Die treibende Kraft hinter der Russischen Revolution war das städtische Proletariat, welches sich im Februar 1917 gegen den Zarismus erhob; die organisatorische Form, die sein Kampf annahm, waren die Sowjets der ArbeiterInnen- und Soldatendeputierten. Nachdem sich diese in der Februarrevolution spontan als Basisorganisation der revolutionären Massen gebildet hatten (siehe Kasten), breiteten sie sich in allen zentralen Städten und auch einigen ländlichen Regionen in Windeseile aus. Zwar übergab der Zar seine Macht formal einer bürgerlichen provisorischen Regierung unter Alexander Kerenski, doch die reale Macht lag de facto in den Händen der ArbeiterInnen und Soldaten, und ihren Organisationen, den Sowjets. Allerdings wurden diese rasch vereinnahmt durch die reformistischen Parteien der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, welche sich weigerten, die Macht zu übernehmen. Das Allrussische zentrale Sowjet-Exekutivkomitee, das sich unter dem Menschewiken Tschcheidse konstituierte, gab die Macht vorläufig der russischen Bourgeoisie ab, auch wenn diese überhaupt keine Rolle im Sturz des Zaren gespielt hatte.
Die Krise der Bolschewiki nach der Februarrevolution
Allerdings war auch der Zustand der bolschewistischen Partei desolat; nach den Februartagen stand die Parteileitung beinahe ohne eigenständiges Programm da. Die bolschewistischen Parteiführer verfolgten in der unmittelbar auf die Februarrevolution folgende Periode eine Annäherung an die Menschewiki – einige unter ihnen befürworteten sogar offen eine Wiedervereinigung.
Die Bolschewiki und die Menschewiki hatten eine gemeinsame Vergangenheit; beide Parteien entstammten der Sozialdemokratischen Russischen ArbeiterInnenpartei (SDAPR) und spalteten sich 1913 in zwei konkurrierende Sozialdemokratische Parteien. Die politische Differenz bestand in der Frage, ob in Russland (einem bis 1917 mehrheitlich feudalen Land) zunächst der Kampf für eine demokratische Republik im Vordergrund stünde oder bereits die Machtergreifung der arbeitenden Klasse angestrebt werden müsse. Die erste Position vertraten die Menschewiki, letztere die Bolschewiki. Die Menschewiki gingen davon aus, dass die demokratischen Reformen im Bund mit der russischen Bourgeoisie erkämpft würden, während Lenin und Trotzki bereits 1905 betonten, dass die kommende Revolution gegen den Zarismus nicht von der Bourgeoisie, sondern von den ArbeiterInnen und den armen Bauern erkämpft würde. Daraus ergab sich Lenins Losung von der „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern“. Diese „demokratische Diktatur“ könne zwar aufgrund der ökonomischen Rückständigkeit Russlands noch nicht direkt zum Aufbau des Sozialismus übergehen, sie würde aber eine proletarische Revolution im Westen befeuern, durch deren Hilfe sie schliesslich ins sozialistische Stadium übergehen könne.
Die bolschewistische Führung in Russland legte diese „demokratische Diktatur“ nun so aus, dass die Macht in den Händen der bürgerlichen Regierung belassen werde, und die Aufgabe der Sowjets und der ArbeiterInnenparteien darin bestünde, Druck von links auf die provisorische Regierung auszuüben.
Lenins „Aprilthesen“ und die „Umbewaffnung“ der Partei
Diese Politik wurde von Lenin in Briefen aus dem Schweizer Exil scharf kritisiert; in Telegrammen wies er die Parteileitung an, jegliche Annäherung an Menschewiki und Sozialrevolutionäre abzubrechen und keinerlei Vertrauen in die bürgerliche provisorische Regierung zu hegen, sondern stattdessen in den Sowjets mit einem eigenständigen sozialistischen Programm eine Mehrheit zu erkämpfen.
Nachdem Lenin im April im berühmten deutschen Waggon über Finnland nach Russland gereist war, richtete sich dieser sofort mit schonungsloser Kritik an die bolschewistische Führung: Am 4. April, ein Tag nach seiner Ankunft in Petrograd, hielt er auf der Parteikonferenz der Bolschewiki ein Referat auf der Grundlage von zehn Thesen, welche später als die „Aprilthesen“ in die Geschichte eingehen sollten. Die Kernpunkte der zehn Thesen waren das sofortige Ende des Krieges mit Verzicht auf alle russischen Annexionen, die Enteignung des adeligen Grundbesitzes und dessen Verteilung unter den armen Bauern sowie die Übergabe der politischen Macht an die Sowjets der ArbeiterInnen- und Soldatendeputierten. Aus diesen Forderungen ergab sich im Laufe des Jahres 1917 die einschlägige bolschewistische Losung: „Brot, Land und Frieden“.
Die Thesen Lenins wurden zunächst unter den Liberalen, den Menschewiki und sogar Teilen der bolschewistischen Führung als utopisch und realitätsfern belächelt. Tatsächlich war es aber eben gerade das Programm, welches den ArbeiterInnen und BäuerInnen überhaupt einen Ausweg aus ihrer miserablen Lage bieten konnte. Dies wurde gerade dadurch bestätigt, dass Lenins Thesen massiven Rückhalt in der bolschewistischen Basis genossen. So hatte etwa die bolschewistische Parteizelle in Wyborg, einem IndustriearbeiterInnen-Bezirk in Petrograd, bereits im März eine Resolution verabschiedet, welche die Machtübernahme der Sowjets und die Absetzung der provisorischen Regierung forderte. Die Wyborger Bezirksorganisation ging gar soweit, der Parteiführung mit der Absetzung zu drohen, würde sie nicht ihre reformistische Politik revidieren. Es war also die proletarische Basis der Partei, welche den Kurswechsel der bolschewistischen Partei an ihrer April-Konferenz möglich machte.
Die Eroberung der Sowjetmehrheit durch die Bolschewiki
Die Thesen Lenins stellten quasi eine politische „Umbewaffnung“ der Partei dar, nach der überhaupt erst die Möglichkeit gegeben war, dass diese Partei im Laufe des Jahres 1917 die Mehrheit der russischen ArbeiterInnen, Soldaten und BäuerInnen hinter sich versammeln konnte. Doch diese „Umbewaffnung“ war nicht einfach ein reines Produkt der Genialität Lenins, sondern Folge einer korrekten Analyse der Verhältnisse, welche sich wiederum in der Partei nur durchsetzen konnte, weil sie auf massive Zustimmung der am stärksten radikalisierten Schichten der ArbeiterInnenklasse und Soldaten stiess, welche sich in der bolschewistischen Partei organisierten.
Die programmatische Umorientierung ermöglichte es der Partei in der Folge, Schritt für Schritt ihren Einfluss in den Sowjets auszubauen; Im März verfügten die Bolschewiki in gerade mal 27 von 242 existierenden Sowjets die Mehrheit, im Petrograder Sowjet waren nur ein knapper Zehntel der Delegierten Bolschewiki, und auch am ersten allrussischen Sowjetkongress vom Juni 1917 stellten sie noch eine deutliche Minderheit.
Zwischen Februar und Oktober wuchs die Partei nun aber blitzartig von 10’000 auf 500’000 Mitglieder und gewann dementsprechend an Einfluss in den Sowjets. Am zweiten allrussischen Sowjetkongress vom 25. Oktober stellten die Bolschewiki mit 390 von 649 Delegierten die Mehrheit, und es war somit auch dieser Sowjetkongress, welcher die Absetzung der provisorischen Regierung und die Errichtung der Sowjetrepublik beschloss
Der Einflussgewinn der Bolschewiki zwischen Februar und Oktober kann nur dadurch erklärt werden, dass die Partei stets in klarer Opposition zur bürgerlichen provisorischen Regierung stand und ihre Agitation darauf ausrichtete, dass die Forderungen „Brot, Land und Frieden“ nur durch die Machteroberung der Sowjets (“Alle Macht den Sowjets!”) zu erreichen seien. Weder die Landreform, die Einführung eines Achtstundentages oder die Friedensschliessung konnte und wollte die provisorische Regierung umsetzen. Dies änderte sich auch nicht, als Anfang Mai drei Minister der Menschewiki und Sozialrevolutionäre in die provisorische Regierung aufgenommen wurden; im Gegenteil: In den Sowjets diskreditierten sich die beiden „linken“ Parteien, die ursprünglich die Mehrheit der Sowjets hinter sich hatten, zunehmend durch ihre Einbindung in die bürgerliche Regierung vor den ArbeiterInnen und Soldaten.
Durch ihr Beharren auf der Notwendigkeit der Sowjetmacht konnten die Bolschewiki in ihrer Rolle als linker Sowjet-Opposition zunehmend an Einfluss gewinnen, gerade weil die ArbeiterInnen und Bauern in Anbetracht der Ereignisse nach und nach jegliche Illusionen in die bürgerliche Regierung und mit ihr auch das Vertrauen in Sozialrevolutionäre und Menschewiki verloren. Ohne die theoretische und taktische Klarheit, zu welchen die Aprilthesen erheblich beitrugen, hätten die Bolschewiki diese Rolle jedoch niemals spielen können.
In der Konterrevolution von 1907 wieder zerschlagen, wurden nach dem gleichen Prinzip in der Februarrevolution 1917 Sowjets erneut ausgerufen. Der erste solche Sowjet entstand am 27. Februar im Petrograder Industriebezirk Wyborg, dicht gefolgt vom Bezirk Petergovskij, der unter anderem die gigantischen Putilow-Werke beheimatete, und dem Bezirk Porochovskij. Am 15. März existierten in Petrograd insgesamt 11 lokale Sowjets, welche VertreterInnen aus Fabrik- und Nachbarschaftskomitees umfassten. Neben gewerkschaftlichen Tätigkeiten übernahmen die lokalen Sowjets vor allem die Kontrolle über die Beamten und die lokalen Bezirksparlamente, wodurch sie also bereits seit Februar faktisch politische Macht auf Gemeindeebene ausübten. Die zunächst sehr chaotische Organisation wurde systematisiert durch die Schaffung eines Delegiertensystems, wonach jeder Bezirks-Sowjet Delegierte an eine übergeordnete Versammlung entsandte, mit der höchsten Einheit des Petrograder Sowjets. Zwischen den Versammlungen der einzelnen Sowjets tagten von diesen gewählte Exekutivkomitees, von denen das höchste Organ das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee darstellte. Die Bolschewiki schafften es im Oktober 1917 sowohl im zweiten Allrussischen Sowjetkongress wie im von diesem gewählten Allrusischen Sowjet-Exekutivkomitee eine Mehrheit zu erringen. Dies war die eigentliche Basis der bolschewistischen Machtübernahme.
Lenin beschrieb in seinem 1917 verfassten Klassiker “Staat und Revolution” die Bedeutung der Sowjets als Träger einer neuen Staats- und Gesellschaftsordnung unter der Führung der ArbeiterInnenklasse. Dabei zog er Parallelen zu der Pariser Kommune von 1871, welche als erster ArbeiterInnenstaat der Geschichte betrachtet werden kann. Die bolschewistische Vorstellung der Sowjets richtete sich nach den Prinzipien, nach denen sich die Pariser Kommune organisiert hatte: Die jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit aller Beamten und die damit verbundene ständige Rechenschaftspflicht vor der Basis, sowie die Entlöhnung aller Amtsträger zu nicht mehr als einem durchschnittlichen FacharbeiterInnenlohn.
Julian Scherler
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