, muss man die Gesamtheit der Abstimmungen, ihre Veränderungen in der Zeit und auch die politischen Handlungen der Wählenden ausserhalb der Strukturen betrachten.
Was ist demokratisch?
Bei den Wahlen zur Konstituante haben rechte Parteien 13% und die Bolschewiki 24% der Sitze geholt. Klarer Sieger war die Partei der Sozialrevolutionäre (SR) mit 63%. Das Ergebnis ist speziell, weil es nicht wie beinahe alle anderen Wahlen und Abstimmungen einen Trend hin zu den Bolschewiki darstellt. Zu Beginn der Revolution hatten die Sozialrevolutionäre enormen Rückhalt in der Bevölkerung und Mehrheiten in Sowjets und anderen Organen. Sie verspielten sich das Vertrauen, als sie in eine bürgerliche Koalitionsregierung eintraten und völlig versagten. Die Arbeitenden, BäuerInnen und Soldaten wandten sich den Bolschewiki zu. Beim allrussischen Sowjetkongress, dem höchsten und repräsentativsten Organ Russlands, erhielten die Bolschewiki eine absolute Mehrheit. Sie stellten eine neue Regierung und übergaben die Macht den demokratischen Räten.
Unterstützt wurden sie dabei von einem Teil der Partei der Sozialrevolutionäre. Angewidert vom opportunistischen und kriegstreiberischen Kurs ihrer Partei spalteten sich die Linken SR ab und gingen mit den Bolschewiki am 15. November 1917 eine Koalitionsregierung ein. Diese Spaltung delegitimiert die Konstituierende Versammlung: Die Wahllisten waren vor der Spaltung erstellt und der eigentlich grössere linke Teil der Partei war in den Listen massiv untervertreten mit nur 39 der 380 SR-Stimmen. Das bedeutet, dass die WählerInnen für eine Partei gestimmt haben, die es so gar nicht mehr gab.
Niemand – auch nicht die Feinde der Bolschewiki – stellte damals ernsthaft infrage, dass die revolutionären Massen mehrheitlich die Bolschewiki und nicht die Konstituante unterstützten. Sogar antikommunistische Historiker wie Orlando Figes erkennen das. Die ArbeiterInnen Russlands wussten sich selber zu wehren und verteidigten sich und ihre Organe – notfalls auch bewaffnet. Bei der Auflösung der Konstituante krümmten sie aber keinen Finger! Dafür gibt es eine Erklärung: Die Konstituante hatte im Vergleich zur Sowjetregierung keine demokratische Legitimation und keine reale Unterstützung. Der Delegierte Swjatizki bemerkte 1928: Die Versammlung sei zugrunde gegangen, «weil das Volk unserer Auflösung mit Gleichgültigkeit begegnete, sodass Lenin uns mit einer Handbewegung fortwinken konnte: Sollen sie einfach nach Hause gehen!»
Eine flexible Farce
Wenn die aufgelöste Versammlung aber nicht der Ausdruck des Volkswillens war, weshalb war ihre Rolle so kontrovers? Für die SR, Menschewiki und die bürgerlichen Parteien war sie 1917 die Generalausrede für ihr eigenes Versagen. Jede progressive Forderung wie Brot, Land und Frieden vertrösteten sie auf die Konstituante. Das war eine Hinhaltetaktik, da sie deren Einberufung immer verschoben. Sie nutzten die Losung der Konstituante, um die Massen zu vertrösten und die Revolution zu sabotieren.
Das gleiche Anfangs des Jahres 1918: Die reformistischen SR und Menschewiki konnten nicht akzeptieren, dass der radikalere Kurs der Bolschewiki demokratisch legitimiert war und versuchten, die linke Koalitionsregierung zu putschen. Als das fehlschlug, versuchten sie mithilfe der Konstituante, welche zufällig eine günstige Zusammensetzung hatte, die Konterrevolution zu legitimieren. Während des Bürgerkriegs organisierte sich ein Teil der Konstituierenden Versammlung in Samara, um mit faschistischen Weissen Generälen gegen die ArbeiterInnenregierung zu kämpfen. Ihr Plan misslang: Enttäuscht stellten ihre Agitatoren fest, dass sich die Bauern und Soldaten nicht für die Versammlung interessierten.
Russland war 1918 in einer Phase des zugespitzten Klassenkampfes: Ein Sieg der Weissen Generäle hätte zur Zerstörung der Sowjet-Demokratie und aller fortschrittlichen Reformen geführt. Die Konstituierende Versammlung spiegelte nicht den Willen der Bevölkerung wider, sondern war ein Referenzpunkt für die antisozialistische Koalition. Diese aufzuhalten und die Konstituante aufzulösen war deshalb nicht nur legitim, sondern absolut notwendig.
Lukas Nyffeler
Vorstand JUSO Stadt Bern
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