Dieser Artikel ist das letzte Kapitel aus Alan Woods Buch «Bolshevism: The Road to Revolution». Das Kapitel behandelt das letzte Jahr auf dem Weg zur Machtergreifung der Bolschewiki: das Jahr 1917. Die Einleitung in das Buch («Warum die Geschichte des Bolschewismus studieren?») findest du ebenfalls auf Deutsch auf unserer Webseite.
Das Jahr 1917 wurde von einer Streikwelle in Petrograd eingeläutet. Allein im Januar befanden sich 270.000 Arbeiter im Streik, laut den Zahlen der Fabriksinspektorate 177.000 davon in Petrograd. Der Krieg schuf eine zunehmend untragbare Situation für die Massen. Zum Alptraum des Krieges kam der Schrecken einer tiefen ökonomischen Krise. Im Dezember 1916 standen in Petrograd 39 Fabriken wegen Treibstoffmangel und 11 weitere wegen Stromausfall still. Die Eisenbahn war am Zusammenbrechen. Fleisch gab es keines, auch das Mehl war knapp. Im Land herrschte Hunger und Warteschlangen um Brot gehörten zum Alltag.
Zu all dem kamen ständig neue Nachrichten über militärische Niederlagen und Skandale vom Hofe, der Clique um Rasputin und der monarchistisch-feudalistischen Regierung der Schwarzhundertschaften. Ein von adeligen Gaunern, Spekulanten und sonstigem Gesindel dominiertes Regime stellte seine Verrottetheit offen vor einer zunehmend unzufriedenen Bevölkerung zur Schau. Die bürgerlichen Liberalen des «Progressiven Blocks» malten das Schreckgespenst einer drohenden Revolution an die Wand und hofften auf diese Weise Zar Nikolaus zu Reformen bewegen zu können.
Unter der Oberfläche hatte sich die Gesinnung der Massen allmählich zu wandeln begonnen. Trotzki beschrieb diese Entwicklung als «molekularen Prozess der Revolution». Es handelt sich um einen Vorgang, der so schleichend fortschreitet, dass er oft selbst für RevolutionärInnen nicht wahrnehmbar ist. Jene ziehen mitunter die falschen Schlussfolgerungen aus der auf den ersten Blick vorherrschenden Apathie und dem Fehlen sichtbarer Manifestationen der angesammelten Frustration, Wut und Verbitterung. Dieses Phänomen ist vergleichbar mit dem allmählichen Druckaufbau unter der Erdoberfläche vor einem Erdbeben. Auch jener Prozess ist für flüchtig Beobachtende, die nicht unter die Oberfläche sehen, unsichtbar, weil sie die aufwühlenden Vorgänge, die sich im Erdinneren abspielen, nicht in Betracht ziehen. Wenn die Eruption dann stattfindet, wird sie von allgemeinem Erstaunen begleitet. Alle möglichen «ExpertInnen» bieten dann Erklärungen an, die meist nicht weiter als bis zur unmittelbaren Ursache reichen, womit sie in Wirklichkeit überhaupt nichts erklären.
In diesem Sinne wurde auch die Februarrevolution mit dem Mangel an Brot begründet. Das ist allerdings eine Auslegung, die übersieht, dass in den Jahren nach der Oktoberrevolution die Brotknappheit infolge des Bürgerkriegs, den die Konterrevolution und die Invasion der 21 ausländischen Interventionsarmeen provozierten, noch viel schlimmer war. Warum führte dieser Umstand nicht zu einer neuerlichen Revolution? Doch die Frage wird nie gestellt und kann auch nicht beantwortet werden, wenn wir den unmittelbaren Anlass, der eine Bewegung auslöste, mit den tiefer liegenden Ursachen vermischen, was eine Verwechslung von Zufall und Notwendigkeit darstellt – so wie in den alten Schulbüchern, welche die Ursache des Ersten Weltkriegs in der Ermordung des Erzherzogs Ferdinand in Sarajewo sehen und nicht in der Akkumulation der Widersprüche zwischen den grössten imperialistischen Mächten vor 1914.
Am 9. Januar erschütterte ein Streik Petrograd. Er wurde in den Bezirken Wyborg und Newski zum Generalstreik. Die Kriegsindustrie war davon besonders hart betroffen. Etwa 145.000 ArbeiterInnen waren an der Arbeitsniederlegung beteiligt, die eine Art Generalprobe für die Revolution bedeutete. Der Streik wurde von Massenversammlungen und Demonstrationen begleitet. Petrograd ähnelte damals einem bewaffneten Lager, besetzt von Truppen und Polizei, durch Polizeimassnahmen konnte die Revolution allerdings nicht mehr verhindert werden. Die bürgerlichen Liberalen versuchten von ihrem Standpunkt her, vom Zaren Reformen zu erwirken, um die Revolution abzuwenden. Rodsjanko bat den Zaren, die Duma weiter bestehen zu lassen und eine Regierungsumbildung in die Wege zu leiten.
Die von den Menschewiki dominierte «Arbeitergruppe des Zentralen Komitees für die Kriegsindustrie» wandte sich am 14. Februar – dem Tag der Eröffnung der Duma – mit einem Aufruf an die ArbeiterInnen von Petrograd: Sie sollten sich beim Taurischen Palais einfinden, um ihre Solidarität mit der Duma zu zeigen und die liberale Opposition zu stärken. Das bolschewistische Büro verurteilte diese Politik der Klassenkollaboration und forderte einen eintägigen Streik zum Jahrestag des Prozesses gegen die bolschewistischen Deputierten. 90.000 ArbeiterInnen aus 58 Fabriken folgten dem Streikaufruf. Die ArbeiterInnen der Putilow-Werke demonstrierten; Losungen waren «Schluss mit dem Krieg!», «Nieder mit der Regierung!», «Lang lebe die Republik!». Niemand fühlte sich jedoch bemüssigt zum Taurischen Palais zu gehen. Rodsjanko gestand ein, dass die Duma auf «die Rolle eines fast passiven Zuschauers» reduziert war, als die Demonstration an ihr vorbei zum Newski Prospekt strömte.
Diese erfolgreichen Generalproben – «progressive Annäherung» wäre ein noch treffenderer Ausdruck – zeigten, dass die Stimmung der Massen den Siedepunkt erreicht hatte. Delegierte aus den Putilow-Werken besuchten andere Fabriken in den Bezirken Narwa und Wyborg. Das entzündete eine allgemeine Bewegung. Es kam zu Hungeraufständen, an der sich beträchtlich viele Frauen beteiligten.
Am 18. Februar begann im riesigen Putilow-Werk ein gewaltiger Streik. Ursprünglich legten einige hundert ArbeiterInnen in einer der Werkstätten die Arbeit nieder, die höhere Löhne und die Wiedereinstellung einiger entlassener KollegInnen forderten. Die organisierten Werktätigen und RevolutionärInnen wurden von dem Ausstand völlig überrascht. 30.000 Beschäftigte des Unternehmens bildeten im Zuge des Streiks ein Streikkomitee, gingen hinaus auf die Strasse und appellierten an andere ArbeiterInnen um Unterstützung. Am 22. Februar antwortete die Unternehmensleitung mit einer Zutrittssperre, was sich als grosser Fehler erweisen sollte – Tausende wütender Lohnabhängiger versammelten sich in den Strassen, zu einer Zeit, als viele Frauen aus der Arbeiterklasse in der Kälte auf die magere Brotration warteten.
Diese Kombination wirkte explosiver als die Granaten, die die Putilow-Werke fabrizierten. Zufälligerweise war der folgende Tag der 23. Februar, Internationaler Frauentag. Das verlieh der Massenbewegung zusätzlichen Antrieb. Die blitzartige Geschwindigkeit, mit der sich politisch unorganisierte Frauen und Jugendliche der Bewegung anschlossen, überraschte die AktivistInnen. Der sowjetische Historiker E.N. Burdschalow drückte es so aus: «Die Jungen der Arbeiterklasse marschierten in den Demonstrationen in der vordersten Reihe, beteiligten sich an Versammlungen, nahmen an Auseinandersetzungen mit der Polizei teil (und) … agierten als Kundschafter der Revolution, indem sie (erwachsene) Arbeiter über die Versammlungen von Truppen und Polizei verständigten usw.» (1)
Am 24. Februar befanden sich 200.000 Werktätige – mehr als die Hälfte der Petrograder Arbeiterklasse – im Streik. Als Proletariat die alte Angst abstreifte und die Bereitschaft entwickelte seinen Peinigern offen entgegenzutreten, kam es zu grossen Fabriksversammlungen und Demonstrationen. Die Revolution hatte begonnen. Einmal angefangen, entwickelte die Bewegung eine eigene Dynamik. Die Revolution trieb nun alles vor sich her. Massendemonstrationen begleiteten die Streiks, die sich wie Buschfeuer vom Bezirk Wyborg aus auf andere Industriegebiete ausweiteten. Menschenmassen überrannten die Polizei und die Truppen auf ihrem Weg ins Stadtinnere, der von Rufen wie «Brot!», «Frieden!», «Nieder mit der Autokratie!» begleitet war. Im Zuge dessen überschritten sie auch die zugefrorene Newa.
Am Donnerstag, dem 23. Februar, fanden Protestversammlungen gegen den Krieg, die hohen Lebenshaltungskosten und die schlechten Bedingungen der Arbeiterinnen statt. Das mündete wiederum in eine neuerliche Streikwelle. Frauen spielten in der Bewegung eine Schlüsselrolle. Sie gingen in die Fabriken und riefen die ArbeiterInnen auf sich ihnen anzuschliessen. Massendemonstrationen auf den Strassen folgten. Fahnen und Transparente mit revolutionären Losungen tauchten auf: «Nieder mit dem Krieg!», «Nieder mit dem Hunger!», «Lang lebe die Revolution!». RednerInnen und AgitatorInnen erschienen wie aus dem Nichts auf den Strassen. Viele waren Bolschewiki, doch andere waren gewöhnliche Frauen und Männer, die nach Jahren des erzwungenen Stillschweigens plötzlich entdeckten, dass sie in ihrem Kopf eine Zunge und ein denkendes Gehirn hatten.
An diesem Morgen schaute ein 25jähriger Matrose, Fjodor Fjodorowitsch Iljin (Raskolnikow) aus dem Fenster und dachte: «Heute ist Frauentag. Wird auf den Strassen etwas passieren?». Und es passierte etwas. 128.000 Werktätige traten in den Streik. Die gesamte Stadt schäumte vor Leben.
So wie sich die Dinge entwickelten, war der Frauentag dazu bestimmt, der erste Tag der Revolution zu sein. Arbeiterinnen, die wegen ihrer harten Lebensbedingungen und den Hungerqualen verzweifelten, waren die ersten, die auf der Strasse standen und «Brot, Freiheit und Frieden» forderten.
«An diesem Tag konnten wir, eingeschlossen in unseren Quartieren, vom Fenster aus eine sehr ungewöhnliche Szenerie beobachten. Die Strassenbahnen fuhren nicht, was bedeutete, dass die Strassen untypisch leer und still waren. Aber an der Ecke von Bolschoi Prospekt und Gawanskaja Strasse versammelten sich Gruppen von Arbeiterinnen. Berittene Polizisten versuchten sie zu zerstreuen, indem sie sie grob mit den Pferden und den flach ausgestreckten Schwertern zur Seite stiessen. Als die zaristische Opritschniki (A) sich dem Gehsteig näherte, brach die Menge, ohne ihren Zusammenhalt zu verlieren, für einen Moment auseinander und bedachte sie mit Beschimpfungen und Drohungen; doch sobald sich die berittene Polizei wieder auf der Fahrbahn befand, schloss sich die verstreute Menge wieder zusammen. In einigen Gruppen konnten wir Männer sehen, doch die überwältigende Mehrheit bestand aus Arbeiterinnen und Frauen von Arbeitern.» (2).
Am 25. Februar trafen sich etwa 30 bis 35 ArbeiterführerInnen im Büro des Petrograder Gewerkschaftsverbands, um einen Sowjet (ArbeiterInnenrat) zu gründen. Obwohl die Hälfte davon noch am selben Abend verhaftet wurde, erklärte sich zwei Tage später einige von ihnen zum Provisorischen Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets. Der menschewistische Duma-Abgeordnete N.S. Tscheidse wurde zum Vorsitzenden gewählt, obwohl er offensichtlich keine Fabrik repräsentierte. Doch eventuell hatte die Mehrheit der etwa 150 bei der Gründungssitzung des Sowjets Anwesenden unechte Delegiertenkarten. Tscheidse definierte seine Ziele als «Organisierung der Kräfte des Volkes und Stärkung des Kampfes um die politische Freiheit und eine Volksregierung.»
Am Abend desselben Tages gab Zar Nikolaus den entschiedenen Befehl an Chabalow, er solle «die Unordnung in der Hauptstadt mit morgen beenden». Am folgenden Nachmittag eröffneten die Truppen das Feuer. Ein Polizeibericht hielt fest, dass «es nur möglich war, die Menge zu zerstreuen, wenn die geladenen Gewehre inmitten der Leute abgefeuert wurden, die sich meist in den Hinterhöfen der umliegenden Häuser versteckten und bei Feuerpausen wieder auf die Strassen liefen.» Wenn die Massen einmal ihre Todesangst verlieren, ist das Spiel gelaufen. Doch sogar jetzt begriffen die bolschewistischen Führungskader in Petrograd die wahre Natur der Situation nicht. V.Kajurow, ein Mitglied des bolschewistischen Komitees im Bezirk Wyborg, meinte: «Eines scheint klar: der Aufstand löst sich auf.» (3). In Wahrheit war das erst der Anfang.
Innerhalb weniger Tage, vom 25. bis 27. Februar, befand sich Petrograd im Zustand eines Generalstreiks. Ein Generalstreik stellt die Machtfrage sehr klar, kann sie aber aus sich heraus nicht lösen. Die Frage ergibt sich aus der Situation: Wer herrscht? Wer ist Herr im Haus? Unausweichlich wird das Endergebnis gewaltsam entschieden. Sich von der anfänglichen Lähmung erholend, begann das Regime auf die Lage zu reagieren. Der Zar persönlich gab die Anordnung: «Ich befehle Ihnen, der Unordnung in der Hauptstadt mit morgen ein lückenloses Ende zu setzen.» Soldaten und Polizei wurden von Nikolaus dem Blutigen persönlich angewiesen, auf die Demonstrierenden zu schiessen.
Am 26. Februar begann das Feuer. Die meisten Armeeangehörigen schossen in die Luft, doch die Polizei, die immer eine rückständigere und reaktionärere Rolle in der Gesellschaft einnimmt als die Soldaten, feuerte in die Menge. Viele wurden getötet und verletzt. Das war ein entscheidender Wendepunkt im Bewusstsein der Heerestruppen. An diesem Tag eröffnete das Regiment Pawlowsk, das den Befehl hatte, auf die ArbeiterInnen zu schiessen, das Feuer auf die Polizei. Auf dem Papier hatte das Regime ausreichend Kräfte zu seiner Verfügung. Aber im Moment der Wahrheit schmolzen diese Kräfte dahin. Die verzweifelten Rufe nach Verstärkung blieben unbeantwortet. Trotzki gibt in seiner «Geschichte der Russischen Revolution» einen Dialog zwischen General Iwanow und General Chabalow wieder:
«Iwanow: Welche Truppenteile halten Ordnung, und welche erlauben sich Gemeinheiten?
Chabalow: Unter meinem Befehl stehen im Gebäude der Admiralität vier Kompanien der Garde, fünf Schwadronen und Hundertschaften, zwei Batterien; alle übrigen Truppen sind auf die Seite der Revolutionäre übergegangen oder bleiben nach Übereinkunft mit diesen neutral. Einzelne Soldaten und Banden treiben sich in der Stadt herum und entwaffnen Offiziere.
Iwanow: Welche Bahnhöfe werden bewacht?
Chabalow: Alle Bahnhöfe sind in den Händen der Revolutionäre und werden von diesen streng bewacht.
Iwanow: In welchen Stadtteilen wird die Ordnung aufrechterhalten?
Chabalow: Die ganze Stadt ist in der Gewalt der Revolutionäre, das Telefon arbeitet nicht, eine Verbindung mit den Stadtteilen gibt es nicht.
Iwanow: Welche Behörden üben in diesen Stadtteilen die Macht aus?
Chabalow: Kann ich nicht beantworten.
Iwanow: Arbeiten sämtliche Ministerien?
Chabalow: Die Minister sind von den Revolutionären verhaftet.
Iwanow: Welche Polizeibehörden stehen im Augenblick zu Ihrer Verfügung?
Chabalow: Keine.
Iwanow: Welche technischen und wirtschaftlichen Institutionen des Kriegsamtes unterstehen Ihrem Befehl?
Chabalow: Keine.
Iwanow: Welche Mengen von Proviant haben Sie zu Ihrer Verfügung?
Chabalow: Ich habe keinen Proviant zu meiner Verfügung. Am 25. Februar war in der Stadt ein Vorrat von 5.600.000 Pud Mehl.
Iwanow: Sind viele Waffen, Artillerie- und Kriegsvorräte in die Hände der Rebellen gefallen?
Chabalow: Alle Artilleriewerke sind in den Händen der Revolutionäre.
Iwanow: Welche Militärbehörden und Stäbe stehen zu Ihrer Verfügung?
Chabalow: Zu meiner Verfügung steht der Chef des Kreisstabs persönlich; mit den übrigen Kreisverwaltungen fehlt die Verbindung.» (4)
Es kam in vielen Fällen zu einer Vergeschwisterung zwischen Truppen und Streikenden. ArbeiterInnen gingen zu den Kasernen, um sich an ihre Brüder in Uniform zu wenden. In den bolschewistischen Hauptquartieren gab es fortwährend und häufig hitzige Diskussionen über die Taktik in der sich verändernden Situation, nicht bloss täglich, sondern stündlich. Schljapnikow argumentierte gegen die Aufstellung bewaffneter Abteilungen, weil er alle Hoffnung auf die Überzeugung der Truppen setzte. Tschugurin und andere meinten, dass beides notwendig wäre usw. Die tatsächliche Lage veränderte sich jedoch viel zu schnell, als dass die Debatten der bolschewistischen Spitze in Petrograd mit ihr Schritt halten hätten können. Die Werktätigen waren längst dabei, die ganze Stadt zu übernehmen und den Mangel an Waffen und militärischer Kenntnis mit blosser Heldenhaftigkeit und ihrer Überzahl auszugleichen.
Nach dem 27. Februar war fast die gesamte Stadt in den Händen der ArbeiterInnen und Soldaten, einschliesslich der Brücken, Arsenale und Bahnhöfe, der Telegrafen- und Postämter. Im Moment der Wahrheit lösten sich die mächtigen Streitkräfte, über die das Regime auf dem Papier verfügte, in Luft auf. In der Nacht zum 28. stand Chabalow völlig ohne Truppen da – ein General ohne Armee. Die Minister der letzten zaristischen Regierung wurden in die Peter-Paul-Festung geführt, als Gefangene der Revolution! Auf der Grundlage des Experiments von 1905 errichteten die Lohnabhängigen Sowjets, um die Herrschaft über die Gesellschaft zu übernehmen. Die Macht war in den Händen der Arbeiterklasse und der Truppen.
Eines ist völlig klar. Die Überwindung des Zarismus wurde von den Werktätigen vollbracht, welche die Bauern- und Bäurinnenschaft in Form der Armee hinter sich herzogen. Tatsächlich war die Revolution in einer einzigen Stadt – Petrograd – durchgeführt worden, die gerade 1/75 der russischen Bevölkerung beherbergte. Hier sehen wir in einer durchschlagenden Weise das entscheidende Gewicht der Arbeiterklasse im Vergleich zur Bauern- und Bäurinnenschaft, der Stadt im Vergleich zum Land. Die Februarrevolution war relativ friedlich, weil keine ernstzunehmende Macht dazu bereit war, das alte Regime zu verteidigen. Als das Proletariat einmal begonnen hatte, sich zu erheben, gab es nichts mehr, das es aufhalten konnte.
In Bezug auf die Februarrevolution schrieb Trotzki: «Es wäre keine Übertreibung, zu sagen, dass Petrograd die Februarrevolution vollbrachte. Das übrige Land schloss sich ihm an. Nirgends ausser in Petrograd gab es Kampf. Im ganzen Lande fanden sich keine Bevölkerungskreise, Parteien, Institutionen oder Truppenteile, die es gewagt hätten, zum Schutze des alten Regimes aufzustehen. Das beweist, wie unbegründet das spätere Gerede der Reaktionäre war, wonach das Schicksal der Monarchie sich anders gestaltet hätte, wenn die Gardekavallerie in Petrograd gewesen wäre oder wenn Iwanow eine zuverlässige Brigade von der Front gebracht hätte. Weder im Hinterlande noch an der Front war eine Brigade oder ein Regiment bereit, sich für Nikolaus II. zu schlagen.» (5)
Die ArbeiterInnen hielten nun die Macht in ihren Händen, doch waren sie, wie Lenin später erklärte, nicht ausreichend organisiert und bewusst, um die Revolution zu Ende zu führen. Darin bestand das zentrale Paradoxon der Februarrevolution. Keine andere Klasse als die der Werktätigen war es, welche die Revolution durchführte, die Bauernschaft im grauen Soldatenrock hinter sich herziehend. Und doch war es eine bürgerliche Revolution? Tatsächlich, in ihrem unmittelbaren Programm und ihren Forderungen war der objektive Gehalt der Februarrevolution ein bürgerlich-demokratischer. Doch welche Rolle spielte die Bourgeoisie darin? Es war die der Konterrevolution, welche nur vereitelt wurde, weil die liberalen Politiker wie die Autokratie selbst nicht die nötigen Mittel hatten, sie zur Wirkung zu bringen.
Nachdem sie verstanden hatten, dass sie die Revolution nicht im Blut ertränken können, improvisierten sie hastig eine «Provisorische Regierung». Dies war der Versuch die Kontrolle über die Bewegung zu erlangen und sie aus der Bahn zu werfen. Die Provisorische Regierung ging aus dem Provisorischen Komitee der Duma hervor, das sich selbst einen Titel gab, der alles aussagt: «Komitee für die Wiedererrichtung der Ordnung und der Beziehungen zu öffentlichen Institutionen und Personen». Jenes Komitee wurde von Mikhail Rodsjanko geleitet, dem früheren Sprecher der Duma, der selbst zugab, dass er die Abdankung des Zaren als «unsagbare Traurigkeit» ansah. Ein anderes bedeutsames Mitglied des Progressiven Blocks war Schulgin, der sich wünschte über Maschinenpistolen zu verfügen, um mit dem Mob fertig zu werden. Schulgin entschlüpften zufällig die wirklichen Gründe für die Bildung der Provisorischen Regierung, als er meinte: «Wenn wir nicht die Macht ergreifen, tun es andere – dieser Abschaum, der in den Fabriken bereits alle möglichen Schurken gewählt hat.» (6)
Diese «Schurken in den Fabriken» waren die Mitglieder der Sowjets, jener auf breiter Basis fussenden, an den Arbeitsplätzen demokratisch gewählten Kampfkomitees. Die Werktätigen setzten dort fort, wo sie 1906 aufgehört hatten. Im Verlauf der Revolution entdeckten sie all die alten Traditionen wieder und errichteten gewählte Räte in jeder Fabrik. Tatsächlich hielten sie im Februar die Macht in ihren Händen. Das Problem war, dass eine Partei und eine Führung fehlten, die für die Revolution standen. Die reformistischen FührerInnen, die sich selbst zu Beginn der Revolution in den vorderen Reihen wiederfanden und aus denen sich der Grossteil des Exekutivkomitees des Sowjets zusammensetzte, hatten nicht die Perspektive, die Macht zu übernehmen. Im Gegenteil – sie stolperten über sich selbst in ihrer Eilfertigkeit, der Bourgeoisie die Macht zu übergeben, obwohl diese in der Revolution keine Rolle gespielt hatte und sich sogar vor ihr fürchtete.
Die Liberalen verfügten über keine Massenbasis in der Gesellschaft. Der einzige Grund, warum die Provisorische Regierung überleben konnte, war, dass sie von den Menschewiki und den SozialrevolutionärInnen gestützt wurde. Die Repräsentanten des Kapitals wussten, dass sie ihren Kurs nur fortsetzen konnten, wenn sie sich auf die Unterstützung durch die Sowjetführung verließen. Doch das sollte nur ein vorübergehendes Arrangement sein. Die Massen würden dieses Unfugs bald überdrüssig werden. Die Bewegung würde abebben und dann könnten sie den «SozialistInnen» einen Tritt verpassen. Doch zum gegebenen Zeitpunkt waren sie ein notwendiges Übel, mit dem man sich aus Angst vor Schlimmerem arrangieren musste. Daher schluckten sie ihre Entrüstung und machten die nötigen Angebote.
Die reformistischen FührerInnen hielten mit den Mitgliedern der«Arbeitergruppe des Zentralen Komitees für die Kriegsindustrie», den menschewistischen Duma-Abgeordneten und verschiedenen JournalistInnen und Intellektuellen aus dem menschewistischen Lager eine hastig einberufene Versammlung im Taurischen Palais ab. Die Menschewiki vertraten sofort eine Position der Klassenkollaboration. Das war zu erwarten, es war das logische Ergebnis ihrer gesamten vorhergehenden Entwicklung. Ihr Organisationskomitee gab am 1. März eine Erklärung heraus, in der eine Provisorische Regierung, «die die Bedingungen für die Organisierung eines neuen freien Russlands schaffen wird», gefordert wird. Die ArbeiterInnen hatten ihr Blut vergossen, um die Macht zu erobern, während die Bourgeoisie von der Seite aus verängstigt zusehen musste. Doch die Menschewiki – die gewählten VertreterInnen der «Schurken in den Fabriken» – wollten die Macht an die Bürgerlichen abgeben!
Die Lohnabhängigen und Soldaten misstrauten der Bourgeoisie, aber sie vertrauten ihren FührerInnen, besonders jenen mit dem radikalsten und «linkesten» Image wie Kerenski. Dieser Mittelklassekarrierist mit der Rhetorik eines Anwalts und einer Schwäche für theatralische Demagogie war wie dafür geschaffen, die ersten noch unförmigen, naiven und verwirrten Schritte des Erwachens der Massen darzustellen. Kerenski durfte mit Erlaubnis des Sowjets als Mitglied an der Provisorischen Regierung teilhaben. Hier sehen wir das zentrale Paradoxon der Februarrevolution: dass sie jene an die Macht hievte, die absolut keinen Beitrag zu ihrem Erfolg geleistet hatten – ja, sie sogar fürchteten wie der Teufel das Weihwasser – die Kadetten und ihre oktobristischen Verbündeten (Kadetten und Oktobristen sind zwei bürgerliche Fraktionen im russischen Parlament nach 1905, Anm.) in der Duma (Parlament das nach der Revolution 1905 geschaffen wurde, Anm.).
Am 2. März wurde die Provisorische Regierung gegründet. Sie bestand hauptsächlich aus Grossgrundbesitzern und Industriellen. Prinz Lwow sollte als Vorsitzender des Ministerrats fungieren. Aussenminister wurde der Führer der Kadettenpartei, Miljukow, Finanzminister der wohlhabende Zuckerfabrikant und Landbesitzer Tereschtschenko. Handel und Industrie lagen in den Händen des Textilmanufakturisten Konowalow. Krieg und Marine gingen an den Oktobristen Gutschkow. Das Landwirtschaftsressort bekam der Kadett Schingarew. Dieser reaktionären Bande von Gaunern übergab der Sowjet die Regierung Russlands!
Die kleinbürgerlichen Führungskräfte der Sowjets hatten kein Vertrauen in die Fähigkeit der Massen, die Revolution weiterzutreiben. Sie waren zutiefst davon überzeugt, dass die Bourgeoisie die einzige Klasse sei, die qualifiziert wäre zu regieren. So überreichten sie zum erstbesten Zeitpunkt ängstlich die Macht, die von den ArbeiterInnen und Soldaten erobert worden war, den «aufgeklärten» VertreterInnen des Kapitals. Menschewiki und SozialrevolutionärInnen bemühten sich, die Massen davon zu überzeugen, dass ein Regieren ohne die KapitalistInnen einer «Zerstörung der Volksrevolution» (!) gleichkäme (Iswestija 2/3/17). Sie blieben hartnäckig bei der Behauptung, dass die Arbeiterklasse zu schwach dafür wäre, die Revolution durchzuführen und sich nicht «isolieren» dürfe. Potresow legte die menschewistische Position unverblümt offen, als er sagte: «Im Moment der bürgerlichen Revolution ist die Klasse, die für die Lösung nationaler Probleme sozial und psychologisch am besten vorbereitet ist, die Bourgeoisie.» Am 7. März schrieb die menschewistische Zeitung Rabochaya Gazeta: «Mitglieder der Provisorischen Regierung! Das Proletariat und die Armee erwarten eure Befehle, um die Revolution zu konsolidieren und Russland zu einer Demokratie zu machen.» (7)
Solche Gedanken lagen jedoch den bürgerlichen Spitzen der Provisorischen Regierung fern. Wie wir sehen können, war ihr erstes Bestreben die Zuflucht zur Repression, welche ihnen aber nun nicht mehr möglich war. Daher waren sie gezwungen, zu taktieren und auf Zeit zu spielen. Also «gaben» sie den Massen nur das, was die ArbeiterInnen und Soldaten sich bereits im Kampf erobert hatten. Das einzige Ziel der Liberalen war, die Revolution aufzuhalten, indem sie kosmetische Veränderungen von oben einführten, die soviel wie möglich vom alten Regime aufrecht erhielten. Dieses alte Regime war ernsthaft untergraben, zerbeult und zerrüttet, existierte aber immer noch in Form der wirtschaftlichen Macht der Grossgrundbesitzenden, Bankiers und KapitalistInnen, der riesigen Bürokratie, der Offizierskaste, der Duma und – der Monarchie. Die liberale Bourgeoisie hatte solche Angst vor der Revolution, dass sie sich mit aller Kraft an die Monarchie als stärkstes Bollwerk des Eigentums und der Ordnung klammerte. Um sie vor dem Untergang zu bewahren, taktierte die Provisorische Regierung dahingehend, Nikolaus II durch seinen Sohn unter der Regentschaft seines Bruders Prinz Mikhail auszutauschen, in der Hoffnung, einen Romanow durch einen anderen ersetzen zu können. In dieser grotesken Komödie der Irrungen übergaben die Werktätigen, die ihr Blut vergossen hatten, um die Romanows zu stürzen, die Macht an ihre führenden VertreterInnen, diese reichten sie an die bürgerlichen Liberalen weiter, welche sie wiederum den Romanows überlassen wollten!
All das lag nicht an den ArbeiterInnen und Soldaten, insbesondere den AktivistInnen, deren Haltung gegenüber der bürgerlichen Politik der Provisorischen Regierung von einem nagenden Gefühl des Misstrauens geprägt war. Doch sie vertrauten ihrer Führung, den Menschewiki und den SozialrevolutionärInnen, den «moderaten SozialistInnen», welche die Mehrheit des Sowjetexekutivkomitees bildeten und ihnen dauernd sagten, dass sie geduldig sein müssten, dass die erste Aufgabe in der Konsolidierung der Demokratie und der Vorbereitung der Konstituierenden Versammlung läge usw. Die Massen hörten und überlegten – ‚vielleicht sollten wir abwarten und mal schauen, unsere FührerInnen wissen es am besten.’ Doch ihr Misstrauen sollte mit jedem Tag weiter wachsen.
Die Bolschewiki hatten seit 1914 viel Boden verloren und wurden von der Repression schwer getroffen. Folgende Zahlen aus der Istorija skizzieren die Stärke der Partei im Februar 1917:
Petrograd ca. 2.000
Moskau ca. 600
Ural 500
Jekaterinoslaw 400
Niznij-Nowgorod 300
Gebiet Rostow 170
Tver zwischen 120 und 150
Iwanowo-Woznesensk zwischen 150 und 200
Charkow 200
Samara 150
Kiew 200
Makeyevsk zwischen 180 und 200
Wenn wir im Hinterkopf behalten, dass wir über ein riesiges Land mit einer Bevölkerung von etwa 150 Millionen sprechen, sehen wir, dass zu Beginn der Revolution die Partei zahlenmässig nur eine sehr kleine Minderheit vertrat. Aber im Gegenzug müssen wir andere Faktoren in Betracht ziehen. Die Qualität bolschewistischer Kader war zweifelsohne jener anderer Strömungen überlegen. Die Bolschewiki setzten sich hauptsächlich aus ArbeiterInnen zusammen, die sowohl politisch besser geschult als auch disziplinierter waren als die Menschewiki und SozialrevolutionärInnen. Viele ihrer AktivistInnen waren an ihren Arbeitsplätzen so etwas wie «geborene FührerInnen», nämlich die bewusstesten und militantesten Elemente, die das Vertrauen ihrer KollegInnen genossen. JedeR von ihnen stand mit vielen anderen in Kontakt. Ausserdem konnten sie sich, besonders in den grösseren Industriestädten, auf die bolschewistische Tradition aus den Jahren 1912-14 berufen.
Organisatorisch befanden sich die Menschewiki und die SozialrevolutionärInnen in einem viel schlimmeren Zustand. Die Bolschewiki waren den anderen Strömungen gegenüber prizipiell im Vorteil. Suchanow, der schliesslich Menschewik war, bezeichnet sie als die stärkste proletarische Tendenz im Petrograder Februar. Hingegen muss auch erwähnt werden, dass die Qualität der bolschewistischen Führung in Petrograd zu diesem Zeitpunkt zu wünschen übrig liess. Im Februar waren Schljapnikow, Saluzki und der junge Student Molotow die führenden Kader.
Im ersten Band seiner informativen und aus der Nähe beobachteten Geschichte der Revolution sagt der linke Menschewik Suchanow, der auch die Versammlungen besuchte, über die bolschewistische Führung in Petrograd, dass «ihre Plattfüssigkeit oder treffender ausgedrückt, ihre Unfähigkeit, einen Zugang zum politischen Problem zu finden und sie zu formulieren, eine deprimierende Wirkung auf uns hatte.»
Suchanow spricht über Schljapnikow folgende Bewertung aus: «Ein Parteipatriot und, man könnte sagen, ein Fanatiker, bereit, die gesamte Revolution aus dem Blickwinkel des Erfolgs für die bolschewistische Partei zu beurteilen, ein erfahrener Verschwörer, ein exzellenter technischer Organisator und ein gutes praktisches Mitglied der Bewegung, aber definitiv kein Politiker, der fähig wäre, die Essenz der gegebenen Umstände zu begreifen und zu verallgemeinern. Wenn ein politischer Gedanke präsent war, dann war es das alte Muster allgemeiner Parteiresolutionen, aber dieser verantwortliche Führer der einflussreichsten Arbeiterorganisation besass weder einen unabhängigen Gedanken noch die Fähigkeit oder den Wunsch, das Wesentliche aus dem Moment in aller Konkretheit herauszuarbeiten.» (8)
Der Menschewik Suchanow unterschätzt zweifellos die Qualitäten Schljapnikows, die hier in einseitiger Weise präsentiert werden. Nichtsdestotrotz liegt ein Körnchen Wahrheit in diesem Porträt, das viele der mentalen Eigenschaften eines typischen bolschewistischen «Komitee-Mannes» zusammenfasst. Wie schon 1905 hatten die Bolschewiki rasch die Orientierung verloren, als sie sich mit einer neuen Situation konfrontiert sahen und blieben hinter der Bewegung zurück, bis Lenin die Partei mit der Perspektive einer neuen Revolution ausstattete. Diese Tatsache wurde von der offiziellen Geschichtsschreibung in der Sowjetunion lang verheimlicht. Beispielsweise wird behauptet, dass die Partei am 26. Februar ein Flugblatt herausgegeben hätte. Aber neuere Forschungen ergaben, dass das Petrograder Komitee sein erstes Flugblatt erst am 27. Februar veröffentlicht hatte. Da befand sich Petrograd allerdings schon im Generalstreik und die Ausbreitung der Meuterei in der Armee und der Marine hatte das Schicksal des Regimes besiegelt. Mit anderen Worten: Die bolschewistische Führung in Petrograd führte die Bewegung nicht an, sie folgte ihr.
Wie reagierte die Partei auf die Februarereignisse? Laut der voluminösen «Geschichte der KpdSU» (die unter Chruschtschow produziert wurde), versammelte sich am Morgen des 25. Februar das bolschewistische Büro und entschied, energische Schritte zu unternehmen, auf dass sich die Bewegung im ganzen Land ausbreite. Doch andere Berichte zeigen ein etwas abweichendes Bild. Die Februarrevolution überraschte nicht nur Lenin, sondern die gesamte Partei. Zu Beginn der Revolution war die Partei in einer schwachen Position. So schwach, dass – wie Marcel Liebman es in seiner scharfsinnigen Studie herauszeichnet – das Petrograder Komitee im Januar 1917 nicht einmal dazu imstande war, ein Flugblatt anlässlich des Jahrestags des Blutigen Sonntag (am 22. Januar 1905 ziehen 10.000ende ArbeiterInnen, angeführt vom Priester Gapon zum Zar um eine Bittschrift zu übergeben; sie werden blutig niedergeschossen. Dieses Ereignis ist der Beginn der ersten russischen Revolution und markiert das politische Erwachen der russischen Arbeiterklasse, Anm.) zu produzieren.
Doch binnen weniger Monate war die Mitgliedschaft der Bolschewiki um mehr als das Zehnfache gewachsen, sie waren zur entscheidenden Kraft in der Arbeiterklasse geworden. Die Entwicklung der bolschewistischen Partei im Jahre 1917 zeigt die spektakulärste Transformation in der gesamten Geschichte politischer Parteien. In der Initialphase der Revolution zeigte sie sich jedoch schmerzlich unvorbereitet – sie wurde vom Aufwallen der Massen kalt erwischt. «Ohne eine energische und klarsichtige Führung» schrieb Marcel Liebman, «reagierten die Bolschewiki der Hauptstadt auf die ersten Arbeiterdemonstrationen mit grosser Zurückhaltung und sogar mit einem Misstrauen, das an ihre Haltung im Januar 1905 erinnert. Sie waren irgendwie isoliert in den Fabriken, in denen sie arbeiteten.»
Am Anfang der Revolution stellten sie sich selbst kein gutes Zeugnis aus. Die Bolschewiki waren dermassen ausser Schritt und Tritt, dass sie in Petrograd zuerst versuchten, die Bewegung zum Frauentag in geregelten Bahnen zu halten. V.N.Kajurow, ein Mitglied des Komitees im Kernbezirk Wyborg, erinnert sich, wie er in einer Versammlung militanter Arbeiterinnen am 22. Februar intervenierte: «Ich erklärte die Bedeutung des Frauentags und der Frauenbewegung im Allgemeinen und als ich über den gegenwärtigen Moment sprechen musste, bemühte ich mich zuerst und vor allem, die Frauen dazu zu bringen, von jedweder Demonstration Abstand zu nehmen und nur auf Anweisung des Parteikomitees zu handeln.» Aber die Arbeiterinnen hatten keine Lust zu warten. Kajurow erfuhr mit «Erstaunen» und «Entrüstung», dass die Parteilosungen ignoriert wurden. «Ich war durch das Verhalten der Streikenden verärgert», schrieb er. «Zuerst hatten sie ganz offen die Entscheidungen, die das Bezirksparteikomitee getroffen hatte, ignoriert und dann meine. Am Abend zuvor hatte ich die Arbeiterinnen aufgerufen, Zurückhaltung und Disziplin zu zeigen – und jetzt aus heiterem Himmel gab es diesen Streik.» (9)
In seiner Geschichte stellte Trotzki fest: «Der erste Monat der Revolution war für den Bolschewismus eine Zeit der Fassungslosigkeit und Schwankungen.» (10) Es gibt genügend Hinweise, die diese Behauptung belegen. Die politisch erfahrensten und reifsten Führungskräfte waren im Gefängnis, in Sibirien oder im Ausland. Die Petrograder Leitung war, wie wir sahen, schlecht vorbereitet auf die Aufgaben, die sich vor ihr abzeichneten. Das Russische Büro bestand aus Schljapnikow, Molotow und Saluzki, die in Briefkontakt mit Lenin standen. Kajurow aus dem Bezirkskomitee Wyborg erinnert sich, dass sie «absolut keine Anleitung von den Führungsorganen der Partei erhielten. Das Petrograder Komitee war verhaftet und Genosse Schljapnikow, der das Zentralkomitee repräsentierte, war unfähig, ihnen Richtlinien für weitere Aktivitäten zu erteilen.» (11)
Allmählich erholten sich die Bolschewiki in Petrograd von ihrer ursprünglichen Desorientierung, sie begannen den Streik zu unterstützen und arbeiteten an seiner Ausweitung. Immer mehr Werktätige schlossen sich der Streikbewegung an. Am 25. Februar waren in Petrograd 300.000 ArbeiterInnen in den Streik getreten. Die Streikwelle nahm nun einen allgemeinen politischen Charakter an: Straßenbahnen, kleine Werkstätten, Druckereien, Geschäfte, alle wurden in die von den Arbeiterinnen begonnene Kampfhandlung miteinbezogen. Flugblätter mit den Losungen «Jeder zum Kampf! Auf die Straße!», «Nieder mit der zaristischen Monarchie!», «Nieder mit dem Krieg!» kursierten in der ganzen Stadt.
Am Tag, als das Feuer eröffnet wurde, wurden drei Mitglieder des bolschewistischen Zentralkomitees inhaftiert. Das Lokalkomitee Wyborg übernahm nun die Führungsfunktion in Petrograd. Ab dem Morgen des 27. Februar wurden alle Kräfte der Petrograder Organisation in die Fabriken und Kasernen geschickt. Arsenale wurden gestürmt. Der Bolschewik V.Alexejew organisierte die jungen ArbeiterInnen des Putilow-Werks in einer Kampfgruppe, um die Polizei anzugreifen und ihre Waffen zu übernehmen. Am Abend des 27. traf sich die bolschewistische Führung, hauptsächlich bestehend aus dem Komitee Wyborg, um darüber zu diskutieren, welche Art der Aktion zur Verwandlung des Generalstreiks in einen bewaffneten Aufstand nötig wäre. Der Befehl zur Vergeschwisterung mit den Truppen und zur Entwaffnung der Polizei, zum Überfall der Waffenlager und Arsenale und zur Bewaffnung der Werktätigen wurde ausgegeben. Die ArbeiterInnen mussten zu diesen Schritten alles andere als gedrängt werden!
Nachdem sie sich einmal von ihrer ursprünglichen Unvorbereitetheit erholt hatten, nahmen die Petrograder Bolschewiki einen offensiveren Standpunkt ein. Sie verurteilten Verhandlungen mit den bürgerlichen Liberalen, übten eine vernichtende Kritik an jeder Position des Klassenkompromisses und riefen die Arbeitenden zur unmittelbaren Aktion auf. Die Werktätigen gingen in die Kasernen, vergeschwisterten sich mit den Truppen und wurden überall mit begeisterter Solidarität empfangen. In den Truppen, von denen einige ehemalige Putilow-Beschäftigte waren, herrschte eine revolutionäre Stimmung. Ein Regiment nach dem anderen lief über. Dasselbe ereignete sich in Moskau. Gemeinsam mit den ArbeiterInnen besetzten die aufständischen Truppen die Hauptkaserne in Petrograd. 40.000 Gewehre und 30.000 Revolver standen den Lohnabhängigen sofort zur Verfügung. Das Überlaufen der Armee war kein Zufall, sondern Ergebnis jahrelanger Erfahrung im Schützengraben und darüber hinaus des angesammelten Unmuts der leidenden russischen Bauernschaft, der durch den Krieg eine bewusste Form annahm. Doch die Rolle der zahllosen einzelnen und namenlosen HeldInnen kann nicht unterschätzt werden.
Bürgerliche HistorikerInnen verfolgen üblicherweise die Linie, dass, während die Oktoberrevolution ein blosser Staatsstreich war, die Februarrevolution eine schlichte spontane Bewegung der Massen darstellte. Die innewohnende Schlussfolgerung ist, dass Ersteres etwas Böses war, die Verschwörung einer kleinen Minderheit, die unweigerlich zur Diktatur führen musste, während Zweiteres … nun ja, als Revolution sollte man es nicht billigen, aber das zaristische Regime war wirklich nicht sehr o.k. und immerhin repräsentierte sie eine demokratische Bewegung – eine Bewegung der Mehrheit. Aber diese Sichtweise ist falsch.
Die Oktoberrevolution war weder ein Staatsstreich noch eine Verschwörung, sondern der organisierte Ausdruck des Willens der überwältigenden Mehrheit, die neun Monate bemüht war, durch die Sowjetmacht eine Lösung für ihre Probleme zu finden. Andererseits ist die Beschreibung der Februarrevolution als bloss «spontane» Angelegenheit genauso einseitig und oberflächlich. Dies kann man nur in dem Sinne behaupten, dass sie von keiner Partei organisiert worden ist. Aber das greift zu kurz. Es vermittelt den Eindruck eines blinden Aufstands, wie eine in Panik geratene Herde von Rindern, die ohne Sinn und Verstand losbricht. Der Gebrauch des Wortes «spontan» in diesem Zusammenhang erläutert nichts und ist nur ein Deckmantel für den Erklärungsnotstand – oder noch schlimmer, eine Verachtung für die «ignoranten Massen», deren Aktionen einem blossen Rudelinstinkt zugeschrieben werden.
Von der bolschewistischen Partei kann allerdings keinesfalls gesagt werden, dass sie die Februarrevolution angeführt hätte. Aber jemand führte sie an. Jemand ergriff die Initiative, rief zu Streiks auf, organisierte die Demonstrationen. JedeR Arbeitende weiss, dass sogar ein Streik von ein paar Stunden eine Führung hat. Irgendjemand ergreift immer die Initiative. Irgendjemand muss durch die Tür zum Chefbüro gehen, um die Forderungen der Werktätigen vorzulegen. Diese Person wird von den KollegInnen gewählt. Und diese Wahl ist nicht «spontan» (im Sinn von zufällig). Die ArbeiterInnen wählen als ihre Vertretung unausweichlich die Frau / den Mann mit dem höchsten Bewusstsein, dem grössten Mut, dem meisten Engagement in ihrer Abteilung. Diese Person hat eine Geschichte, die nicht erst gestern begonnen hat. Er oder sie ist den Beschäftigten bekannt als jemand, der/die weiss, wovon alle reden. Das sind die geborenen Führungskräfte der Arbeiterklasse. Als Faustregel, nicht immer, sind sie meist in der Gewerkschaft und tendenziell in politisch linken Parteien organisiert. In Falle Russlands waren sie hauptsächlich Bolschewiki.
Obwohl sie immer noch numerisch eine kleine Organisation waren, hatten die Bolschewiki zu dieser Zeit einige hundert Mitglieder in den Schlüsselbetrieben: etwa 75-80 in der Old Lessner Fabrik, um die 30 in den Werften Russo Baltic und Izhorski und kleinere Gruppen in anderen Werken. In den Putilow-Werken mit seinen 26.000 Beschäftigten gab es 150 Bolschewiki. Sie waren immer noch eine kleine Anzahl, aber mit ihrer revolutionären, kompromisslosen Klassenpolitik spielten die einzelnen Bolschewiki zweifellos eine in Relation zu ihrer numerischen Stärke überproportionale Rolle in den Februarereignissen. Ohne auf Anleitung der Partei zu warten, begaben sich die bolschewistischen ArbeiterInnen in den Fabriken und Kasernen in Aktion und verliehen den Streikenden und DemonstrantInnen die entscheidende Führung. Ihre Erfahrung in der politischen Aktivität verschaffte ihnen ein politisches Kapital, das sie zum Kopf der sie umgebenden unerfahrenen Massen machte.
Es kann keinen Zweifel daran geben, dass die einzelnen bolschewistischen Werktätigen als die am stärksten organisierten und militantesten Elemente in den Fabriken eine Schlüsselrolle spielten. Sie verliehen den Losungen der Bewegung einen revolutionären klassenspezifischen Inhalt und eine organisierte Form ohne auf Anweisungen der bolschewistischen Führung zu warten. Sie hatten nicht viele theoretische Werke gelesen und erinnerten sich meist bloss an die grundlegenden Parteilosungen zum Krieg, zur Landfrage, zur Republik und zum Acht-Stunden-Tag. Aber dieser beschränkte Vorrat an Ideen, verbunden mit einem grundlegenden Klasseninstinkt und einem revolutionären Geist, war genug, um ihnen eine kolossale Überlegenheit zu verleihen und sie zu GigantInnen an ihren Arbeitsplätzen und auf den Strassen zu machen. Die ParteiagitatorInnen kamen nun voll zur Geltung.
Diese lokalen Führungsleute waren imstande, die ArbeiterInnen zum Sturz des Zarismus zu führen, aber auch nicht mehr als das. Um weiter zu gehen, hätten sie eine deutliche und klare Perspektive gebraucht. Doch die bolschewistische Parteiführung in Petrograd, die sich an die unpassende und veraltete Losung der «demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft» klammerte, hatte keine Perspektive bezüglich der Machtübernahme durch die Arbeiterklasse. Nach dem Sturz des Zarismus blieben sie daher verwirrt und orientierungslos zurück. So verloren die bolschewistischen Kader, während sie im Februaraufstand weitgehend eine Führungsrolle innehatten, in Petrograd als Ergebnis ihres Zögerns die Initiative. Wie Lenin so oft wiederholt hat, erwiesen sich die Werktätigen und die Massen als weit revolutionärer als die revolutionärste Partei.
Wie in den Fabriken, so waren auch in den Kasernen viele der «geborenen Führungskräfte» unter den Soldaten Bolschewiki, die nun in ihrem Element waren, so wie die ehemaligen Putilow-Beschäftigten, die sich während des Kriegs der Armee angeschlossen hatten. Die entscheidenden Teile der Avantgarde standen unter dem Einfluss der Bolschewiki. Die Jahre waren nicht spurlos an ihnen vorbeigegangen. Viele von ihnen waren alte Bolschewiki, ausgebildet in der revolutionären Schule der Ereignisse von 1905 und 1912-14. Die Massen waren dennoch eine andere Angelegenheit. Der Krieg hatte die Zusammensetzung der Fabrikbelegschaften verändert, indem eine grosse Anzahl früher rückständiger, unorganisierter und unerfahrener Schichten aufgenommen worden war. Um dieser schwerfälligen, viele Millionen zählenden Menge zu ermöglichen, die notwendigen Schlüsse zu ziehen, war eine weitere Erfahrung nötig. Es ist völlig natürlich, dass Menschen den Weg des geringsten Widerstands gehen, auch in einer Revolution. Aus diesem Grund hängen die Massen hartnäckig an ihren traditionellen Organisationen. Sie denken sehr ökonomisch: warum ein altes Werkzeug entfernen, wenn es vielleicht noch eingesetzt werden kann?
Der einzige Unterschied im Russland von 1917 war, dass die breite Basis weder eine klar anerkannte Partei noch eine grosse Gewerkschaft hatte, sondern nur eine vage Idee von den «SozialdemokratInnen». Die fortschrittlichsten ArbeiterInnen waren wohl Bolschewiki und hatten in der Zeit unmittelbar vor dem Krieg die Mehrheit gebildet – zumindest unter den organisierten Werktätigen. Doch die neu zu politischem Leben erwachten Massen konnten nicht sofort zwischen dem linken und dem rechten Flügel unterscheiden. Sie waren nicht unmittelbar von den Feinheiten programmatischer Details überzeugt, sondern von einem allgemeinen Wunsch nach Veränderung motiviert. Sie waren dazu imstande, eine Revolution zu vollführen, aber nicht, zu verhindern, dass ihnen die Macht wieder aus ihren Händen entglitt. Ihre Aktionen waren ihrem Bewusstsein weit voraus. Es brauchte noch die Erfahrung grosser Ereignisse und die geduldige Bewusstseinsarbeit der Bolschewiki, damit die Massen das Niveau erreichten, das von der realen Situation gefordert war.
Das erklärt, warum die Demarkationslinien, welche die Bolschewiki und die Menschewiki trennten, nicht so klar waren. Plötzlich erschienen die Unterschiede zwischen ihnen weniger wichtig. Verteidigten nicht beide eine bürgerlich demokratische Republik? In jedem Fall gab es ein starkes Verlangen nach Einheit als Ergebnis der Revolution selbst. Die menschewistischen ArbeiterInnen, die von der revolutionären Welle vorangetrieben wurden, kämpften Seite an Seite mit den Bolschewiki. Die Idee der Einheit in der Aktion unter allen revolutionären Gruppen war zu dieser Zeit weit verbreitet. Auf der Ebene der Massen standen Werktätige der Bolschewiki, Menschewiki und auch der SozialrevolutionärInnen im Kampf problemlos Seite an Seite. In vielen Gebieten fusionierten sozialdemokratische Gruppen. Diese Tatsache ist sehr bedeutsam. Sie zeigt, wie hartnäckig die Idee der Einheit in der Arbeiterklasse und auch wie komplex die Aufgabe des Aufbaus einer revolutionären Partei ist.
Obwohl die Bolschewiki 1912-14 über vier Fünftel der organisierten Beschäftigten Russlands gewonnen und obwohl während des Kriegs die Menschewiki kaum eine Rolle gespielt hatten, waren nun in den Tagen von Februar bis April die zwei Fraktionen ausser in Moskau und in Petrograd in jeder Provinz wieder zu einer einzigen Organisation zusammengeschmolzen. In vielen Gebieten blieben sie bis zur Oktoberrevolution vereint. Das war die Kraft des Banners der alten traditionellen Partei, der RSDLP (Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei, Anm.), trotz allem, was davor passiert war. Sogar im Russland von 1917 war Lenins Kampf, die authentische revolutionäre Linie herauszustreichen, eine schwierige und langwierige Angelegenheit. In Russland wie in jedem anderen Land fielen die Massenkräfte der Bolschewiki und die spätere Kommunistische Internationale nicht vom Himmel. Sie entstanden im Kampf widersprüchlicher Tendenzen innerhalb der traditionellen Organisationen des Proletariats (der Sozialdemokratie), der erst nach einer langen Auseinandersetzung mit vielen Wechselfällen in die Spaltung und Gründung einer neuen Partei mündete. Dieser Prozess, dessen Verlauf wir versucht haben, in der vorliegenden Arbeit nachzuzeichnen, endete erst im Oktober 1917, als der revolutionäre Flügel schliesslich eine entscheidende Mehrheit in den Sowjets gewann und die Arbeiterklasse zur Machtergreifung führte.
Es gehört zu den Wesenszügen einer Revolution, dass sie die Gesellschaft bis in ihre Tiefen aufwühlt und die Millionen politisch rückständiger und untätiger Massen zu politischem Leben erweckt. Vor allem in einem rückständigen, vorwiegend bäuerlichen Land wie Russland bedeutet dies das Erwachen der Bauernschaft und anderer Schichten des Kleinbürgertums in Stadt und Land. Der Druck der kleinbürgerlichen Massen spielte eine unverhältnismässige Rolle in den frühen Stadien der Revolution. Das fand auch seinen Ausdruck im Wahlsystem der Sowjets. Ursprünglich sollten die ArbeiterInnen in Petrograd Anspruch auf eineN RepräsentantIn für je 1.000 Wählende haben, bei den Soldaten sollte jede Kompanie (russisch rota) ebenfalls einen Vertreter entsenden. Dieses Wahlsystem verlieh den Soldaten und damit den Bauern ein überwältigendes Übergewicht über die Deputierten der Arbeitenden. Es gab 2.000 Soldatenvertreter gegenüber 800 VertreterInnen von Werktätigen. Zu Beginn der Revolution waren die Bolschewiki in dieser Menge politisch ungebildeter und oft analphabetischer Angehöriger aus der Bauernschaft untergegangen. Unter dem Eindruck kleinbürgerlicher Vorstellungen waren sie versucht, als ihre RepräsentantInnen «Intellektuelle» und «Gentlemen, die sich auszudrücken verstehen» zu wählen. Diese entstammten überwiegend der demokratischen Mittelklasse (viele davon Unteroffiziere in der Armee), die sich stark von den gemässigt sozialistischen und reformistischen Parteien angezogen fühlten – den Menschewiki und SozialrevolutionärInnen.
Die bekanntesten menschewistischen Führungskräfte – Dan, Tscheidse, Zereteli – waren Vaterlandsverteidiger, doch es gab eine kleine Gruppe menschewistischer InternationalistInnen – Martow, Martinow und andere – , die dem Krieg ablehnend gegenüberstanden. Diese linksreformistischen oder «zentristischen» Elemente (zentristisch in dem Sinn, als sie zwischen Marxismus und Reformismus standen) hatten sich ursprünglich nach links bewegt, aber wollten typischerweise nicht völlig mit den Vaterlandsverteidigern brechen und schwenkten somit in der Folge nach rechts. Die Linie der Menschewiki 1917 war im Gegensatz zu 1905 von ihrem rechten Flügel bestimmt. Die «Linken» spielten keine unabhängige Rolle. Sie konnten es auch nicht. Die einzige konsistente revolutionäre Strömung war die bolschewistische Partei, die, wie Lenin später beobachtete, die besten Elemente in der russischen Arbeiterbewegung anzog. Die besten der linken ReformistInnen fanden so oder so ihren Weg in die Reihen der bolschewistischen Partei. Der Rest verschwand spurlos in der Versenkung.
Die menschewistischen und sozialrevolutionären Kader, die den Sowjet zu Beginn dominierten, waren in Wirklichkeit selbsternannt. Doch sie hatten gegenüber den Bolschewiki eine Reihe von Vorteilen. In ihren Reihen befanden sich die «grossen Namen» aus der Duma-Fraktion, die den Massen aus der legalen Presse während der Kriegsjahre bekannt waren. Sie boten den politisch ungebildeten, von demokratischen Illusionen ergriffenen ArbeiterInnen und Bauern, die nun auf die Bühne traten, einen scheinbar «leichten Ausweg». Diese kleinbürgerlichen Führungspersönlichkeiten waren in ihrem Innersten von der Revolution verängstigt und von Beginn an darauf bedacht, die Macht an die «natürliche» Elite der Gesellschaft weiterzureichen – die Bourgeoisie. (B)
Es gab weitere Gründe, warum die Menschewiki und die SozialrevolutionärInnen nach dem Februar in den Vordergrund traten. Das Petrograder Proletariat, das 1912-1916 solid bolschewistisch war, war durch den Krieg ernsthaft ausgedünnt. Die neuen Schichten, die in die Fabriken kamen, hatten nicht dasselbe Niveau an Bewusstsein oder Tradition wie die VeteranInnen von 1905, die sie ersetzten. Trotzki erklärt: «Die Hegemonie der unteren Mittelklasseintellektuellen war der grundlegende Ausdruck der Tatsache, dass die Bauernschaft, die plötzlich über die Maschinerie der Armee dazu aufgerufen war, im organisierten politischen Leben teilzunehmen, durch ihr blosses numerisches Gewicht das damalige Proletariat zur Seite schob und überrannte. Mehr noch, insofern die Mittelklasseführer durch die mächtigen Massen der Armee in schwindelerregende Höhen gehoben worden waren, konnte die Arbeiterklasse mit Ausnahme der fortschrittlichen Teile nicht mit einem gewissen politischen Respekt für sie durchdringen und versuchen, einen politischen Kontakt mit ihnen zu erhalten, aus Angst, sich von der Bauernschaft getrennt wiederzufinden.
Und das war eine sehr ernste Angelegenheit, da sich die alte Generation noch an die Lektion von 1905 erinnerte, als das Proletariat zermalmt wurde, nur weil die grossen bäuerlichen Reserven nicht rechtzeitig zu den entscheidenden Schlachten erschienen waren. Daher zeigten sich in der ersten Phase der neuen Revolution auch die proletarischen Massen höchst zugänglich für die politische Ideologie der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki – besonders, als die Revolution die bislang schlummernden rückständigen Massen der Arbeiter erweckt hatte und so den hitzigen Radikalismus der Intellektuellen zu einer Art Vorbereitungskurs für sie machte.» (12)
Die führenden Figuren im Petrograder Sowjet – Tscheidse, Kerenski, der Vorsitzende des Sowjets, und Skobelew – waren alle Menschewiki und Vaterlandsverteidiger. Im Exekutivkomitee des Sowjets gab es 12 weitere Personen, aber nur zwei Bolschewiki: Schljapnikow und Saluzki. Auf Vorschlag der Bolschewiki wurde das Exekutivkomitee verbreitert, um drei RepräsentantInnen jeder Partei zu beinhalten: Menschewiki, Bolschewiki und SozialrevolutionärInnen. So wurden Molotow und K.I.Schutko für die Bolschewiki und P.I.Stuchka für die lettischen SozialdemokratInnen hinzugefügt. Die Bolschewiki hatten am 9. März nicht mehr als 40 VertreterInnen im Sowjet. Die Armee war ebenfalls im Sowjet vertreten. Soldatenabgeordnete wurden in das Taurische Palais gesandt, darunter Männer von der Front. Das bedeutete de facto, dass erstmals Repräsentanten der Bauernschaft neben ihren proletarischen Geschwistern sassen. Das war tatsächlich die praktische Umsetzung der revolutionären Einheit von Proletariat und Bauernschaft.
Der Sowjet gab seine eigene Publikation heraus, Iswestija («Die Nachrichten»). Die erste Nummer erschien am 28. Februar unter der Redaktion von Y.M.Steklow. Hier war endlich das Parlament des revolutionären bewaffneten Volks! Keine Macht der Erde konnte es davon abhalten, das Land und die Fabriken zu übernehmen und eine wahrhaft demokratische Republik der Werktätigen zu errichten. Es genügte, dass es das erreichen wollte. Es gab nur eine Voraussetzung: die ArbeiterInnen und Bauern mussten sich ihrer Macht bewusst sein. Doch dieses Bewusstsein fehlte noch. So wurde die Abschaffung der «Doppelherrschaft» eingeleitet.
Die Gründe für das Regime der Doppelherrschaft wurden von Trotzki erklärt: «Die ‚Einheitsfront’ der Menschewiki und Sozialrevolutionäre dominierte die Sowjets und hielt in Wirklichkeit die Macht in Händen. Die Bourgeoisie war politisch völlig gelähmt, als zehn Millionen Soldaten, erschöpft vom Krieg, voll bewaffnet auf Seiten der Arbeiter und Bauern standen. Doch was die Führer der ‚Einheitsfront’ am meisten fürchteten, war, die Bourgeoisie zu verschrecken, sie ins Lager der Reaktion zu drängen. Die ‚Einheitsfront’ wagte weder, den imperialistischen Krieg anzurühren, noch die Banken, die feudalen Landbesitzverhältnisse, die Geschäfte und Fabriken. Sie trat auf der Stelle und drosch allgemeine Phrasen, während die Massen die Geduld verloren. Mehr noch: die Menschewiki und Sozialrevolutionäre reichten die Macht direkt an die Kadetten weiter, die von den Arbeitern zurückgewiesen und verachtet wurden.» (13)
Die Menschewiki und die SozialrevolutionärInnen hingen am Rockzipfel der bürgerlichen Liberalen. Letztere hielten sich an dem an, was von der alten Ordnung übrig war. Die ArbeiterInnen und Bauern, erst kürzlich zu politischem Leben erwacht, stolperten herum, um ihren Weg zu finden und hatten noch nicht die Erfahrung und das Selbstvertrauen, sich auf ihre eigene Stärke zu verlassen. Lenin begriff sofort die Bedeutung des Sowjet als eine «wahre Volksregierung». Aber dieses Konzept war für die Führenden aller Parteien einschliesslich der Bolschewiki (jedenfalls zu Beginn) ein Buch mit sieben Siegeln. Das erste Anliegen der bürgerlichen Liberalen war, die «Ordnung» wieder herzustellen und «die Dinge der Normalität zuzuführen». Doch die Werktätigen und Soldaten, instinktiv widerspenstig hinsichtlich der Entwaffnung oder eines jeden Rückschritts, nachdem sie so weit gekommen waren, hielten Ausschau nach Anleitung und Führung durch den Sowjet. Zunehmend misstrauisch kam eine Delegation von Soldaten und Seeleuten in das Taurische Palais, um ihre Forderungen dem Sowjet vorzulegen. Zwei Mitglieder dieser Delegation (A.M.Paderin und A.D.Sadowski) waren Bolschewiki.
Die Schwankungen der bolschewistischen Führung in Petrograd spiegelte sich bei den bolschewistischen ArbeiterInnen an der Basis, die mit der Stimmung in den Fabriken und Kasernen besser vertraut waren, nicht wider. Die Bolschewiki im Bezirk Wyborg verlangten, dass der Sowjet die Macht übernehmen sollte. Natürlich lehnten die Vorsitzenden des Sowjets ab mit der Begründung, dass es sich um eine „bürgerliche“ Revolution handle und die Arbeiterklasse zur Machtübernahme nicht bereit wäre. Die bürgerlichen PolitikerInnen zielten auf eine Enthauptung der Revolution ab. Die offenen VaterlandsverteidigerInnen befürworteten den Eintritt der Führung des Sowjet in eine Koalition mit der Bourgeoisie. Die verschämteren Vaterlandsverteidiger (Tscheidse, Suchanow, Steklow) waren gegen diese Koalition, aber auch nicht für die Machtübernahme. Stattdessen sollte der Sowjet die bürgerliche Regierung von aussen kontrollieren. Dieser Versuch, Wasser und Feuer zu kombinieren, nahm die später angenommene Position der deutschen ZentristInnen, die eine gemischte Verfassung vertraten, in der die ArbeiterInnenräte (Sowjets) Seite an Seite mit der bürgerlichen Regierung existieren sollten, vorweg. Eine ähnliche Linie wurde von Stalin und Kamenew vertreten.
Die menschewistische Politik ging den Massen gegen den Strich, doch die waren politisch unerfahren, naiv und vertrauten ihrer Führung. Die menschewistischen RednerInnen und «grossen Namen» schüchterten sie ein und brachten ihre Zweifel zum Schweigen. Im Namen der «Einheit» und der «Verteidigung der Demokratie», Einheit aller «fortschrittlichen Kräfte» usw. nutzten sie das Argument, dass die Arbeiterklasse die Gesellschaft nicht «allein» verändern könne und die ganze düstere Litanei, die üblicherweise von reformistischen PolitikerInnen heruntergeleiert wird, um die Werktätigen zu überzeugen, dass sie die Gesellschaft nicht verändern könnten und sich mit der Herrschaft des Kapitals abfinden müssten. Sie meinten, der Sowjet würde «auf die bürgerlichen Liberalen Druck ausüben» und so im Interesse der Lohnabhängigen handeln.
Die bolschewistische Leitung in Petrograd erwartete in der Zwischenzeit die Ankunft der Kader aus dem Exil. Schljapnikow gibt zu, dass die Bolschewiki, die all ihre Anstrengungen darauf konzentrierten, die unmittelbare Schlacht um die Macht zu gewinnen, wenig Gedanken darauf verwendeten, was Macht bedeutete und wie die «provisorische revolutionäre Regierung» konkret aussehen sollte. Im Grunde war dies das Ergebnis einer missverstandenen Theorie, die mit der Formel «Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft» überschrieben wird und die die bolschewistische Führung nach dem Sturz des zaristischen Regimes entwaffnete und verwirrte. Sogar die radikalsten unter ihnen hatten keine andere Perspektive als die Konsolidierung eines bürgerlichen Regimes. «Die kommende Revolution muss eine bürgerliche Revolution sein,» schrieb Olminski, und «das war eine verpflichtende Prämisse für jedes Parteimitglied, die offizielle Meinung der Partei, ihre fortwährende und unveränderliche Losung bis zur Februarrevolution 1917 und sogar noch danach.» Dieselbe Idee wurde noch ungeschliffener in der Prawda vom 7. März 1917 ausgedrückt, bevor Stalin und Kamenew ihr eine noch rechtslastigere Färbung verliehen hatten: «Natürlich stellen wir nicht die Frage des Sturzes der Herrschaft des Kapitals, sondern nur des Sturzes der Herrschaft der Autokratie und des Feudalismus.» (14)
Die ArbeiterInnen an der Basis in den Fabriken zeigten im Gegensatz zu den Führungskadern von Anfang an einen gesunden Skeptizismus und Misstrauen gegenüber der Provisorischen Regierung. Ihre Haltung war nicht von alten Losungen, sondern durch ihren revolutionären Klasseninstinkt bestimmt. In jeder Phase standen sie links vom Zentralkomitee, das ohne die mässigende Hand Lenins keine stimmige Position zu entwickeln vermochte. Paradoxerweise erlaubte die anfängliche Abwesenheit der Petrograder Leitung, dass die Stimme der Basis umso deutlicher gehört werden konnte. Nachdem die erste Desorientierung überwunden war, nahmen die Petrograder Bolschewiki eine mehr oder weniger korrekte Position ein. So verfassten sie ein Manifest, das Lenin herzlich begrüsste – An alle Bürger Russlands, mit den Forderungen nach einer demokratischen Republik, dem Acht-Stunden-Tag, der Abschaffung der feudalen Landgüter und eines sofortigen Endes des Plünderungskriegs.
Diese Position hätte die Bolschewiki auf Kollisionskurs mit allen anderen Strömungen des «fortschrittlichen Lagers» gesetzt, welche versuchten, die Revolution zu bremsen, um ein Übereinkommen mit den bürgerlichen Liberalen zu erreichen. Obwohl sich das Manifest nicht direkt auf die Sowjets bezog, stand da: «Die Fabrikarbeiter und auch die revolutionären Soldaten müssen sofort ihre Vertreter für eine provisorische revolutionäre Regierung, die unter dem Schutz der aufständischen revolutionären Bevölkerung und der Armee steht, wählen.» Das Manifest sprach sich auch für die Errichtung von Sowjets aus. «Schreitet jetzt in den Betrieben zu den Wahlen für Fabrikstreikkomitees. Ihre gewählten Vertreter werden einen Sowjet aus Arbeiterabgeordneten bilden, der die organisierende Rolle in der Bewegung übernehmen wird, die eine provisorische revolutionäre Regierung errichten wird.»
Die instinktiv revolutionäre Position der bolschewistischen Basis und ihre oppositionelle Haltung gegenüber einer Politik der Klassenkollaboration zeigte sich im radikalen Standpunkt, den die Prawda in den ersten Tagen der Revolution, vor dem Auftritt von Stalin und Kamenew, einnahm. Die Prawda schrieb am 9. März 1917: «Der Sowjet der Arbeiter- und Soldatenvertreter muss sich sofort dieser provisorischen Regierung der liberalen Bourgeoisie entledigen und sich selbst zur provisorischen revolutionären Regierung erklären.» (15) Die Ankunft der Exilierten änderte jedoch die Dinge unmittelbar zum Schlechteren. Da Lenin in der Schweiz festsass, weil die Alliierten ihm die Erlaubnis verweigerten, über ihr Territorium nach Russland zu reisen, waren die ersten Rückkehrer jene, die nach Sibirien geschickt worden waren – darunter Stalin und Kamenew. Sie brachten die Partei sofort auf einen rechtsgerichteten Kurs, der sich durch eine Annäherung an die Menschewiki auszeichnete.
Die führenden Bolschewiki in Russland schlossen sich trotz aller Warnungen Lenins vor einem Block mit der liberalen Bourgeoisie den Menschewiki und SozialrevolutionärInnen in der Unterstützung der Provisorischen Regierung, die von Prinz Lwow geführt wurde, an. Schon vor der Rückkehr von Stalin und Kamenew gab es grosse Differenzen. Als Molotow im Namen des Büros des Zentralkomitees dem Petrograder Komitee eine Resolution vorlegte, welche die Provisorische Regierung kritisierte, ihre konterrevolutionäre Politik benannte und für ihre Ersetzung durch eine «demokratische Regierung» eintrat, wurde er schroff abgewiesen.
Stattdessen beschloss das Petrograder Komitee eine Resolution, in der sie sich dafür aussprach, von Angriffen auf die Provisorische Regierung Abstand zu nehmen, «so lange ihre Handlungen den Interessen des Proletariats und der breiten demokratischen Masse des Volks entsprechen.» (16) Statt als unabhängige revolutionäre Kraft aufzutreten, agierten die bolschewistischen Leitfiguren in Petrograd als das fünfte Rad am Wagen der «fortschrittlichen Demokraten». Das spiegelte den Druck der kleinbürgerlichen öffentlichen Meinung wider. Die allgemeine Stimmung im Gefolge der Februarrevolution war eine der Euphorie und des allgemeinen Jubels. Der Druck in Richtung einer Einheit aller «fortschrittlichen Kräfte» lastete schwer auf der Führungsschicht des radikalsten Flügels, der sich dauernd gezwungen sah, seine Position zu ändern und mit der Mehrheit eine Linie zu vertreten. Das warf die bolschewistischen Kader aus dem Gleichgewicht und so schwenkten sie in Richtung Annäherung an die Menschewiki. In vielen Gebieten entstanden spontan lokale Komitees der Bolschewiki und Menschewiki.
Trotzki erinnert sich: «Die Grenzen zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki, zwischen den Internationalisten und den Patrioten, fielen. Das ganze Land war von regen, aber kurzsichtigen und geschwätzigen Versöhnungsgedanken überflutet. Das Volk taumelte im Wirrwarr heroischer Phrasen, dem Grundelement der Februarrevolution, besonders in den ersten Wochen. Gruppen Exilierter setzten sich aus allen Ecken Sibiriens in Bewegung und schmolzen in einen Strom zusammen und ergossen sich westlich in einer Atmosphäre frohlockender Vergiftung.» (17)
Die Ankunft der Exilierten aus Sibirien brachte augenblicklich eine deutlich rechtslastige Einfärbung der politischen Positionen, die von der bolschewistischen Führung in Petrograd eingenommen worden waren. Bis zu dieser Zeit hatte die lokale Leitung, bestehend aus Schljapnikow, Saluzki und Molotow, einen radikaleren Kurs verfolgt. Diese drei Personen waren Teil des linken Flügels der Partei. Aber die neu hinzugekommenen Kamenew und Stalin nutzten ihre Autorität, um die Parteilinie scharf nach rechts zu verschieben. Das spiegelte sich unmittelbar in den Seiten des Zentralorgans wider. In einem Editorial der Prawda vom 14. März, zwei Tage nach seiner Rückkehr, schrieb Kamenew einen Kommentar, in dem er die Frage stellte: «Welcher Absicht würde es dienen, die Dinge zu beschleunigen, wenn sie bereits in solch rasender Geschwindigkeit ablaufen?» (18)
Am nächsten Tag schrieb er einen weiteren Artikel, in dem er Kerenskis Stellungnahme, dass Russland «stolz seine Freiheiten verteidigte» und nicht «vor den Bajonetten der Aggressoren zurückschrecken» würde, kommentierte. Kamenew stimmte begeistert zu, in einer Sprache, die Lenins Politik der Gegnerschaft zum Krieg völlig aufgab: «Wenn Armeen einander gegenüberstehen, wäre es die verrückteste Politik, einer der Armeen vorzuschlagen, ihre Waffen niederzulegen und heimzugehen. Das wäre keine Politik des Friedens, sondern eine Politik der Sklaverei, die mit Abscheu von einem freien Volk zurückgewiesen werden würde.» (19)
Stalin vertrat dieselbe Position wie Kamenew, nur vorsichtiger. Er veröffentlichte einen Artikel, indem er die Haltung des Sowjet in seinem Manifest billigte (was Lenin verurteilte) und meinte, dass es nötig wäre, «Druck auf die Provisorische Regierung auszuüben, damit diese ihr Einverständnis erklärt, sofortige Friedensverhandlungen zu beginnen.» Nach Stalin war es «unbestreitbar», dass «die scharfe Losung ‚Nieder mit dem Krieg!’ als praktisches Mittel völlig unpassend war.» (20)
Die erste gesamtrussische Konferenz der Sowjets der ArbeiterInnen- und Soldatenabgeordneten wurde Ende März 1917 abgehalten. Gleichzeitig berief das Büro des bolschewistischen Zentralkomitees eine gesamtrussische Konferenz der Partei, die am 28. März beginnen sollte, ein. Das war die erste wirklich repräsentative Konferenz der Bolschewiki seit dem Sturzes des Zarismus. Lenin kämpfte noch immer um seine Rückkehr aus dem Schweizer Exil und war daher abwesend. Die politischen Vorgänge bilden daher eine genaue Reflexion dessen, wie die bolschewistischen Führenden in Petrograd die Revolution sahen. Unter den Hauptthemen waren die Haltung zum Krieg und zur Provisorischen Regierung wie auch die Beziehungen zu anderen Parteien. Der Bericht zur Haltung zur Provisorischen Regierung wurde von Stalin beigesteuert. Die gesamte Stossrichtung dieses Berichts, völlig durchdrungen von opportunistischer Annäherung und Versöhnungsgedanken, steht der Linie, die Lenin eindringlich vertrat, radikal entgegen.
Die zentrale Idee von Stalins Rede ist, dass die Bolschewiki der bürgerlichen Provisorischen Regierung kritische Unterstützung zukommen lassen und als eine Art loyaler Opposition fungieren sollten, die, ausserhalb des Parlaments stehend und mit gewissen Einschränkungen, ihren Zuspruch erteilt: «Insofern die Provisorische Regierung die Schritte der Revolution bestärkt,» meint er, «soweit müssen wir sie unterstützen; doch insofern sie konterrevolutionär ist, ist Unterstützung für die Provisorische Regierung nicht statthaft.»
Diese Position verfügte nicht über einstimmige Zustimmung auf der Konferenz. Tatsächlich beinhaltete die vom Büro des Zentralkomitees angenommene Resolution, wiewohl sie unzufriedenstellend ist, wenigstens einige korrigierende Punkte: «Die Provisorische Regierung,» steht da zu lesen, «die von den gemässigten bürgerlichen Klassen unserer Gesellschaft hervorgebracht wurde und mit all ihren Interessen mit dem britischen und französischen Kapitalismus verbunden ist, ist unfähig, die von der Revolution gestellten Aufgaben zu lösen.»
Weiter: «Daher ist die Aufgabe des Tages: Konsolidierung aller Kräfte um die Sowjets der Arbeiter und Soldatenabgeordneten als die Keime der revolutionären Macht, die als einzige dazu imstande sind, sowohl die Versuche der zaristischen und bürgerlichen Konterrevolution zurückzuweisen als auch die Forderungen der revolutionären Demokratie zu verwirklichen und die wahre Klassennatur der aktuellen Regierung zu erklären.
Die dringlichste und wichtigste Aufgabe der Sowjets, deren Erfüllung allein den Sieg über alle Kräfte der Konterrevolution und die weitere Entwicklung und Vertiefung der Revolution garantieren wird, ist, nach Meinung der Partei, die allgemeine Bewaffnung des Volkes und im Besonderen die unmittelbare Schaffung von Roten Garden der Arbeiter im gesamten Land.»
Die Protokolle zeigen, dass sich Stalin öffentlich von der Resolution des Büros distanzierte: «Genosse Stalin liest die Resolution über die Provisorische Regierung, die vom Büro des Zentralkomitees beschlossen wurde, doch hält fest, dass er sich damit nicht in völliger Übereinstimmung befindet, sondern eher mit der Resolution des Sowjets der Arbeiter- und Soldatenabgeordneten Krasnojarsk.» Die Resolution von Krasnojarsk, die das Denken der rückständigeren Provinzen widerspiegelt, hatte einen völlig opportunistischen Charakter und basierte auf deren Idee, dass die Sowjets mit der bürgerlichen Provisorischen Regierung koexistieren und sie mit Machtmitteln zur Unterordnung unter ihren Willen zwingen könnte:
(…)
2. um vollständig klar zu machen, dass die einzige Quelle der Macht und der Autorität der Provisorischen Regierung der Wille des Volks ist, das diese Revolution vollbracht hat und dem die Provisorische Regierung verpflichtet ist, sich völlig zu unterwerfen;
3. um genauso klar zu machen, dass die Folgeleistung der Provisorischen Regierung gemäss den grundlegenden Forderungen der Revolution nur gesichert werden kann durch den unnachgiebigen Druck des Proletariats, der Bauernschaft und der revolutionären Armee, die mit unerlässlicher Energie ihre Organisation um die Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, die aus der Revolution hervorgegangen sind, aufrecht erhalten müssen, um sie zu fürchterlichen Kräften des revolutionären Volks zu machen;
4. um die Provisorische Regierung in ihren Aktivitäten nur so weit zu unterstützen, als sie dem Kurs der Erfüllung der Forderungen der Arbeiterklasse und der revolutionären Bauernschaft in der laufenden Revolution folgt.»
In einer unglaublichen Intervention im Lauf der Debatte machte Stalin eine schlimme Situation noch schlimmer:
«Kann man in einer solchen Situation von Unterstützung einer solchen Regierung sprechen? Man kann eher davon sprechen, dass die Regierung uns unterstützt. Es ist nicht logisch von der Unterstützung der Provisorischen Regierung zu reden, im Gegenteil, es ist treffender, zu sagen, dass die Regierung uns nicht daran hindert, unser Programm in die Tat umzusetzen.»
Wie könnten die Bolschewiki «ihr Programm in die Tat umsetzen», während sie einer bürgerlichen Regierung gestatten, an der Macht zu bleiben? Wie war es möglich, von einer Regierung, die mit Händen und Füssen ans britische und französische Kapital gebunden ist, Frieden zu erlangen? Wie konnte das Land der Bauernschaft von einer Regierung, die von «Männern des Eigentums» dominiert wird, übergeben werden? Die Vorstellung, dass die Sowjets der ArbeiterInnen und Soldaten für eine beliebige Zeitspanne mit einer Regierung der KapitalistInnen koexistieren könnte, geschweige denn sie gegen ihre eigenen grundlegenden Interessen handeln lassen könnte, stand in harschem Gegensatz zum ABC, nicht nur jenem des Marxismus, sondern jenem des gesunden Menschenverstands. Dieselbe Formulierung wurde später von den deutschen sozialdemokratischen Führenden verwendet, um die Deutsche Revolution von 1918 aus der Bahn zu werfen und zu zerstören. Wäre die Linie von Stalin und Kamenew verfolgt worden, hatte die Russische Revolution zweifelsohne in einer ähnlichen Niederlage geendet.
Die Verwirrtheit dieser Reden und Resolutionen und die Desorientierung der Bolschewiki zu jener Zeit hatte ihre Wurzeln im konfusen und widersprüchlichen Wesen der alten bolschewistischen Losung «demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft», worauf Trotzki lang vorher hingewiesen hatte. Beginnend mit der Definition der Klassennatur der Revolution als bürgerlich-demokratisch standen die Bolschewiki nun vor dem Dilemma, was zu tun wäre, wenn nicht davon ausgegangen werden kann, dass das Proletariat die Macht übernimmt. Stalin und Kamenew schlossen, dass die Arbeiterklasse die «fortschrittliche» Bourgeoisie unterstützen müsse, wenngleich sie das mit vielen Wenn und Aber umgaben.
Die Linie der Kapitulation vor der Mittelklassedemokratie, die von Stalin und Kamenew verfolgt wurde, verwischte die Demarkationslinie zwischen Bolschewiki und Menschewiki sehr wirkungsvoll. So sehr, dass die Märzkonferenz die Frage der Fusionierung ins Auge fasste. Wenn die Stalin-Kamenew-Position angenommen worden wäre, hätte es keinen ernsthaften Grund der Aufrechterhaltung zweier separater Parteien gegeben. In der Sitzung vom 30. März berichtet Kamenew gemäss den Protokollen über seine Kontakte zu den Menschewiki:
«Kamenew: Berichtet, dass er in Verhandlungen mit den internationalen Sozialrevolutionären und den Menschewiki getreten ist. Insofern klar ist, dass eine absolut inakzeptable Resolution des Exekutivkomitees (des Sowjets) verabschiedet wird, ist es nötig, dem eine Anschlussresolution der Internationalisten entgegenzusetzen. Die Sozialrevolutionäre (22) sind eine nationale Minderheit. Sie werden nicht gegen die Resolution der Bolschewiki stimmen und ihre Resolution zurückzuziehen. Die Menschewiki wollen eine einzige Resolution einbringen und sind für die Vereinigung auf Grundlage einer Anschlussresolution. Sollte Fraktionsdisziplin verlangt werden, um die Minderheit zur Unterordnung unter die Mehrheit zu zwingen, werden sich die Internationalisten für unsere Resolution aussprechen.»
Jene Sprecher des linken Flügels der Partei, die diese Bewegungen in Richtung Vereinigung ablehnten und jene die die Frage der Machtübernahme durch die ArbeiterInnen aufzuwerfen wagten, wurden kurz abgefertigt. Als Krassikow entlang dieser Linie argumentierte, wurde er in seinem Redefluss vom Vorsitzenden unterbrochen:
«Krassikow: Der Kern der Sache liegt nicht in den Abänderungen und nicht in einer demonstrativen Präsentation sozialdemokratischer Losungen, sondern im gegenwärtigen Moment. Wenn wir die Sowjets der Abgeordneten als die Organe erkennen, die den Willen des Volkes ausdrücken, dann ist die vor uns liegende Frage nicht jene der Erwägungen darüber, welche konkreten Massnahmen bezüglich dieses oder jenes Themas ergriffen werden müssen. Wenn wir denken, dass jetzt die Zeit für die Umsetzung der Diktatur des Proletariats gekommen ist, dann sollten wir die Frage danach stellen. Wir haben zweifelsohne die physischen Kräfte für die Machtergreifung. Ich glaube, dass wir ausreichend physische Kraft sowohl in Petrograd als auch in anderen Städten haben. (Bewegung im Saal. Rufe: «Stimmt nicht») Ich war dabei…
Vorsitzender (unterbrechend): Die zur Diskussion stehende Frage erfordert praktische Schritte für heute. Die Frage der Diktatur des Proletariats steht nicht zur Diskussion.
Krassikow (setzt fort): Wenn wir die Frage nicht so stellen, dann sollten wir Schritte in Bezug auf die Provisorische Regierung setzen, die…
Der Vorsitzende entzieht ihm das Wort.»
Obwohl formell Kamenews Vorschlag darin lag, sich mit dem linken (internationalistischen) Flügel der Menschewiki zu verbinden, lag die wahre Absicht darin, sich zu einer einzigen Partei zusammenzuschliessen. Prominente menschewistische Leitungskräfte wie Lieber waren auf der Konferenz anwesend und nahmen daran teil. Auf der Sitzung vom 1. April wurde dem Kongress eine Resolution über die Vereinigung, geschrieben vom georgischen menschewistischen Führer Zereteli, vorgelegt. Obwohl VertreterInnen des bolschewistischen linken Flügels, einschliesslich des damaligen Studenten Molotow, sie ablehnten, drückte sich Stalin dazu wohlwollend aus:
«Tagesordnung: Zeretelis Vorschlag der Vereinigung.
Stalin: Das sollten wir tun. Es ist nötig, unsere Vorschläge hinsichtlich der Vereinigung zu definieren. Vereinigung ist möglich entlang der Linien von Zimmerwald-Kienthal.
Luganowski: Das Komitee Charkow steht in Verhandlungen entlang genau dieser Linien
Molotow: Zereteli will ungleichartige Elemente miteinander vereinen. Zereteli nennt sich einen Zimmerwaldisten und einen Kienthalisten, und aus diesem Grund ist eine Vereinigung entlang dieser Linien sowohl politisch wie auch organisatorisch nicht korrekt. Es wäre richtiger, eine klare internationalistische sozialistische Plattform zu bilden. Wir werden eine kompakte Minderheit vereinigen.
Luganowski (in Widerlegung Molotows): Zum bestehenden Zeitpunkt wissen wir nichts von irgendwelchen Unstimmigkeiten. Die Menschewiki enthielten sich im Sowjet und sprachen deutlicher als … die Bolschewiki, die dagegen waren. Viele Unstimmigkeiten haben sich überlebt. Es ist fehl am Platz, taktische Differenzen herauszustreichen. Wir können einen Fusionierungskongress mit den Menschewiki, den Zimmerwaldisten und die Kienthalisten machen.»
Angesichts der Kontroverse, die durch diesen Vorschlag ausgelöst wurde, schaltete sich Stalin abermals in die Diskussion mit der Verteidigung der Vereinigung in unmissverständlichen Worten, die trotz seiner gewöhnlichen Vorsicht seine früheren Wortmeldungen getreulich wiederholten und die Differenzen zwischen Bolschewismus und Menschewismus als «Sturm im Wasserglas» bezeichneten, ein
«Stalin: Es liegt kein Sinn darin, von vornherein Unstimmigkeiten anzunehmen. Es gibt kein Parteileben ohne Unstimmigkeiten. Wir werden über belanglose Unstimmigkeiten innerhalb der Partei Gras wachsen lassen. Aber es gibt eine Frage – es ist unmöglich zu vereinen, was nicht vereint werden kann. Wir werden eine einzige Partei mit jenen bilden, die für Zimmerwald und Kienthal sind…» (21)
Nach allem was sich ereignet hatte, die Differenzen zwischen Bolschewismus und Menschewismus als «belanglose Unstimmigkeiten» zu beschreiben, zeigt, dass Stalin, der Parteipraktiker, kein wirkliches Verständnis der grundlegenden Ideen des Bolschewismus hatte. Diese «belanglosen Unstimmigkeiten» waren nichts anderes als die Differenzen zwischen Reformismus und Revolution, zwischen einer Klassenpolitik und einer Politik der Klassenkollaboration. Am Ende stimmte die Konferenz dafür, Verhandlungen mit den Menschewiki fortzusetzen und wählte ein Verhandlungskomitee bestehend aus Stalin, Kamenew, Nogin und Teodorowitsch.
Aus seinem weit entfernten Exil in der Schweiz beobachtete Lenin mit wachsender Sorge die Entwicklung der von den bolschewistischen Führenden in Petrograd verfolgten Linie. Sofort nach Erhalt der Nachricht vom Sturz des Zaren telegrafierte er am 6. März nach Petrograd: «Unsere Taktik vollständiges Misstrauen, keine Unterstützung der neuen Regierung; Kerenski besonders verdächtig; Bewaffnung des Proletariats die einzige Garantie; sofortige Wahlen zu der Petersburger Duma (Stadtrat); keine Annäherung zu anderen Parteien; telegrafieren Sie dieses nach Petrograd.»
Sobald die Prawda wieder in Druck ging, begann Lenin mit der Zusendung seiner berühmten Briefe aus der Ferne. Die Lektüre dieser Artikel und der Vergleich mit den Reden auf der Märzkonferenz vermitteln den Eindruck zweier Welten. Kein Wunder, dass sie wie eine Bombe bei den erstaunten Mitgliedern des Zentralkomitees einschlugen! Lenin bombardierte die Prawda mit Briefen und Artikeln, in denen er den Bruch der ArbeiterInnen mit den bürgerlichen Liberalen und die Machtergreifung durch sie selbst forderte. In den Briefen aus der Ferne sehen wir Lenins revolutionären Geist in voller Ausprägung: seine Fähigkeit, das Wesentliche einer Situation mit einem Blick zu erfassen, sein gedanklicher Schwung, sein genaues Verständnis, die konkret passenden Losungen zu ergreifen und wie von A nach B zu gelangen ist.
Die Februarrevolution, betonte er im ersten Brief, hatte «für den Moment» die Gutschkows und Miljukows an die Macht gebracht. Doch eine kapitalistische Regierung kann die Probleme des russischen Volks nicht lösen. «Die Zarenmonarchie ist geschlagen, aber noch nicht vernichtet.» – «Neben dieser Regierung (…) ist die Hauptregierung entstanden, eine inoffizielle, noch unentwickelte und verhältnismässig schwache Arbeiterregierung, die die Interessen des Proletariats und des ganzen ärmeren Teils der Stadt- und Landbevölkerung zum Ausdruck bringt. Das ist der Sowjet der Arbeiterdeputierten in Petrograd, der Verbindung mit den Soldaten und Bauern und – natürlich besonders, in erster Linie und mehr als mit den Bauern – mit den Landarbeitern sucht.»
Über der Lösung dieses Widerspruchs, dieses Regimes der «dualen Macht», hing das Schicksal der Revolution. Welche Haltung sollten die Bolschewiki gegenüber der Provisorischen Regierung einnehmen?
«Wer sagt, dass die Arbeiter die neue Regierung im Interesse des Kampfes gegen die zaristische Reaktion unterstützen sollen (und das sagen offenbar die Potressow, Gwosdew, Tschchenkeli, und trotz seiner ganzen ausweichenden Haltung auch Tscheidse), der ist ein Verräter der Arbeiter, ein Verräter an der Sache des Proletariats, an der Sache des Friedens und der Freiheit.»
Und hier gelangt Lenin zu einer Position, die mit jener Trotzkis von über einem Jahrzehnt davor identisch ist: «Unsere Revolution ist eine bürgerliche Revolution, sagen wir Marxisten, deshalb müssen die Arbeiter dem Volk über den Betrug der bürgerlichen Politikaster die Augen öffnen und es lehren, Worten keinen Glauben zu schenken, sich nur auf die eigenen Kräfte, auf die eigene Organisation, auf den eigenen Zusammenschluss, auf die eigene Bewaffnung zu verlassen.»
Im zweiten Brief äussert Lenin eine richtungweisende Kritik am von der Führung des Sowjets herausgegebenen Manifest, das sich hinter pazifistischer Phraseologie verschanzt und erklärt, dass alle DemokratInnen die Provisorische Regierung unterstützen müssen und Kerenski zum Eintritt in selbige autorisiert. Lenin entgegnet: «Nicht die Liberalen ‚überreden’, sondern den Arbeitern klarmachen, weshalb die Liberalen in eine Sackgasse geraten sind, weshalb sie an Händen und Füssen gebunden sind, weshalb sie sowohl die Verträge zwischen dem Zarismus und England usw. als auch die Abmachungen zwischen dem russischen und dem englisch-französischen Kapital usw. usf. geheim halten.» (22)
Als Lenins Briefe die Bolschewiki in Petrograd erreichten, waren sie bestürzt. Sie dachten, dass ihr Führer völlig verrückt sein müsse! Oder zumindest musste er so wenig auf dem Laufenden sein, dass das sein fehlendes Verständnis für die aktuelle Situation in Russland erklärte. Nun eröffnete sich ein bitterer Konflikt zwischen Lenin und seinen engsten Genossen. In der Prawda Nr. 27 schrieb Kamenew: «Was das allgemeine Schema des Gen. Lenin anbelangt», schreibt Gen. Kamenew, «so halten wir es für unannehmbar, insofern es davon ausgeht, dass die bürgerlich-demokratische Revolution abgeschlossen sei, insofern es auf die sofortige Umwandlung dieser Revolution in eine sozialistische berechnet ist…» (23) Das gibt die Meinungen von Kamenew, Stalin und der meisten anderen «alten Bolschewiki» im Frühling 1917 wieder.
Von allen Spitzenleuten der Sozialdemokratie war zu dieser Zeit nur einer völlig in Übereinstimmung mit der von Lenin verteidigten Position. Dieser Mann war Leo Trotzki, mit dem Lenin in der Vergangenheit so oft aneinander geraten war. Als Trotzki erstmals von der Februarrevolution hörte, befand er sich noch im Exil in den Vereinigten Staaten. Sofort schrieb er eine Reihe von Artikeln in der Zeitung Nowi Mir (Neue Welt), die in den Ausgaben des 13., 17., 19. und 20. März 1917 veröffentlicht wurden. Am meisten beeindruckt, dass, obwohl es keine Kommunikation zwischen Trotzki und Lenin, der Tausende Meilen entfernt in der Schweiz war, gab, der Inhalt dieser Artikel mit dem aus Lenins Briefen aus der Ferne, die zur selben Zeit entstanden, identisch ist. Erinnern wir uns, dass diese Briefe Lenins sich als so erschreckend für die bolschewistische Führung in Petrograd erwiesen, dass sie von Kamenew und Stalin abgefangen oder in einer veränderten Form abgedruckt wurden. Zu einer Zeit, als die «alten Bolschewiki» gegen den ausdrücklichen Rat Lenins sich enger an die Menschewiki anschlossen, schienen Lenins Ideen purer Trotzkismus zu sein, und sie waren nicht falsch. Die Logik der Ereignisse hatte Lenin und Trotzki einander näher gebracht. Unabhängig und aus verschiedenen Richtungen kamen sie zur selben Schlussfolgerung: die Bourgeoisie kann die Probleme Russlands nicht lösen. Die ArbeiterInnen müssen die Macht übernehmen.
In seinem Artikel Zwei Gesichter – Innere Kräfte der Russischen Revolution schrieb Trotzki: «Formell, verbal, hat die Bourgeoisie zugestimmt, die Frage der Form der Regierung der Diskretion der Konstituierenden Versammlung zu überlassen. Doch praktisch wird die Provisorische Regierung der Oktobristen-Kadetten alle erforderliche Vorbereitungsarbeit für die Konstituierende Versammlung leisten, um eine Kampagne für eine Monarchie statt einer Republik zu erwirken. Der Charakter der Konstituierenden Versammlung wird weitgehend vom Charakter jener, die sie einberufen, abhängen. Es ist daher offensichtlich, dass gerade jetzt das revolutionäre Proletariat seine eigenen Organe, die Räte der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernabgeordneten, gegen die Exekutivorgane der Provisorischen Regierung errichten muss.
In diesem Kampf soll das Proletariat um sich die wachsenden Volksmassen sammeln, mit einem Ziel – die Regierungsmacht zu ergreifen. Nur eine revolutionäre Arbeiterbewegung wird den Wunsch und die Fähigkeit haben, dem Land eine durchgehend demokratische Reinigung während der Vorbereitungsarbeiten für die Konstituierende Versammlung zukommen zu lassen, die Armee von Grund auf neu zu bilden und in eine revolutionäre Miliz umzuwandeln und den ärmeren Bauern in der Praxis zu zeigen, dass ihr Heil einzig in der Unterstützung einer revolutionären Arbeiterregierung liegt. Eine Konstituierende Versammlung, die nach einer solchen Vorbereitungsarbeit zusammengerufen wird, wird die revolutionären, kreativen Kräfte des Landes wahrhaft widerspiegeln und ein mächtiger Faktor in der weiteren Entwicklung der Revolution werden.» (24)
Diese Zeilen, die typisch für die Position Trotzkis zu jener Zeit waren, geben exakt jene Lenins wieder. Doch Lenin war sich dessen nicht bewusst. Er war durch falsche Berichte über Trotzkis Position, die aus Amerika durch Alexandra Kollontai, die erst kürzlich mit dem Menschewismus gebrochen hatte und ängstlich war, sich Lenin als ultraradikal zu präsentieren und Trotzki als Zentristen darstellte, geschickt wurden, getäuscht. Lenin nahm diesen Unsinn für bare Münze und schrieb einige herbe Kommentare über Trotzki in seinen Antworten an Kollontai, die später skrupellos von den Stalinisten verwendet wurden. Erst als Trotzki nach Russland zurückgekehrt war und sogleich eine herausragende Rolle im revolutionären Flügel einnahm, änderte Lenin seine Meinung über Trotzki und meinte, dass es «keinen bessere Bolschewiken» gäbe. Kollontai brachte ihre ultralinke Haltung zum logischen Abschluss, indem sie sowohl mit Lenin als auch mit Trotzki Konflikte hatte, bevor sie schliesslich eine untertänige Dienerin des totalitären Regimes Stalins wurde.
Die völlige Übereinstimmung der Ansichten Lenins und Trotzkis im Moment der Wahrheit war kein Zufall. Schon 1909 hatte Leo Trotzki – der einzige, der vorhersagte, dass die Revolution als Arbeiterrevolution oder gar nicht triumphieren würde – davor gewarnt, dass die konterrevolutionäre Natur der Losung «demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft» erst in dem Moment klar werden würde, wenn die Machtfrage gestellt würde. Nun zeigte sich, dass er Recht hatte. Die schwache Seite von Lenins Theorie und ihre Auswirkung in der Praxis war die Ursache schwerer Fehler, die von den bolschewistischen Führenden in der Februarrevolution gemacht wurden, die erst durch Lenin nach seiner Rückkehr auf Grundlage eines scharfen inneren Kampfes korrigiert wurden. Sogar Sinowjew gibt das in seiner tendenziösen Geschichte der bolschewistischen Partei, veröffentlicht 1923 als Teil einer Kampagne gegen den Trotzkismus, zu, wenn auch in einer typisch schwammigen und unehrlichen Weise:
«Diese Entwicklung unserer Ansicht über die Jahre 1905 bis 1917 kann nicht verleugnet werden, nicht mehr als die Tatsache, dass sie mit erheblichen Widersprüchlichkeiten ablief, die unter uns sehr gefährliche Differenzen am Vorabend des Oktober 1917 hervorbrachten. Einige von uns (einschliesslich mir) klebten zu lange an der Idee, dass wir in unserem bäuerlichen Land nicht unmittelbar zur sozialistischen Revolution übergehen könnten, sondern hofften bloss, dass, wenn unsere Revolution mit dem Beginn jener des internationalen Proletariats zusammenfiele, sie zu deren Eröffnung würde.» (25)
Diese Zeilen beinhalten trotz ihres ausweichenden Charakters den Schlüssel für alles, was in der bolschewistischen Partei in den ersten Monaten nach dem Februar 1917 geschah. Was mit seinen Briefen passierte, wirft ein starkes Licht auf Lenins Beziehungen zu den «alten Bolschewiki». Es war eine Nachahmung dessen, was 1912-13 passiert war. Sogar die AkteurInnen waren dieselben. Stalin und Kamenew waren wieder die Redaktion. Wieder wählten sie den Weg des geringsten Widerstands in Form des Versöhnlertums. Und wieder reagierten sie auf Lenins Kritik und Protest mit unverfrorener Zensur. Die bolschewistischen Führenden waren von Lenins Briefen so in Verlegenheit gebracht, dass, als Kollontai die ersten beiden Briefe Ende März nach Petrograd brachte, sie einige Tage zögerten, bevor sie sie veröffentlichten. Sogar dann druckten sie nur einen der beiden ab, der ausserdem zensiert war und die Passagen, in denen sich Lenin gegen jedwede Übereinstimmung mit den Menschewiki aussprach, getilgt waren. Dasselbe Schicksal erwartete den Rest von Lenins Artikeln. Sie wurden einfach nicht veröffentlicht oder in veränderter Form herausgebracht. Krupskaja dazu: «Nur der erste Brief wurde veröffentlicht – an dem Tag, da dem Lenin in St. Petersburg ankam, drei andere lagen im Redaktionsbüro und der fünfte wurde nicht an die Prawda gesandt, da Lenin ihn erst kurz vor seiner Abreise nach Russland geschrieben hatte.» (26)
In seiner Autobiografie erinnert sich Trotzki:
«In New York schrieb ich Anfang März (1917) eine Artikelserie, die den Klassenkräften und den Perspektiven der russischen Revolution gewidmet war. Zu gleicher Zeit schickte Lenin aus Genf nach Petrograd seine Briefe aus der Ferne. An zwei durch den Ozean getrennten Punkten geschrieben, geben unsere Artikel die gleiche Analyse und die gleiche Prognose. Alle grundlegenden Formulierungen – die Stellung zur Bauernschaft, zur Bourgeoisie, zur Provisorischen Regierung, zum Krieg, zur internationalen Revolution – sind ganz die gleichen. Auf dem Wetzstein der Geschichte war hiermit eine Kontrolle vorgenommen worden über das Verhältnis des ‚Trotzkismus’ zum Leninismus. Diese Kontrolle geschah unter chemisch reinen Bedingungen. Ich kannte die Leninsche Einstellung nicht. Ich ging von meinen eigenen Voraussetzungen und meiner eigenen revolutionären Erfahrung aus. Und ich gab dieselben Perspektiven, die gleiche strategische Linie, wie sie Lenin gab.
Aber vielleicht war die Frage zu jener zeit bereits allen klar und ebenso allgemein die Schlussfolgerung? Nein, im Gegenteil. Die Leninsche Einstellung war in jener Periode – bis zum 4. April 1917, seinem Eintreffen in Petrograd – seine persönliche, seine alleinige Einstellung. Keinem der Parteiführer, die in Russland waren – nicht einem einzigen! – war vorher in den Sinn gekommen, den Kurs auf die Diktatur des Proletariats, auf die sozialistische Revolution zu halten. Die Parteikonferenz, die am Vorabend der Ankunft Lenins einige Dutzend Bolschewiki versammelte, bewies, dass niemand über die Demokratie hinausging. Nicht grundlos wird das Protokoll dieser Konferenz bis jetzt verheimlicht. Stalin hielt den Kurs auf die Unterstützung der Provisorischen Regierung Gutschkow-Miljukow und auf die Vereinigung der Bolschewiki mit den Menschewiki.» (27)
Am 3. April, nach Wochen frustrierender Verhandlungen zur Arrangierung seiner Rückkehr über Deutschland, kam Lenin am Bahnhof Finnland im revolutionären Petrograd an. Vom Moment seiner Ankunft an nahm er einen streitlustigen Standpunkt in Bezug auf die bürgerliche Provisorische Regierung und die vaterlandsverteidigerisch-reformistischen Politiker, die sie stützten, ein.
Sofort nach seiner Rückkehr nach Russland eröffnete Lenin einen Kampf gegen jene bolschewistischen Führenden, die vor dem Druck der kleinbürgerlichen «öffentlichen Meinung» kapituliert hatten und sich für die Unterstützung der bürgerlichen Provisorischen Regierung aussprachen. Erst nach einem extrem heftigen inneren Kampf gelang ihm die Wiederaufrüstung und Reorientierung der Bolschewiki. In diesem Kampf zählte Lenin auf die Unterstützung der Parteibasis und der Arbeiterklasse, die, wie er nie müde wurde zu betonen, hundertmal revolutionärer ist als die revolutionärste Partei. Tatsächlich wurde die Linie Kamenews von der Partei in Petrograd, die seinen Ausschluss verlangte, nicht gut angenommen. Die Hochburg der proletarischen Bolschewiki Wyborg forderte auch den Ausschluss Stalins. (28)
Im Moment seiner Ankunft am Bahnhof Finnland verlieh er seinen Absichten Ausdruck. Demonstrativ drehte er den versammelten Honoratioren, die zu seiner Begrüssung anwesend waren, den Rücken zu und wandte sich an die ArbeiterInnen mit den Worten «Lang lebe die sozialistische Weltrevolution!» Diese unmittelbare Eröffnung bestätigte die schlimmsten Verdachtsmomente der Parteiführung: dass Lenin zum Trotzkismus übergewechselt war. Es folgte ein wilder Fraktionskampf, der in der Aprilkonferenz, auf der Lenin auf ganzer Linie triumphierte, seinen Höhepunkt fand. Krupskaja schreibt: «Die Genossen waren für einen Moment irgendwie erstaunt. Viele von ihnen dachten, dass Iljitsch die Angelegenheit in einer viel zu unverblümten Art darbrachte und dass es zu früh war, von einer sozialistischen Revolution zu sprechen.» (29) Es ist offensichtlich, dass Krupskaja sich selbst auf diplomatische Weise ausdrückt. Die Differenzen waren ernsthaftester Natur und der Kampf wurde, wenngleich nicht lang, so doch erbittert ausgetragen. Als Lenin seine Position erstmals öffentlich vortrug, war das Publikum sprachlos.
In seinen Memoiren erinnert sich der damals anwesende Raskolnikow, was geschah, als Kamenew in Lenins Abteil trat: «Kaum hatte er das Abteil betreten und sich hingesetzt, als Vladimir Iljitsch sich an Genosse Kamenew wandte. ‚Was schreibst du da in der Prawda? Wir haben verschiedene Ausgaben gesehen und haben auf dich geschworen…’ hörten wir Iljitsch in seinem Ton väterlichen Tadels, in dem nie etwas Beschimpfendes lag, sagen.
Sofort nach seiner Ankunft am Bahnhof Finnland wurde er zu einer vornehmen Unterkunft gebracht, das Eigentum einer berühmten Ballerina, wo Lenin in einem grossen Raum samt Konzertflügel mit Willkommenswünschen verwöhnt wurde – was er hasste: «Eine Feier zu Ehren Iljitschs wurde hier abgehalten. Ein Sprecher nach dem anderen gab seiner tiefsten Freude über die Rückkehr des kampferprobten Parteiführers nach Russland Ausdruck. Iljitsch sass und hörte sich all die Reden mit einem Lächeln an, ungeduldig auf deren Ende wartend.
Als die Rednerliste erschöpft war, erwachte Iljitsch auf einmal zu Leben, sprang auf die Füsse und begann mit seiner Arbeit. Er griff die Taktik, die die führenden Parteigruppierungen und die einzelnen Genossen vor seiner Rückkehr verfolgt hatten, resolut an. Er spottete bissig über die bekannte Formel, insofern … zu einem gewissen Ausmass’ der Unterstützung für die Provisorische Regierung, gab die Losung ,Keine wie auch immer geartete Unterstützung für die Regierung der Kapitalisten’ aus und rief die Partei zur Machtübernahme durch die Sowjets, zur sozialistischen Revolution auf. Mit einigen einleuchtenden Beispielen demonstrierte Genosse Lenin brillant die ganze Falschheit der Politik der Provisorischen Regierung, den grellen Widerspruch zwischen ihren Versprechen und ihren Handlungen, zwischen Wort und Tat, und betonte, dass es unsere Pflicht sei, ihre konterrevolutionären und antidemokratischen Ansprüche und Führung rücksichtslos offen zu legen.
Genosse Lenins Rede dauerte fast eine Stunde. Das Publikum blieb in intensiver, nicht schwächer werdender Aufmerksamkeit. Die verantwortlichsten Parteiarbeiter waren hier anwesend, doch sogar für sie beinhaltete das, was Lenin sagte, eine wahrhafte Enthüllung. Es setzte einen Rubikon zwischen die Taktiken von gestern und denen von heute. Genosse Lenin stellte die Frage klar und deutlich: ,Was tun?’ und holte uns weg von der halben Anerkenntnis und halben Unterstützung der Regierung hin zur Nicht-Anerkennung und zum unversöhnlichem Kampf. Der ultimative Triumph der Sowjetmacht, den viele als etwas in der verschwommenen Distanz einer mehr oder weniger unklaren Zukunft sahen, wurde von Genosse Lenin auf die Ebene einer dringend notwendigen Eroberung der Revolution heruntergebrochen, das in sehr kurzer Zeit zu erreichen sei. Diese seine Rede war im vollsten Sinn historisch. Genosse Lenin legte hier sein politisches Programm vor, das er am nächsten Tag in den berühmten Thesen des 4. April formulierte. Diese Rede erzeugte eine totale Revolution im Denken der Parteiführer und war Grundlage für die folgende Arbeit der Bolschewiki. Es geschah nicht ohne Grund, dass unsere Parteitaktik keiner geraden Linie folgte, aber nach Lenins Rückkehr vollzog sie einen scharfen Schwenk nach links.» (30)
Überrascht von der Anleitung des bolschewistischen Führers, die sich so von der seiner Leutnants in Petrograd unterschied, beschuldigten ihn die Menschewiki, Gewalt und Bürgerkrieg schüren zu wollen. Auf den Seiten seines Journals Jedinstwo nannte Plechanow Lenins Thesen «irres Gerede». Doch die Haltung der bolschewistischen Führer war nicht viel anders. Als Lenins Aprilthesen auf den Seiten der Prawda am 7. April veröffentlicht wurden, erschienen sie unter einem einzigen Namen – dem Lenins. Keiner der anderen Führenden war bereit, den eigenen Namen mit Lenins Position in Verbindung bringen zu lassen. Am nächsten Tag druckte die Prawda einen Artikel von Kamenew mit dem Titel Unsere Uneinigkeiten ab, der die bolschewistische Führung von Lenins Position trennte und festhielt, dass er bloss seine persönliche Meinung wiedergegeben hätte, die weder von der Redaktion der Prawda noch vom Büro des Zentralkomitees geteilt würde.
Ungeachtet der Reaktion der Menschewiki und der bolschewistischen Leitung in Petrograd war Lenin nicht verrückt und näher am Puls der realen Lage als seine GenossInnen in Russland. Für ihn war die Essenz der Frage sehr einfach: es war nötig, die Arbeiterklasse für die Machtergreifung vorzubereiten, natürlich nicht sofort. Lenin war kein Abenteurer und die Idee einer Minderheit, die die Macht übernehmen sollte, lag ihm fern. Nein. Die Aufgabe der Stunde war die Bewaffnung der Avantgarde der Klasse – der fortschrittlichsten Teile der Werktätigen und der Jugend – mit der Perspektive der Überzeugung der Massen vom Programm der sozialistischen Revolution als einzigen Ausweg. Das fasste das Wesentliche der Situation treffend zusammen. Aber es erinnerte unmittelbar an die Losung der «Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft», von der jeder wusste, dass sie nicht die Losung einer sozialistischen Revolution war.
Die Angelegenheit wurde schliesslich auf einer stadtweiten Konferenz, die acht Tage vom 2. bis 10. April dauerte, auf die Tagesordnung gesetzt und ist historisch bekannt als die Aprilkonferenz. Die Konferenz wurde von 149 Delegierten, die 79.000 Mitglieder (davon 15.000 in Petrograd) repräsentierten, besucht. Das war bereits ein beeindruckendes Ergebnis für eine Partei, die im Untergrund gearbeitet hatte und nun in Opposition zu den grossen ArbeiterInnenführungen stand. Selten hing so viel vom Resultat einer einzelnen Konferenz ab wie hier. Lenin konfrontierte im offenen Kampf seine alten KollegInnen aus vielen Jahren, die sich im entscheidenden Moment als seine erbittertsten GegnerInnen herausstellten. Ironischerweise hielten diese «alten Bolschewiki» das Banner des Leninismus hoch! Sie präsentierten sich selbst als die Verteidigenden leninistischer Orthodoxie, die in der Losung der «demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft», die Lenin selbst 1905 geprägt hatte, ihren Ausdruck fand. Aber diese Formel hatte ihre Nützlichkeit überlebt. Die Entwicklung der Revolution hatte sie überflüssig werden lassen.
Lenin und Trotzki waren, wie wir gesehen haben, zur selben Schlussfolgerung gekommen. Sie verstanden, dass die Regierung Kerenski die Probleme, denen die ArbeiterInnen und die Bauernschaft gegenüberstanden, nicht ernsthaft in Angriff nehmen konnte; doch das war so, weil sie eine Regierung der Bourgeoisie war, keine der ArbeiterInnen und der Bauernschaft. Nur die Diktatur des Proletariats in Allianz mit der mittellosen Bauernschaft konnte damit beginnen, die Aufgaben der bürgerlich demokratischen Revolution in Russland zu lösen. Wie Trotzki es ausdrückte: «Die ‚alten Bolschewiki’ – die diese Benennung im April 1917 wichtigtuerisch betonten – waren zur Niederlage verurteilt, eben weil sie genau jenes Element der Parteitradition verteidigten, das die historische Prüfung nicht bestanden hatte.»
Der innerparteiliche Kampf war kurz, aber heftig. Doch die grosse Stärke, die Lenin hatte, war die Rückendeckung der bolschewistischen ArbeiterInnen, die links von der Führung standen. Sie fühlten von Anfang an, dass da etwas in der Politik falsch lief, etwas das entgegen all ihrer Instinkte und Traditionen für die Versöhnung mit den Menschewiki und eine abwartende Haltung gegenüber der bürgerlichen Provisorischen Regierung stand. Doch die Werktätigen waren nicht imstande, den «schlauen» Argumenten von Führenden wie Kamenew und Stalin, die ihre Autorität benutzten, um Zweifel in der Basis zum Schweigen zu bringen, entgegenzutreten. Im Gegensatz dazu vertraute Lenin auf die Unterstützung der ArbeiterInnenmassen der Partei, die seine revolutionären Thesen instinktiv akzeptierten: «Den revolutionären Arbeitern fehlten nur die theoretischen Mittel, um ihre Position zu verteidigen. Doch waren sie bereit, den ersten Zuruf mit Widerhall zu beantworten. Nach dieser Arbeiterschicht, die während des Aufschwungs der Jahre 1912-1914 sich endgültig hochgerichtet hatte, orientierte sich Lenin» (31). Zur Zeit der Aprilkonferenz hatten Lenin und die Parteibasis die Schlacht im Grunde gewonnen. Saleschski, der ein Mitglied des Petrograder Komitees war, hält fest, dass «Bezirk um Bezirk sich ihnen (Lenins Thesen) anschloss.»
Lenins Eröffnungsrede betonte die internationale Dimension der Revolution: «Dem russischen Proletariat wurde die grosse Ehre zuteil zu beginnen, es darf aber nicht vergessen, dass seine Bewegung und seine Revolution nur ein Teil der internationalen revolutionären proletarischen Bewegung sind, die, wie zum Beispiel in Deutschland, von Tag zu Tag stärker und stärker wird. Nur unter diesem Gesichtswinkel können wir unsere Aufgaben bestimmen.» (32a)
Das war der Startschuss in der Diskussion und Lenin wägt jedes Wort ab. Was bedeutet das? Lenin beantwortet das Argument der Menschewiki, Kamenews und Stalins, dass die russischen Arbeitenden die Macht nicht übernehmen können, weil die objektiven Bedingungen im rückständigen feudalen Russland es nicht erlauben. Und die Antwort lautet: es ist wahr, dass die objektiven Bedingungen für den Sozialismus in Russland nicht existieren, aber sie existieren auf weltweiter Ebene. Unsere Revolution ist kein unabhängiger Akt, sondern Teil der Weltrevolution. Wenn wir die Möglichkeit der Machtergreifung vor den deutschen, französischen und britischen ArbeiterInnen haben, sollten wir es tun.
Wir können mit der Revolution beginnen, die Macht ergreifen, mit der Transformierung der Gesellschaft entlang sozialistischer Linien beginnen und das wird der Revolution, die schon in Europa heranreift, einen enormen Impuls verleihen. Wir können beginnen und mit der Hilfe der Werktätigen Deutschlands, Frankreichs und Britanniens werden wir die Aufgabe vollenden. Natürlich, wenn wir nicht die Perspektive der internationalen Revolution im Auge behielten, wäre unsere Aufgabe tatsächlich hoffnungslos. Aber das ist nicht der Fall. «Nur unter diesem Gesichtswinkel können wir unsere Aufgaben bestimmen.» Dasselbe Thema wurde von Lenin im Verlauf der Konferenz wiederholt eingehämmert. «Jawohl, wir sind in der Minderheit. Nun, was ist dabei! In dieser Zeit des chauvinistischen Taumels Sozialist sein heisst in der Minderheit sein, in der Mehrheit sein aber heisst Chauvinist sein.» (32b)
Lenins Resolution Zur gegenwärtigen Lage hielt fest:
«Das Proletariat Russlands, das in einem der rückständigsten Länder Europas, inmitten einer kleinbäuerlichen Bevölkerungsmasse wirkt, kann sich nicht die sofortige Durchführung der sozialistischen Umgestaltung zum Ziel setzen.
Es wäre jedoch der grösste Fehler, und in der Praxis würde es sogar den vollständigen Übertritt auf die Seite der Bourgeoisie bedeuten, wollte man daraus schliessen, dass die Arbeiterklasse die Bourgeoisie unterstützen oder ihre Tätigkeit auf den Rahmen des für das Kleinbürgertum Annehmbaren beschränken müsse, dass das Proletariat auf seine führende Rolle bei der Aufklärung des Volkes über die Dringlichkeit einer Reihe praktisch bereits herangereifter Schritte zum Sozialismus verzichten solle.
Gewöhnlich wird aus der ersten These folgender Schluss gezogen: ‚Russland ist ein rückständiges, bäuerliches, kleinbürgerliches Land, darum kann von einer sozialen Revolution keine Rede sein.’ Doch vergisst man, das wir durch den Krieg in ungewöhnliche Verhältnisse gestellt worden sind und dass es neben dem Kleinbürgertum das Grosskapital gibt. Was aber sollen die Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten tun, wenn die Macht in ihre Hände übergeht? Sollen sie auf die Seite der Bourgeoisie treten? Die Arbeiterklasse setzt ihren Klassenkampf fort – das ist die Antwort.» (32c)
«Hier erhebt sich lärmender Widerspruch, und zwar von Leuten, die sich gern ‚alte Bolschewiki’ nennen: Haben wir denn nicht stets gesagt, dass die bürgerlich-demokratische Revolution erst durch die ‚revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft’ abgeschlossen wird? Ist denn etwa die Agrarrevolution, die ja auch eine bürgerlich-demokratische Revolution ist, abgeschlossen? Ist es nicht, im Gegenteil, Tatsache, dass sie noch nicht begonnen hat?
Ich antworte: Die bolschewistischen Losungen und Ideen sind im allgemeinen durch die Geschichte vollauf bestätigt worden, konkret aber haben sich die Dinge anders gestaltet, als ich (oder wer auch immer) es erwarten konnte – origineller, eigenartiger, bunter.
Diese Tatsache ignorieren, sie vergessen, hiesse es jenen ‚alten Bolschewiki’ gleichzutun, die schon mehr als einmal eine traurige Rolle in der Geschichte unserer Partei gespielt haben, indem sie sinnlos eine auswendig gelernte Formel wiederholten, anstatt die Eigenart der neuen, der lebendigen Wirklichkeit zu studieren.» (33)
Als Antwort auf jene Elemente, die behaupteten, dass das Proletariat dem «eisernen Gesetz der historischen Phasen» gehorchen müsse, den «Februar nicht überspringen könne», «durch das Stadium der bürgerlichen Revolution hindurch» müsse und die dabei versuchten, ihre eigene Feigheit, Verwirrtheit und Ohnmacht zu verstecken, indem sie sich auf die «objektiven Faktoren» beriefen, sagte Lenin verächtlich:
«Warum ist die Macht nicht ergriffen worden? Steklow sagt: aus dem und dem Grunde. Das ist Unsinn. Die Sache ist die, dass das Proletariat nicht klassenbewusst und nicht organisiert genug ist. Das muss man zugeben; die materielle Kraft ist beim Proletariat, die Bourgeoisie aber war klassenbewusst und vorbereitet – das ist eine ungeheuerliche Tatsache, aber man muss sie offen und unumwunden zugeben und dem Volke erklären, dass die Massen darum nicht die Macht ergriffen haben, weil sie unorganisiert und nicht genügend klassenbewusst sind…» (34)
Es gab keinen objektiven Grund, warum die ArbeiterInnen – die die Macht in Händen hielten – die Bourgeoisie im Februar 1917 nicht zur Seite stossen hätten können, keinen anderen Grund als ihre Unvorbereitetheit, ihren Mangel an Organisation und das Fehlen des Bewusstseins. Doch das, erklärte Lenin, war nur die eine Seite des kolossalen Verrats der Revolution durch all die sogenannten ArbeiterInnen- und Bauernparteien. Ohne die Komplizenschaft der Menschewiki und der SozialrevolutionärInnen in den Sowjets hätte die Provisorische Regierung nicht einmal eine Stunde halten können. Deshalb verabreichte Lenin seine schmerzhaftesten Pfeile jenen Elementen der bolschewistischen Führung, die die bolschewistische Partei ins Schlepptau des Gemeinschaftswaggons der Menschewiki und SozialrevolutionärInnen, die die Massen verwirrt und desorientiert hatten, getrieben und vom Weg zur Macht abgebracht hatten.
«Wer jetzt lediglich von ‚revolutionär-demokratischer Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft’ spricht, der ist hinter dem Leben zurückgeblieben, der ist damit faktisch zum Kleinbürgertum übergangen, der ist gegen den proletarischen Klassenkampf, der gehört in ein Archiv für ‚bolschewistische’ vorrevolutionäre Raritäten (Archiv ‚alter Bolschewiki’ könnte man es nennen).»
Mit Bezug auf die Macht der Arbeiterklasse und die Ohnmacht der Provisorischen Regierung betonte Lenin: «Diese Tatsache lässt sich nicht in die alten Schemata zwängen. Man muss die Schemata dem Leben anzupassen wissen, anstatt ständig die sinnlos gewordenen Worte von der ‚Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft’ schlechthin zu wiederholen.»
Wieder: «Erfasst die altbolschewistische Formel des Gen. Kamenew ‚die bürgerlich-demokratische Revolution ist nicht abgeschlossen’ diese Wirklichkeit?
Nein, die Formel ist veraltet. Sie taugt nichts. Sie ist tot. Vergeblich werden die Bemühungen sein, sie zu neuem Leben zu erwecken.» (35)
An einem Punkt war Lenin besonders deutlich. Es war wesentlich, dass die Bolschewiki absolute Unabhängigkeit von allen anderen Strömungen behielten. Lenin war sich allzu bewusst, dass in der allgemeinen Atmosphäre der Euphorie ein starker Sog in Richtung Vereinigung «aller fortschrittlichen Strömungen» vorherrschen würde. Die Geschichte des Versöhnlertums auf Seiten der alten Bolschewiki, insbesondere Kamenews, erfüllte ihn mit Besorgnis. Deshalb schrieb er in seinem ersten Telegramm: «Keine Annäherung zu anderen Parteien.»
Andererseits überlegte Stalin auf dem Märzkongress bereits die Überwindung der «belanglosen Unstimmigkeiten» innerhalb des Rahmens einer vereinten Partei von Bolschewiki und Menschewiki. Stalins engstirnige Mentalität eines Komiteemitglieds sah alles aus dem Standpunkt der Organisation. Eine grössere Partei bedeutete mehr Mitglieder, mehr Geld, einen grösseren Apparat und folglich eine grössere Arena, in der er seine Aktivitäten entwickeln könnte. Was waren verglichen damit ein paar theoretische Differenzen – doch nur «Belanglosigkeiten»?! Hier sehen wir, in einer besonders primitiven Form, den Unterschied zwischen der Psychologie eines Revolutionärs und eines Bürokraten.
Die alten Bolschewiki dachen, sie könnten Einheit mit den Menschewiki auf Basis der «Zimmerwald-Kienthal-Prinzipien» erwirken, gerade als die Zimmerwald-Bewegung ihre historische Mission ausgeschöpft hatte und sich im Prozess des Zusammenbruchs befand. In jedem Fall war sie immer ein Kompromiss, ein Übergangsschritt in Richtung einer neuen und wahrhaft revolutionären Internationale. Lenin hatte sich entschlossen. Nicht «Zurück zu Zimmerwald», sondern «Vorwärts zur Dritten Internationale!» war seine Losung. In einem Brief an Radek vom 29. März schrieb er: «Ich stimme voll mit dir überein, dass Zimmerwald zu einem Hindernis geworden ist und je früher wir mit ihm brechen, um so besser (du weisst, dass ich in diesem Punkt mit der Konferenz nicht konform gehe). Wir müssen schnell eine Versammlung der Linken einberufen, eine internationale Versammlung und ausschliesslich der Linken.»
Eine Woche später schrieb er: «Wenn es wahr ist, dass der benebelte erbärmliche Grimm (kein Wunder, dass wir nie diesem ministeriablen Schuft vertrauten!) alle Zimmerwald-Angelegenheit den linken Schweden überlassen hat und dass letztere eine Zimmerwald-Konferenz innerhalb der nächsten paar Tage einberufen, dann würde ich – persönlich (ich schreibe das nur in meinem eigenen Namen) – aufs Schärfste davor warnen, mit Zimmerwald irgendetwas zu tun zu haben. ‚Was für eine gute Gelegenheit ist das, die Zimmerwald-Internationale jetzt zu übernehmen,’ sagte Grigori heute. Meiner Meinung nach ist das super-opportunistisch und eine schädliche Taktik.» (36)
Der brennendste Aspekt für die Revolution war der Krieg und die immer tiefer reichende Stimmung der Unzufriedenheit der Soldaten. Nach dem Zusammenbruch des alten Regimes beantragten diese spontan die Entfernung jener Offiziere, die sich der Revolution entgegengestellt hatten. Die Männer in den grauen Mänteln forderten ihr Recht, wie Menschen, nicht wie Tiere behandelt zu werden. Daraus erwuchs der berühmte Befehl Nummer Eins, den Trotzki als «das einzig würdige Dokument der Februarrevolution» (37) bezeichnet. Die Initiative für dieses bemerkenswerte Dokument kam aus der Basis. Darin kann die wahre Stimme der Front vernommen werden, die gequälte, aber hoffnungsvolle Stimme von Männern, die angesichts des Todes nicht den Funken menschlicher Würde und den Wunsch, wie Menschen behandelt zu werden, verloren haben. Hier war das wahre Gesicht der Februarrevolution: nicht die studierten und kunstvollen Reden der PolitikerInnen, sondern die neu zu politischem Leben erweckten Massen, die nach demokratischen Rechten und Freiheit anstelle der alten Stände und Unterwürfigkeit Ausschau hielten. Befehl Nummer Eins drückt besser als alles andere die demokratischen und revolutionären Bestrebungen der Massen aus.
Die gestellten Forderungen repräsentierten eine richtige Soldatencharta:
Die Forderungen wurden Befehl Nummer Eins genannt. Sie schlugen bei den reaktionären Offizieren und ihren politischen Freunden in der Provisorischen Regierung wie eine Bombe ein. Hier war eine Herausforderung für das autokratische «göttliche Recht» der Offizierskaste, wer der Herr im Haus war und ausserdem eine Herausforderung für die Säulen der bürgerlichen Ordnung. Das «Provisorische Komitee der Duma» geriet mit den Soldatenabgesandten, die den Befehl Nummer Eins für die Petrograder Garnison aufstellten, sofort in Streit. Die reaktionären Offiziere, die nun stolz die republikanischen Insignien in ihren Knopflöchern trugen, versuchten die Umsetzung an der Front zu verhindern, indem sie behaupteten, dass es eine «rein Petrograder Angelegenheit» sei. Dabei hatten sie die Bestärkung der SozialrevolutionärInnen und der Menschewiki, die genauso wie sie darauf bedacht waren, der revolutionären «Verrücktheit» ein Ende zu setzen und die (bürgerliche) Ordnung wieder in Kraft zu bringen. Vergeblich. Die Forderung für demokratische Rechte der «Soldatencharta» verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Armee. Der Konflikt wegen des Befehls Nummer Eins zeigte die Ausformung der kommenden Geschehnisse an.
Was die Armee wollte, war der sofortige Friedensschluss ohne Annexionen oder Kontributionen. Die Sowjetführenden hielten Reden über einen «gerechten Frieden», doch so lang die Macht in den Händen der Bankiers und Industriellen, die mit Händen und Füssen an das britische und französische Kapital gebunden waren, verblieb, war das nur ein Traum. Während des Frühlings wuchs die Unzufriedenheit der Soldaten, als die Regierung sich mit der Frage des Friedens Zeit liess. Die Bourgeoisie, vertreten durch ihren Hauptrepräsentanten in der Regierung, Miljukow, machte kein Geheimnis aus ihrer Absicht, den Krieg bis zu einem «siegreichen Abschluss» zu fortzusetzen. Das brachte die Soldaten auf und schuf in Petrograd eine explosive Situation.
Der Prozess, der sich nach dem Februar entfaltete, kann in jeder Revolution beobachtet werden. Der Fall des alten Regimes wird mit Begeisterung von den Massen begrüsst. Es gibt allgemeinen Jubel, Männer und Frauen geniessen die neuen Freiheiten. Das ist das Stadium demokratischer Illusionen, ein Karneval, der die Leute mit der Sensation der Befreiung und grenzenloser Hoffnungen trunken macht. Leider ist dieses schöne Liebesfest nicht zu langer Dauer bestimmt. Die Wucht der Illusion findet rasch ihren Gegenspieler in der Tiefe der Enttäuschung, wenn die Erwartung gegen die Realität anläuft. «Wir haben die Schlange gefangen, nicht getötet», erklärt Shakespeares Macbeth. Allmählich beginnt den Massen der Gedanke zu dämmern, dass allem Lametta und allen Reden zum Trotz sich in Wirklichkeit nichts geändert hat. Die alte Ordnung hat ihre Tracht und ihre Anrede getauscht, doch es bleiben dieselben alten Herren und auch dieselben alten Probleme.
Diese schnelle Ausbreitung der Desillusionierung betrifft nicht sofort alle Schichten. Sie findet ihren ersten Ausdruck in den Reihen der fortschrittlichsten Teile der Massen. In der vagen Realisierung, dass die mit soviel Mühe und Opfer gewonnene Macht ihnen aus der Hand gleitet, schlägt die Avantgarde instinktiv aus. Das ist ein Moment äusserster Gefahr für die Revolution. Die Avantgarde versteht mehr als die Massen und drängt ungeduldig nach vorn mit Forderungen nach eiliger Aktion. Aber es ist nötig, den Rest der Gesellschaft zu gewinnen, der zurückbleibt und noch nicht die notwendigen Schlüsse gezogen hat. Wenn die Avantgarde von der Masse wegbricht, kann sie isoliert und von der Reaktion gefällt werden. Unter solchen Bedingungen ist es die Pflicht der Partei, die fortgeschrittenen Elemente zu zügeln zu versuchen, um die Schlacht zu verhindern, bis die Reservebataillone in Stellung sind.
Der Prozess erfolgreicher Annäherung, in dem die Masse die politische Partei, die ihre Bestrebungen am besten ausdrückt, erwählt, begann mit dem Anfang der Revolution. Es gab eine ganze Reihe dessen, was wir mit Kampfeinsätzen vergleichen können, als die Menge die Verteidigung des Feindes und ihre eigene Stärke austestete. Diese Einsätze ereigneten sich in Form von Massendemonstrationen, beginnend mit April, als tausende ArbeiterInnen, Soldaten und Seeleute auf die Strassen von Petrograd gingen und Banner mit den Losungen «Nieder mit Miljukow!», «Nieder mit der Annexionspolitik!» und sogar gelegentlich ultralinks «Nieder mit der Provisorischen Regierung!» trugen. Das waren zweifelsohne bolschewistische Losungen, doch die DemonstrantInnen waren nicht von der Partei aufgerufen worden. Wie Alexander Rabinowitsch erklärt:
«Einfache Parteimitglieder aus Garnisonsregimentern und Fabriken trugen sicher dazu bei, die Strassendemonstrationen auf die Beine zu stellen, obwohl das Zentralkomitee sich erst beteiligte, als die Bewegung bereits in vollem Gange war; in Folge stärkte die höchste Parteiführung die Demonstrationen. Impulsive Elemente der Petrograder Parteiorganisation und der bolschewistischen Militärorganisation schlugen, ihren militanten Wählern gegenüber verantwortlich und in Angst, Stimmen an die Anarchisten zu verlieren, einen weit radikaleren Kurs ein; einige Honoratioren des Petersburger Komitees produzierten und verbreiteten im Namen der Partei ein Flugblatt für den sofortigen Sturz der Provisorischen Regierung und der Gefangennahme der Kabinettmitglieder.» (38)
Das unmittelbare Anliegen der Demonstration war der Protest gegen die Pläne der Fortsetzung des Kriegs. Aber diese Forderung erhob die Frage der Macht. Die Aprilmobilisierungen waren die ersten in einer ganzen Reihe von Massendemonstrationen, in denen die Basis versuchte, die Regierung und die Sowjetführung dazu zu bringen, ihre Angebote zu setzen. Im Wesentlichen spielte sie dabei die Rolle von Kundschaftern im Krieg, erprobte die Schwäche des Feindes und erlaubte den ArbeiterInnen und Soldaten, ihre Stärke auf der Strasse zu zeigen. Bedeutsamerweise verstreuten sich die DemonstrantInnen erst auf Aufruf des Petrograder Sowjet, während sie sich entsprechenden Befehlen der Regierung offen widersetzten. Dieses Detail sagt alles. Die wahre Macht war in den Händen nicht der Provisorischen Regierung, die die Massen hassten und die ihr misstrauten, sondern in den Händen der reformistischen Führenden, der «gemässigten SozialistInnen» in der Sowjetexekutive, die sie fürchtete wie der Teufel das Weihwasser. Die Volksmassen waren gezwungen, die ReformistInnen am Genick zu packen und sie in die Regierung zu stossen. Das war die wahre Bedeutung der Aprildemonstrationen. Der plötzliche Ausbruch der Massen auf der Strasse hatte ein sofortiges Ergebnis. Die Regierung geriet in die Krise, in der die Bourgeoisie gezwungen war, die heisse Kartoffel an die reformistische Führung abzugeben.
Die Aprildemonstration war der erste ernsthafte Kräftetest zwischen den ArbeiterInnen und der Provisorischen Regierung und ihren rechtslastigen sozialistischen Stützen. Und er war erfolgreich. Zwei der bürgerlichen Minister, gehasst wegen ihrer kriegstreibenden Politik, Gutschkow und Miljukow, waren zum Rücktritt gezwungen und verschiedene Führungskräfte des Sowjets kamen in die Regierung. Der georgische Menschewik Iraklii Zereteli wurde Minister für Post und Telegrafie. Der alte Sozialrevolutionär Victor Tschernow wurde Landwirtschaftsminister. Alexej Peschekonow, Kopf der Sozialistischen Volkspartei, wurde Minister für Nahrungsversorgung. Pavel Perewersew belegte den Posten des Justizministers und Kerenski wurde Minister für Krieg und Marine. So übernahmen diese Sowjetführer direkte Verantwortung für die Provisorische Regierung, anstatt sie von aussen zu unterstützen. Die erste Koalition war gebildet.
Die Massen begrüssten das weitgehend als ein Signal dafür, dass «ihre» Minister irgendwie eine Kursänderung in der Regierung bringen würden. Doch Lenin kritisierte die Teilnahme der Menschewiki und der SozialrevolutionärInnen sofort und strich heraus, dass mit dem Eintritt in die bürgerliche Provisorische Regierung die SozialrevolutionärInnen und die Menschewiki «diese (…) vor dem Zusammenbruch (retteten) und (…) sich zu ihren Dienern und Verteidigern machen (liessen)» (39). Die Sowjetspitzen waren tatsächlich Geiseln der bürgerlichen Minister, die alle Anordnungen trafen. Sie akzeptierten ministerielle Portfolios, während die wahre Macht in den Händen der Grundbesitzenden und KapitalistInnen lag, abgesehen davon, dass es eine andere alternative Macht gab, die sehnlich darauf wartete, dass ihre dringendsten Probleme gelöste würden. Vergebliche Hoffnung! Verschreckt vom Angriff auf die Bourgeoisie, die nach dem Dogma der «zwei Stufen» regieren sollte, handelten die reformistischen Führungskräfte bloss als linkes Feigenblatt für die Provisorische Regierung, die wiederum nur ein Fassade war, hinter der sich die Kräfte der Reaktion neu gruppierten und für einen Gegenangriff rüsteten, nachdem die Massen ausreichend demoralisiert und von der Schule der Koalitionspolitik enttäuscht wären.
Diese Koalition der ArbeiterInnenführenden mit der Bourgeoisie war mit unlösbaren Widersprüchen durchsetzt, die sie von Anfang an lähmten. Das ist in allen solchen Koalitionen notwendigerweise ähnlich, vom Millerandismus in Frankreich über die Lib-Lab-Politik der britischen ArbeiterInnenführerInnen bis hin zu den sogenannten Volksfrontregierungen in Frankreich und Spanien in den 1930ern. Alle waren gerechtfertigt im Namen der «Einheit der fortschrittlichen Kräfte» und der «nationalen Einheit» – der hohlsten aller Losungen, die nur die «Einheit» des Pferdes und seines Reiters bezeichnen kann.
In Wirklichkeit nutzt über solche Koalitionen die Bourgeoisie die ArbeiterInnenführung aus und diskreditiert sie, um die Massen zu demoralisieren, während sie hinter der Bühne die Reaktion vorbereitet. Die Provisorische Regierung nach dem April war typisch für diese Art von Koalition. Die Sowjetspitzen wurden in jene Ministerien gesetzt, die sie in Konflikt mit den Bestrebungen der ArbeiterInnen und Bauern bringen würden – Arbeit, Landwirtschaft und so weiter. Kerenski etwa, der eine gewisse Popularität genoss, wurde damit betraut, die Soldaten auf Linie zu bringen und sie zur Akzeptanz der Notwendigkeit einer neuen Offensive im Namen von «Frieden, Fortschritt und Demokratie» zu bewegen.
Der Eintritt der «sozialistischen» Minister in die Provisorische Regierung war ein Wendepunkt. Ab jetzt konnten die ArbeiterInnen und Bauern Worte und Taten vergleichen. Damit war der Boden bereitet, die reformistischen Führenden in der Praxis zu erleben. Das war eine Seite der Frage. Doch das entscheidendste Element war die Tatsache, dass unter Lenins Leitung die Bolschewiki sich der Koalition enthalten hatten und eine unversöhnliche Opposition aufrecht erhielten. Was einigen als eine utopische und sektiererische Haltung erschienen war, erwies sich nun als die einzig realistische Position für eine revolutionäre Partei. Das war der Schlüssel zum Erfolg für die Bolschewiki und der Grund, warum sie in den folgenden Monaten auf Kosten der Menschewiki und der SozialrevolutionärInnen so rasch wuchsen. Wie Rabinowitsch beobachtet: «Nachdem sie sich in der ersten Koalition befanden, wurden die gemässigten Sozialisten in der öffentlichen Wahrnehmung mit den Unzulänglichkeiten der Provisorischen Regierung gleichgesetzt. Nur die Bolschewiki blieben unter den grösseren russischen politischen Gruppen von einer solchen Verbindung mit der Regierung unberührt und waren somit völlig frei, die Opposition zu organisieren, was die Partei zu ihrem Vorteil nutzte.» (40)
Doch der revolutionäre Flügel sah sich einem Eroberungskampf ausgesetzt, der zuerst unmöglich erschienen haben musste. Ihre Losungen wirkten für die Massen viel zu fortschrittlich. Die menschewistischen und sozialrevolutionären Kader boten da eine offenbar viel leichtere Option an. Die Revolution hatte triumphiert. Russland war jetzt das freieste Land der Welt. Mit ein wenig Geduld würde alles gelöst werden. Jeder sollte seinen Beitrag zur Vereinigung leisten und seine Differenzen ablegen und alles wäre in Ordnung. Der enorme Druck in Richtung Vereinigung war einer der Gründe, warum Kamenew und Stalin vor den Menschewiki vor Lenins Rückkehr kapituliert hatten.
Ihr Fehler war, nur die konkrete Situation vor ihnen zu sehen und nicht den ihr zugrundeliegenden Prozess, der bald alles auf den Kopf stellen sollte. Die philosophische Basis aller Arten von Reformismus ist vulgärer Empirismus, der sich als «Realismus» verkleidet oder, wie es Trotzki einmal ausdrückte, die sklavische Verehrung der etablierten Tatsachen. Aber was in einem Moment Tatsache ist, kann im nächsten zur Fiktion werden. Damit die Massen die nötigen Schlüsse zögen, waren zwei Dinge notwendig: erstens, dass die Werktätigen mittels ihrer eigenen Erfahrung ihre wahre Situation verstehen und zweitens, dass es eine revolutionäre Partei mit einer weitsichtigen Führung gibt, die dazu imstande ist, mit ihnen die Erfahrung zu durchleben und ihre Bedeutung in jedem Stadium zu erklären.
Doch die Massen kommen nicht alle gleichzeitig zu diesen Schlussfolgerungen. Im Juni/Juli hatte eine Schicht fortschrittlicher ArbeiterInnen und Seeleute in Petrograd eine Bilanz der Provisorischen Regierung und der Sowjetführung gezogen und fand sie mangelhaft. Ebenso wollte ein Teil der bolschewistischen Partei unter dem Einfluss der Ungeduld im Nachhall der Ultralinken und AnarchistInnen zu schnell zu weit gehen; sie erhoben die Losung «Nieder mit der Provisorischen Regierung». Das war die Losung des Aufstands. Welche Haltung nahm Lenin ein? Er wies das völlig zurück. Warum? Weil eine solche Losung überhaupt nicht mit dem wirklichem Entwicklungsstand, auf dem sich die Bewegung befand, übereinstimmte.
Lenin, der ein Revolutionär bis in die Fingerspitzen war, wandte sich trotzdem gegen die Losung und orientierte die Partei statt dessen auf die Eroberung der Massen durch beständiges «geduldiges Erklären». Das Problem war, dass die Massen der Arbeiterklasse in den rückständigeren Provinzen bis jetzt die Rolle der reformistischen Führenden in den Sowjets nicht verstanden hatten, die Bauern noch weniger. Die Bolschewiki hatten die fortschrittlichsten Teile der Klasse gewinnen können. Doch es wäre in fataler Fehler gewesen, diese mit der weniger bewussten Mehrheit, die noch immer Illusionen in die Menschewiki und die SozialrevolutionärInnen hatte, zusammenzubringen. Sich auf die fortschrittlichen ArbeiterInnen stützend mussten die Bolschewiki nun den Weg finden, die Mehrheit zu gewinnen.
Das explosive Wachstum des Bolschewismus in den neun Monaten von Februar bis Oktober ist ein Phänomen, für das eine Parallele in der Geschichte der politischen Parteien kaum zu finden ist. Das Jahr 1917 fasst die Essenz und Bedeutung der Geschichte des Bolschewismus perfekt zusammen. Alle Programme, Politik, Taktiken und Strategien sind endlich dem Lackmustest der Praxis unterworden. Nie ist diese Behauptung wahrer als im Lauf einer Revolution. Im Rückblick auf die Erfahrung der Russischen Revolution meinte Trotzki:
»Wir müssen uns erinnern, dass am Anfang 1917 die bolschewistische Partei nur eine unbedeutende Anzahl an Arbeitern anführte. Nicht nur in den Soldaten-, auch in den Arbeitersowjets umfasste die bolschewistische meist ein bis zwei, bestenfalls fünf Prozent. Die führenden Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie (Menschewiki und sogenannte Sozialrevolutionäre) hatten die restlichen mindestens 95 Prozent der Arbeiter, Soldaten, und Bauern, die am Kampf teilnahmen. Die Führer dieser Parteien nannten die Bolschewiki erst Sektierer und dann … Agenten des deutschen Kaisers. Aber nein, die Bolschewiki waren keine Sektierer! Ihre gesamte Aufmerksamkeit war auf die Massen gerichtet, mehr noch, nicht auf ihre Oberschicht, sondern auf die unteren, die unterdrücktesten Millionen und Abermillionen, auf die die parlamentarischen Schwätzer meist vergessen. Genau um die Proletarier und die Halbproletarier aus Stadt und Land zu führen, betrachteten es die Bolschewiki als notwendig, sich selbst scharf von allen anderen Fraktionen und Gruppierungen der Bourgeoisie abzugrenzen, beginnend bei den falschen «Sozialisten», die in Wirklichkeit Agenten der Bourgeoisie sind.» (41)
Wie wir gesehen haben, konnte die bolschewistische Partei vor dem Krieg die entscheidende Mehrheit der organisierten Werktätigen gewinnen. Gewissermassen war sie die traditionelle Partei der Arbeiterklasse in Russland. Aber während des Kriegs veränderte sich das Kräftegleichgewicht der Klassen drastisch. Die Jugend – die natürliche «Wählerschaft» des Bolschewismus – war in der Armee. Ein grosser Teil der erfahrenen Kader war ebenfalls an der Front, wo sie in einem Meer rückständiger und politisch ungebildeter Bauern aufgingen. Die ArbeiterInnenorganisationen waren durch Gefängnisstrafen dezimiert. Die Werktätigen liessen den Kopf hängen. Der Zustrom einer grossen Anzahl unerfahrener Elemente in den Fabriken – Bauern, Frauen, Jugendliche – machte es vorerst noch schlimmer. Unter solchen Bedingungen war kein ernsthafter Fortschritt möglich. Es musste reichen, die übrigen Führungskräfte zusammenzuhalten und sich auf ein Umschlagen der Situation vorzubereiten.
Es ist schwierig, die Mitgliedschaft der bolschewistischen Partei von 1917 einigermassen genau zu berechnen, verschiedene AutorInnen geben verschiedene Schätzungen ab. Die «offizielle» Schätzung der Bol’shoya Sovietskaya Encyclopaedia lautet auf 23.600 für Januar 1917, vor dem Beginn der Revolution, aber dieses Ratewerk ist sicher eine Übertreibung. Die Zahl von 8.000 Mitgliedern in ganz Russland ist wahrscheinlich nicht weit von der Wahrheit entfernt. Rabinowitsch behauptet, dass es in Petrograd im Februar 2.000 Mitglieder gab und dass die nationale Mitgliedschaft der Partei sich mit April auf 16.000 verdoppelte: «Im Februar gab es etwa 2.000 Bolschewiki in Petrograd. Bei der Eröffnung der Aprilkonferenz hatte sich die Parteimitgliedschaft auf 16.000 verdoppelt. Ende Juni hatte sie 32.000 erricht, nachdem 2.000 Garnisonsoldaten der bolschewistischen Militärorganisation und 4.000 Soldaten in den «Club Prawda» eingetreten waren.»
Die überwältigende Mehrheit der neuen RekrutInnen war sehr grob, wie derselbe Autor schildert: «Das rasche Wachstum der Partei seit Februar hatte die Reihen mit Militanten, die so gut wie nichts über Marxismus wussten und in wenig mehr als der immensen Ungeduld bezüglich sofortiger revolutionärer Aktion geeint waren, überschwemmt.» (42) Der grosse Zustrom neuer frischer Mitglieder, viele von ihnen Jugendliche (die Menschewiki nannten die Bolschewiki verächtlich eine «Partei der Kinder»), war mit ein Grund, warum Lenin in der Überwindung des Widerstands der konservativen alten Bolschewiki Erfolg haben konnte. Das veränderte die Partei. Marcel Liebman betont, dass «Anfang April 1917 die bolschewistische Partei von einem ständigen Zustrom neuer AnhängerInnen bestärkt wurde. Dieser Zustrom hatte die Wirkung der Zerstörung des Kerns der alten Bolschewiki, die sich als die WächterInnen der leninistischen Orthodoxie betrachteten und die unter dem Gewicht neuer GenossInnen, die durch die revolutionären Geschehnisse radikalisiert worden und nicht von den Prinzipien dieser Orthodoxie gelähmt waren, versanken.» (43)
Das bedeutsamste Kennzeichen der bolschewistischen Partei von 1917 war ihre Jugendlichkeit. Mit einer Ausnahme waren alle Mitglieder des Moskauer Parteibüros unter 30 Jahre alt. Es gab einen Konflikt zwischen dem Büro und dem Moskauer Parteikomitee, das aus älteren, konservativeren Parteiangehörigen bestand. In seiner Biografie Bucharins beschreibt Stephen F. Cohen die Situation der Bolschewiki in Moskau: «Die Mehrheit des Moskauer Komitees unterstützte schliesslich den Aufstand, doch war die Antwort auf den von Lenin und der Linken gesetzten radikalen Kurs durchwegs schwerfällig und halbherzig. Die meisten Seniormitglieder glaubten, dass ‚die Kräfte, die objektiven Bedingungen dafür nicht bestehen’, wie einer von ihnen insistierte. Büroleiter, die dauernd ihre Altvorderen antrieben, blieben bis Oktober besorgt, dass diese ‚friedliebende’ Stimmung und dieses ‚bedeutsame Schwanken’ im Moskauer Komitee sich ‚im entscheidenden Moment’ als fatal herausstellen könnte. Folglich neigten trotz der radikalen Unterstützung einiger älterer Moskauer Bolschewiki die jungen Moskauer dazu, den endgültigen Sieg in Moskau als ihre persönliche Errungenschaft zu betrachten, als Kraftakt ihrer Generation. Wie Osinski später sagte, hatten sie den Kampf um die Macht ‚gegen wesentlichen Widerstand eines grossen Teils der älteren Generation der Moskauer Funktionäre’ geführt.» (44)
Nachdem die Partei für das Ziel einer neuen von der Arbeiterklasse geführten Revolution gewonnen war, meinte Lenin, dass der nächste Schritt in der Gewinnung der Massen lag. Nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt liegen als die oft wiederholte Verleumdung, dass Lenin ein Verschwörer gewesen wäre, erpicht auf die Machtergreifung durch eine Minderheit von RevolutionärInnen, wie es Blanqui, der grosse französische Revolutionär des 19. Jahrhunderts, befürwortet hatte. Ohne einen Moment die persönliche Aufrichtigkeit und Heldenhaftigkeit Blanquis, der wichtige Einsichten über die Technik eines Aufstands entwickelt hatte, zu bezweifeln, hatte Lenin nie die Ansicht, dass die sozialistische Revolution von einer entschlossenen Minderheit erbracht werden könnte.
Sein ganzes Leben erhielt sich Lenin einen brennenden Glauben in das revolutionäre Potenzial und die kreative Kapazität der Arbeiterklasse. Sozialismus muss seine Grundlage in der ureigenen Bewegung des Proletariats haben, seiner aktiven Teilhabe und Kontrolle der Gesellschaft, vom allerersten Moment an. Auch vor seiner Rückkehr nach Russland gab es eine Reihe von Bolschewiki, die, veranlasst durch Ungeduld, die Losung «Nieder mit der Provisorischen Regierung» erhoben hatten. Das war eine ultralinke Losung, denn die Massen der ArbeiterInnen befand sich noch unter dem Einfluss der reformistischen Führung der Sowjets, die die Provisorische Regierung unterstützten. Die Aufgabe, die sich der bolschewistischen Partei zu jenem Zeitpunkt stellte, war nicht die Eroberung der Macht, sondern die Eroberung der Massen. Diese Idee fand ihren Ausdruck in Lenins gefeierter Parole: Geduldig erklären!
Die bolschewistische Partei hatte erfolgreich eine bedeutsame Anzahl bewusstester und fortschrittlicher Schichten der Klasse für sich gewonnen. Ihr Einfluss wuchs, besonders in Petrograd, stündlich. Doch das war nicht genug. Um die Gesellschaft zu verändern, reicht es nicht, die Unterstützung der Avantgarde zu haben oder eine Partei mit zehntausenden Mitgliedern zu sein. Es ist nötig, die Millionen politisch rückständiger ArbeiterInnen und, im Falle Russlands, zumindest einen grossen Teil der Bauernschaft, beginnend bei den mittellosen Bauern und dem ländlichen Proletariat und Semi-Proletariat, zu gewinnen. Im Frühling 1917 stand diese riesige Aufgabe noch in ihren frühen Anfängen. Es war wesentlich, dass die bolschewistischen Werktätigen dem Rest der Klasse einen Weg eröffneten, besonders für die Provinzen, die Illusionen in die reformistischen Führungen hatten. Es war notwendig, zu ihnen in einer Sprache zu sprechen, die sie verstehen konnten und ultralinke Gesten, die sie verschrecken würden, zu vermeiden.
Lenin verstand, dass die Arbeiterklasse aus Erfahrung lernt, besonders aus der Erfahrung grosser Ereignisse. Der einzige Weg, auf dem eine revolutionäre Tendenz, die sich noch in der Minderheit befindet, das Ohr der Massen gewinnen kann, liegt in der Verfolgung des Verlaufs der Ereignisse Schulter an Schulter mit den Massen, in der Teilnahme an den alltäglichen Kämpfen, die sich ergeben, in der Entwicklung von Losungen, die dem aktuellen Stadium der Bewegung entsprechen und in der geduldigen Erklärung der Notwendigkeit der völligen Transformation der Gesellschaft als einzigen Ausweg. Schrille Schreie nach Aufstand und Bürgerkrieg werden die Massen oder auch bloss die fortschrittlichen Schichten nicht erreichen, sondern sie bloss verschrecken. Wie wir zuvor gesehen haben, stimmt das auch inmitten einer Revolution. Es ist im Gegenteil nötig, die Verantwortung für Gewalt und Bürgerkrieg auf die Schultern der reformistischen Spitzen zu laden, die es in der Hand haben, die Macht friedlich zu übernehmen oder, durch ihre Weigerung, Blutvergiessen unvermeidlich zu machen.
In der Erkenntnis, dass die herrschende Klasse die ArbeiterInnen zu voreiligen Gewaltakten provozieren wollte, prangerte Lenin jene an, die ihn bezichtigten, für den Bürgerkrieg zu stehen. Er wies es wiederholt zurück, dass die Bolschewiki für Gewalt eintraten und sprach die volle Verantwortung für Gewalt der herrschenden Klasse zu. Das passte den Ultralinken überhaupt nicht, die nicht verstanden, dass neun Zehntel der Aufgabe der sozialistischen Revolution darin liegen, die Massen mittels Propaganda, Agitation, Erklärung und Organisation zu gewinnen. Ohne all das ist alles Gerede von Bürgerkrieg und Aufstand unverantwortliche Abenteurerei oder, wie es in der wissenschaftlichen Terminologie des Marxismus ausgedrückt wird, Blanquismus.
Lenin sagt dazu: «Wenn wir vom Bürgerkrieg reden, noch ehe die Menschen seine Notwendigkeit begriffen haben, verfallen wir unzweifelhaft in Blanquismus.» (45)
Es waren nicht die Bolschewiki, sondern die Bourgeoisie und ihre reformistischen Verbündeten, die dauernd das Gespenst von Gewalt und Bürgerkrieg beschworen. Lenin wies wiederholt jede Unterstellung, dass die Bolschewiki Gewalt befürworten würden, zurück. Am 25. April protestierte er in der Prawda gegen «dunkle Andeutungen» von «Minister Nekrasow» bezüglich des «Predigens der Gewalt» durch die Bolschewiki: «Sie lügen, Herr Minister und Mitglied der Partei der ‚Volksfreiheit’. Gewaltpropaganda betreibt Herr Gutschkow, wenn er Soldaten, die ihre Vorgesetzten absetzen, Strafen androht, Gewaltpropaganda betreibt die Ihnen befreundete Russkaja Wolja, die Pogromzeitung der Pogrom‚republikaner’.
Die Prawda und ihre Gesinnungsgenossen betreiben nicht nur keine Gewaltpropaganda, im Gegenteil, völlig klar, eindeutig und bestimmt erklären sie, dass der Schwerpunkt unserer Arbeit jetzt ganz und gar in der Aufklärung der proletarischen Massen über ihre proletarischen Aufgaben liegt, die sie von dem vom chauvinistischen Taumel ergriffenen Kleinbürgertum unterscheiden.» (46)
Am 21. April (4. Mai) verabschiedete das Zentralkomitee der Bolschewiki eine von Lenin verfasste Resolution. Das Ziel der Resolution war die Beschränkung der lokalen Petrograder Führung, die den Ereignissen vorauslief. Sie zielte darauf ab, die Verantwortung für jedwede Gewalt der Provisorischen Regierung und ihren Unterstützenden aufzubürden und beschuldigte die «kapitalistische Minderheit des Widerwillens, sich dem Willen der Mehrheit zu unterwerfen.» Hier zwei Absätze aus der Resolution:
«1. Die Agitatoren und Redner der Partei müssen die niederträchtige Lüge der kapitalistischen und kapitalistenfreundlichen Zeitungen entlarven, wonach wir angeblich mit dem Bürgerkrieg drohen. Das ist eine niederträchtige Lüge, denn gerade im gegenwärtigen Augenblick, solange die Kapitalisten und ihre Regierung nicht imstande sind und es nicht wagen, Gewalt gegen die Massen anzuwenden, solange die Soldaten- und Arbeitermasse ihren Willen frei kundtut und alle Behörden frei wählt und absetzt – in einem solchen Augenblick ist jeder Gedanke an einen Bürgerkrieg naiv, sinnlos, absurd, in einem solchen Augenblick ist die Unterordnung unter den Willen der Mehrheit der Bevölkerung und die freie Kritik an diesem Willen seitens der unzufriedenen Minderheit notwendig; wenn es zu Gewalttätigkeiten kommt, so fällt die Verantwortung auf die Provisorische Regierung und ihre Anhänger.
2. Die Regierung der Kapitalisten und ihre Zeitungen verhüllen durch ihr Geschrei gegen den Bürgerkrieg nur die Tatsache, dass sich die Kapitalisten, die bekanntlich eine verschwindende Mehrheit des Volkes ausmachen, nicht dem Willen der Mehrheit unterordnen wollen.» (47)
In all seinen Reden und Artikeln der ersten Jahreshälfte von 1917 betont Lenin die Möglichkeit und die Erwünschtheit einer friedlichen Machtübergabe an die Sowjets. Er meinte sogar, dass den KapitalistInnen, deren Industrie übernommen würde, eine Entschädigung ausgezahlt werden könnte, unter der Bedingung, dass sie ihre Fabriken ohne Sabotage aushändigten und im Prozess der Reorganisation der Produktion kooperierten: «Bange machen gilt nicht, Herr Schulgin! Selbst wenn wir an die Macht kommen, werden wir Sie nicht ‚ausziehen’, sondern Ihnen gute Kleidung und gutes Essen garantieren unter der Bedingung, dass Sie eine Arbeit leisten, die Ihren Kräften und Gewohnheiten durchaus entspricht!» (48)
Jeder weiss, dass das die zentrale Losung Lenins und der Bolschewiki von 1917 war. Doch nur sehr wenige Menschen verstanden den wahren Gehalt dieser Losung. Was war die konkrete Bedeutung der Losung «Alle Macht den Sowjets»? Bürgerkrieg? Aufstand? Die Machtergreifung durch die Bolschewiki? Weit davon entfernt. Die Bolschewiki waren in den Sowjets eine Minderheit, dominiert von den reformistischen Parteien, den SozialrevolutionärInnen und Menschewiki. Die zentrale Aufgabe war nicht die Ergreifung der Macht, sondern die Gewinnung der Mehrheit, die Illusionen in die ReformistInnen hatte. Die Bolschewiki gründeten ihre «geduldige Erklärung» auf das Argument, das in den Schriften und Reden Lenins vom März an bis zum Vorabend des Oktoberaufstands immer wieder wiederholt wurde, dass die reformistische Führung die Macht in ihre eigenen Hände nehmen sollte, dass das eine friedliche Veränderung der Gesellschaft bewirken würde, dass die Bolschewiki von ganzem Herzen dafür wären und dass, sollten die reformistischen Kader die Macht übernehmen, die Bolschewiki sich auf den friedlichen Kampf um eine Mehrheit innerhalb der Sowjets beschränken würden.
Hier ein paar Beispiele, wie Lenin diese Frage stellte (es gibt viele weitere): «Allem Anschein nach haben nicht alle Anhänger der Losung ‚Übergang der gesamten Macht an die Sowjets!’ zur Genüge erfasst, dass das die Losung der friedlichen Vorwärtsentwicklung der Revolution war. Friedlich nicht nur in dem Sinne, dass sich niemand, keine Klasse, keine ernsthafte Kraft von damals (vom 27. Februar bis zum 4. Juli) dem Übergang der Macht an die Sowjets hätte widersetzen und ihn verhindern können. Das ist noch nicht alles. Die friedliche Entwicklung wäre damals möglich gewesen, sogar in der Beziehung, dass der Kampf der Klassen und Parteien innerhalb der Sowjets, wenn die ganze Fülle der Staatsmacht rechtzeitig an die Sowjets übergegangen wäre, sich möglichst friedlich und schmerzlos hätte abspielen können.» (49)
Nach dem Versagen des Kornilow-Aufstands stellte Lenin in einem Artikel mit dem Titel Über Kompromisse wieder die Losung «Alle Macht den Sowjets» auf und befürwortete einen Kompromissvorschlag an die reformistischen FührerInnen, in dem die Bolschewiki die Idee eines Aufstands nicht weiter vorantreiben würden, wenn die Sowjetführung mit der Bourgeoisie bräche und die Macht in ihre Hände nähme. Das wäre nach dem Zusammenbruch der konterrevolutionären Offensive leicht möglich gewesen. Die Reaktionären waren demoralisiert und orientierungslos. Die ArbeiterInnen waren zuversichtlich und eine massive Mehrheit unterstützte die Machtübergabe an die Sowjets. Unter solchen Bedingungen hätte die Revolution friedlich durchgeführt werden können, ohne Gewalt und Bürgerkrieg. Nichts hätte das verhindern können. Ein Wort von der Sowjetführung hätte genügt. Danach hätte die Frage, welche Partei regieren würde, innerhalb der Sowjets in friedlicher Debatte behandelt werden können:
«Weitere Bedingungen würden die Bolschewiki, denke ich, nicht stellen, da sie sich darauf verlassen, dass die tatsächlich volle Agitationsfreiheit und die unverzügliche Verwirklichung eines neuen Demokratismus bei der Zusammensetzung (Neuwahlen) und der Tätigkeit der Sowjets die friedliche Vorwärtsentwicklung der Revolution und das friedliche Austragen des Parteienkampfes innerhalb der Sowjets ganz von selbst sichern würden.
Vielleicht ist das schon nicht mehr möglich? Vielleicht. Aber wenn auch nur eine Chance unter hundert besteht, so wäre der Versuch, eine solche Möglichkeit zu verwirklichen, immerhin wert, gemacht zu werden.» (50)
Lenin war fest davon überzeugt, dass eine friedliche Revolution nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich war, unter einer Bedingung – dass die reformistische Führung in den Sowjets die Macht übernahm, anstatt all ihre Energie der Stützung der Herrschaft der Landbesitzenden und KapitalistInnen zu widmen. Doch ihre Weigerung, die Macht zu übernehmen, insbesondere nach der Niederlage Kornilows, bedrohte Russland mit einer Katastrophe. Das ist der ewige Widerspruch des Reformismus – dass er, trotz allen Klammerns an die Vorstellung einer langsamen, allmählichen, friedlichen Veränderung der Gesellschaft, immer die erschütterndsten, katastrophalsten und gewalttätigsten Bedingungen schafft und den Weg für den Sieg der Reaktion bereitet. Lenin spottete über die Zögerlichkeiten und Schwankungen der Menschewiki und SozialrevolutionärInnen, die es ablehnten, mit der Bourgeoisie zu brechen und die Macht zu übernehmen. Wie immer versuchten die ReformistInnen die Massen mit der behaupteten Gefahr eines Bürgerkriegs zu ängstigen, eine Behauptung, die Lenin mit wohlverdienter Verachtung und Verspottung behandelte. In seinem Artikel Die Russische Revolution und der Bürgerkrieg beantwortet Lenin diese Argumente Punkt für Punkt:
«Wenn es eine absolut unstrittige, durch die Tatsachen restlos bewiesene Lehre der Revolution gibt, so nur die, dass einzig und allein ein Bündnis der Bolschewiki mit den Sozialrevolutionären und Menschewiki, einzig und allein der sofortige Übergang der ganzen Macht in die Hände der Sowjets einen Bürgerkrieg in Russland unmöglich machen würde. Denn gegen ein solches Bündnis, gegen die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten ist kein von der Bourgeoisie eröffneter Bürgerkrieg denkbar, ein solcher ‚Krieg’ würde es nicht einmal bis zur ersten Schlacht bringen, die Bourgeoisie würde ein zweites Mal, nach dem Kornilowputsch, nicht einmal eine ‚Wilde Division’, nicht einmal die frühere Anzahl von Kosakenabteilungen finden, die sie gegen die Sowjetregierung werden könnte!»
Er argumentiert, dass eine Regierung, die sich selbst auf die Massen der ArbeiterInnen und Bauernschaft stützt, die dem Krieg ein Ende setzt, die den Bauern Land gibt und im Interesse des arbeitenden Volks handelt, den Widerstand der besitzenden Klassen beiseite fegen könnte und dass auf dieser Grundlage «Augenblicklich (…) die friedliche Entwicklung der Revolution, wenn die ganze Macht an die Sowjets übergeht, möglich und wahrscheinlich (ist). Innerhalb der Sowjets kann der Machtkampf der Parteien friedlich verlaufen, wenn die Sowjets voll und ganz demokratisch sind, wenn sie auf solche ‚kleine Diebereien’, auf solchen ‚Diebstahl’ an den demokratischen Prinzipien verzichten, wie die Gewährung eines Vertreters auf je fünfhundert Wähler bei den Soldaten, aber auf je tausend bei den Arbeitern. In der demokratischen Republik sind solche kleine Diebereien zum Aussterben verurteilt.
Gegen die Sowjets, die allen Boden ohne Ablösung den Bauern übergeben und allen Völkern einen gerechten Frieden anbieten, gegen diese Sowjets ist jedwedes Bündnis der englisch-französischen und der russischen Bourgeoisie, der Kornilow, Buchanan, Rjabuschinski, der Miljukow, Plechanow und Potressow völlig ungefährlich, völlig ohnmächtig.
Der Widerstand der Bourgeoisie gegen die entschädigungslose Übergabe des Bodens an die Bauern, gegen ebensolche Umgestaltungen auf anderen Lebensgebieten, gegen einen gerechten Frieden und den Bruch mit dem Imperialismus ist selbstverständlich unvermeidlich. Aber damit dieser Widerstand sich bis zum Bürgerkrieg steigere, bedarf es irgendwelcher Massen, die fähig sind zu kämpfen und die Sowjets zu besiegen. Über solche Massen aber verfügt die Bourgeoisie nicht, und sie wird sie nirgendwo hernehmen können.» (51)
Es ist erstaunlich, dass sogar jetzt Lenins Ansatz zur Machtfrage nicht verstanden wurde. Nicht nur die bürgerlichen FeindInnen des Bolschewismus bemühten sich unaufhörlich, Lenin das Etikett eines gewalttätigen Fanatikers anzuheften, wild entschlossen zu Blut und Chaos (Orlando Figes ist der Letzte, der mit dieser abscheulichen Verzerrung hausiert), sondern unglaublicherweise auch viele der sektiererischen Grüppchen, die aus irgendeinem Grund sich selbst für große LeninistInnen hielten, wiederholten denselben kindischen Unsinn über die Unausweichlichkeit von Gewalt und Bürgerkrieg, ohne nur zu erkennen, dass Lenins Position gerade das Gegenteil war. In Dutzenden Artikeln und Reden im Verlauf von 1917 erklärte Lenin, dass die Vorstellung, dass Revolution notwendigerweise Blutvergießen bedeutete, eine reaktionäre Lüge war, absichtlich in Umlauf gebracht von der Bourgeoisie und ReformistInnen, um die Massen zu ängstigen:
«Man spricht von Strömen von Blut im Bürgerkrieg. Das steht in der oben angeführten Resolution der Kornilowkadetten. Diese Phrase wiederholen in tausend Tonarten alle Bourgeois und alle Opportunisten. Alle klassenbewussten Arbeiter lachen darüber und werden darüber lachen, nach dem Kornilowputsch können sie gar nicht anders.» (52)
Wenn wir die Weltgeschichte der letzten hundert Jahre untersuchen, sehen wir, dass in unzähligen Gelegenheiten und in vielen Ländern die Arbeiterklasse wie auch 1917 die Macht friedlich übernehmen hätte können, wenn die Führenden der Gewerkschaften und der grossen sozialistischen und kommunistischen Parteien es gewollt hätten. Doch wie die russischen Menschewiki und SozialrevolutionärInnen hatten sie keine Absicht, die Macht zu übernehmen. Sie fanden tausendundein «schlaue» Argumente, um zu zeigen, dass «die Zeit nicht reif war», das «Kräfteverhältnis nicht vorteilhaft war» und natürlich, dass es die Gefahr von Bürgerkrieg, Gewalt, Blutvergiessen auf den Strassen gab und so weiter. Das war das Argument der deutschen ArbeiterInnenführungen 1933, als Hitler sich rühmte, an die Macht gekommen zu sein, «ohne auch nur eine Fensterscheibe eingeschlagen zu haben», obwohl die deutschen ArbeiterInnenorganisationen die mächtigsten der Welt waren. Es ist immer dieselbe Geschichte mit diesen Damen und Herren. Ihre reformistische «Allmählichkeit» führt immer in die Katastrophe. Wenn es Blutvergiessen gibt, ist es immer das Ergebnis dieser Politik der Klassenkollaboration, des parlamentarischen Kretinismus, der Volksfrontlerei, die sich selbst als «realistisch» und «praktisch» betrachtet, aber sich am Ende immer als die schlimmste Art von Utopismus herausstellt.
«Unser Geschäft ist es, alles nur Mögliche dazu zu tun, die ‚letzte’ Chance für eine friedliche Entwicklung unserer Revolution sicherzustellen, indem wir unser Programm präsentieren, indem wir seinen allgemeinen nationalen Charakter und seine absolute Übereinstimmung mit den Interessen und Forderungen einer enormen Mehrheit der Bevölkerung klarstellen.
Einmal an der Macht könnte der Sowjet immer noch – und das ist wahrscheinlich seine letzte Chance – eine friedliche Entwicklung der Revolution gewährleisten, friedliche Wahlen der Abgeordneten durch das Volk, einen friedlichen Kampf der Parteien innerhalb der Sowjets, eine Prüfung der verschiedenen Parteiprogramme in der Praxis, ein friedliches Überwechseln der Macht von einer Partei zur anderen.» (53)
Und so fasst Trotzki die Position in der Geschichte der Russischen Revolution zusammen:
«Die Übergabe der Macht an die Sowjets bedeutete unmittelbar den Übergang der Macht an die Versöhnler. Das konnte sich friedlich abspielen, durch einfache Entlassung der bürgerlichen Regierung, die sich durch den guten Willen der Versöhnler und die Reste des Vertrauens der Massen zu diesen hielt. Die Diktatur der Arbeiter und Soldaten war Tatsache seit dem 27. Februar. Aber Arbeiter und Soldaten legten sich über diese Tatsache nicht die nötige Rechenschaft ab. Sie vertrauten die Macht den Versöhnlern an, die ihrerseits diese der Bourgeoisie übergaben. Das Kalkül der Bolschewiki auf eine friedliche Entwicklung der Revolution beruhte nicht darauf, dass die Bourgeoisie freiwillig die Macht den Arbeitern und Soldaten abtreten würde, sondern darauf, dass die Arbeiter und Soldaten rechtzeitig die Versöhnler hindern würden, der Bourgeoisie die Macht auszuliefern.
Die Konzentrierung der Macht in den Sowjets unter dem Regime der Sowjetdemokratie hätte den Bolschewiki die volle Möglichkeit gegeben, die Mehrheit in den Sowjets zu werden und folglich auch eine Regierung auf der Basis ihres Programms zu schaffen. Ein bewaffneter Aufstand war für dieses Ziel nicht erforderlich. Die Ablösung der Parteien an der Macht hätte sich auf friedlichem Wege vollziehen können. Alle Bemühungen der Partei waren von April bis Juli darauf gerichtet, der Revolution durch die Sowjets eine friedliche Entwicklung zu sichern. ‚Geduldig aufklären’ – das war der Schlüssel der bolschewistischen Politik.» (54)
Aber vielleicht hatten Lenin und Trotzki nur geblufft? Vielleicht präsentierten sie die Idee eines friedlichen Übergangs bloss, um Popularität unter den ArbeiterInnen zu gewinnen, unter Berücksichtigung ihrer reformistischen pazifistischen Illusionen? Diese Vorstellung zeugt von völligem Unverständnis der Methode von Lenin und Trotzki, die auf furchtlose revolutionäre Ehrlichkeit gründet. In seiner Aussage vor der Dewey-Kommission sagte Trotzki es sehr klar: «Ich glaube, dass die marxistische, die revolutionäre Politik im allgemeinen eine sehr einfache Politik ist: ‚Sag, was Sache ist! Keine Lügen! Sag die Wahrheit!’ Es ist eine sehr einfache Politik.» (55)
Die bolschewistische Partei hatte keine zwei verschiedenen Programme, eines für die wenigen Gebildeten und eines für die unwissenden Lohnabhängigen. Lenin und Trotzki sagten der Arbeiterklasse immer die Wahrheit, sogar wenn sie bitter und schwer verdaulich war. Wenn sie 1917, inmitten einer Revolution, als die Machtfrage offen auf dem Tisch lag, an der Vorstellung festhielten, dass eine friedliche Lösung möglich war (nicht nur «theoretisch», sondern tatsächlich möglich), unter der Voraussetzung, dass die reformistischen Führungen entschiedene Handlungen setzten, so konnten sie das nur tun, weil das tatsächlich der Fall war. Und es war so. Hätte die Sowjetführung entschieden gehandelt, wäre die Revolution friedlich verlaufen, ohne Bürgerkrieg, denn sie hatten die Unterstützung der überwältigenden Mehrheit der Gesellschaft. Indem sie diese einfache Tatsache den ArbeiterInnen und Bauern präsentierten, erzählten Lenin und Trotzki keine Lügen oder wandten sich von der marxistischen Staatstheorie ab, sondern sagten den Massen der Werktätigen und Bauern nur, was offensichtlich wahr war.
Durch die Herauszeichnung des Widerspruchs zwischen den Worten und den Taten der reformistischen Führungskräfte bereiteten die Bolschewiki den Weg zur Gewinnung der entscheidenden Mehrheit in den Sowjets und auch in der Armee (die gleichfalls in den Sowjets vertreten war). Das war der wirkliche Weg, auf dem die bolschewistische Partei den Aufstand 1917 vorbereitete, nicht indem sie darüber sprach, sondern indem sie die Massen und ihre Organisationen tatsächlich mit anpassungsfähigen Taktiken und Losungen, die den Forderungen der Situation wirklich entsprachen und mit dem Bewusstsein der Menge verbunden waren, nicht mit leblosen auswendig gelernten Abstraktionen aus dem revolutionären Kochbuch, durchdrangen. Der einzige Grund, warum eine friedliche Revolution in Russland nicht unmittelbar durchgeführt werden konnte, lag in der Feigheit und im Verrat der reformistischen FührerInnen in den Sowjets, wie Lenin und Trotzki hundertmal erklärten.
Wenn und bis die revolutionäre Partei die Massen nicht gewinnt, ist es sinnlos und kontraproduktiv, die Betonung auf die behauptete Unausweichlichkeit von Gewalt und Bürgerkrieg zu legen. Solch ein Ansatz, weit von der «Erziehung» der Kader oder der Vorbereitung auf seriöse revolutionäre Arbeit (die in diesem Stadium fast vollständig aus der geduldigen Vorbereitungsarbeit zur Gewinnung von Unterstützung unter den Werktätigen und der Jugend und der Arbeiterbewegung besteht) entfernt, trägt eher dazu bei, die Kader zu verwirren und orientierungslos zu machen und die ArbeiterInnen, die wir gewinnen wollen, zu entfremden. Das war nie die Methode der grossen marxistischen DenkerInnen der Vergangenheit, aber es war immer ein Charakteristikum der ultralinken SektiererInnen an den Rändern der Arbeiterbewegung, die in einer eigenen «revolutionären» Traumwelt leben, die keinen Bezug zur wirklichen Welt hat. In diesem Treibhaus, abseits der Realität, können sich kleine Gruppen damit die Zeit vertreiben, endlos über den «Aufstand» und die mentale «Vorbereitung» auf den «unausweichlichen Bürgerkrieg» zu diskutieren, während die wahre Aufgabe des Aufbaus einer revolutionären Organisation ihnen völlig entgeht.
Wie bereitet sich eine marxistische Tendenz konkret auf die Macht vor? Indem sie die Massen gewinnt. Wie kann diese Aufgabe vollbracht werden? Mit der Ausarbeitung eines Programms von Übergangsforderungen, die, ausgehend von der realen Situation der Gesellschaft und den objektiven Bedürfnissen der Arbeiterklasse und der Jugend, die unmittelbaren Forderungen mit der zentralen Idee der Enteignung der KapitalistInnen und der Veränderung der Gesellschaft verbinden. Wie Lenin und Trotzki vielfach erklärten, bestehen neun Zehntel der Aufgabe der Revolution genau darin. Wenn das nicht begriffen wird, reduziert sich alles Gerede über bewaffneten Kampf, «militärische Vorbereitung» und Bürgerkrieg auf unverantwortliche Demagogie.
Als die Bolschewiki eine kleine Minderheit in den Sowjets waren, die völlig von den reformistischen Parteien der Menschewiki und SozialrevolutionärInnen, die sich um eine Allianz mit der Bourgeoisie bemühten, dominiert wurden, spielten sie nicht mit dem Aufstand, sondern betonten die Notwendigkeit, eine Mehrheit in den Sowjets zu gewinnen («geduldig erklären»). Die Massen neigten dazu, sich nach den einfachsten, ökonomischsten Lösungen für ihre Probleme umzusehen. Deswegen vertrauten die russischen ArbeiterInnen und Bauern den reformistischen FührerInnen. Die Bolschewiki mussten von dieser Tatsache ihren Ausgang nehmen. Lenin hatte ein tiefes Verständnis für die Psychologie der Massen. Am 8. Juli schrieb er: «Die Massen versuchen vorerst einen ‚leichteren’ Ausweg zu finden: über den Block der Kadetten mit dem Block der Sozialrevolutionäre und Menschewiki.
Das ist aber kein Ausweg.» (56)
Seit 1905 hatte Lenin die Losung einer Arbeitermiliz als eine zentrale Forderung für die Revolution entwickelt. Es war kein Zufall, dass die Bewaffnung der Werktätigen eine der ersten Forderungen war, die er in seinem Telegramm aus der Schweiz an die Bolschewiki nahelegte. Tatsächlich setzten die russischen Lohnabhängigen diese Forderung schon in die Praxis um, ohne dass man es ihnen sagen musste.
In den bewaffneten Zusammenstössen vom Februar ergriffen die ArbeiterInnen, beginnend bei den AktivistInnen, eine grosse Menge von Waffen. 40.000 Gewehre und 30.000 Pistolen wurden allein aus dem Arsenal entnommen. Weitere 24.000 Gewehre und 400.000 Patronen wurden von der Militärkommission der Provisorischen Regierung widerwillig zwischen dem 2. und 3. März abgegeben. Auf dieser Grundlage wurde die ArbeiterInnenmiliz gebildet, um vor allem die ArbeiterInnenbezirke zu überwachen, die Ordnung aufrechtzuerhalten, Pogrome zu verhindern und Kriminelle und Rowdys zu entwaffnen. Bald jedoch begannen sie, gegen konterrevolutionäre Elemente einschliesslich repressiver und unpopulärer Mitglieder der Verwaltung in die Offensive zu gehen.
Die ArbeiterInnenmiliz hatte nichts gemein mit Terrorismus und Guerillawesen, sondern erwuchs aus der Massenbewegung und war ihr untergeordnet, eng mit den Sowjets und Fabrikkomitees, die nach der Februarrevolution überall auftauchten, verbunden. Wenn wir zustimmen, dass Staatsmacht aus «bewaffneten Menschen» besteht, dann war die Macht in Petrograd in den Händen des bewaffneten Volks. Mit 19. März gab es 85 funktionierende Milizzentren in der Stadt, von denen 20 unter der Kontrolle der Fabrikkomitees oder ähnlicher Organe waren. Sie umfassten etwa 10.000 bis 12.000, im Vergleich zu den 8.000 der regulären Miliz. «Im Wesentlichen,» kommentierte der Populist A.V.Peschechonow, «lag alle Macht völlig in den Händen der Menge.»
Am 28. April wurde auf Initiative des linken Menschewiken N.Rostow eine Konferenz von gewählten VertreterInnen aus 156 Unternehmen organisiert, um die Roten Garden zu errichten. Die Statuten der neuen Kraft, entworfen von Schljapnikow und angenommen vom Sowjet des Bezirks Wyborg, der von den Bolschewiki kontrolliert wurde, benannten ihre Ziele mit «gegen die konterrevolutionären Intrigen der herrschenden Klasse zu kämpfen (und) alle Errungenschaften der Arbeiterklasse mit der Waffe in der Hand zu verteidigen», doch gleichzeitig «das Leben, die Sicherheit und das Eigentum aller Bürger ohne Unterscheidung des Geschlechts, des Alters oder der Nationalität zu gewährleisten». Jedem Mann und jeder Frau, der / die die Zugehörigkeit zu einer sozialistischen Partei oder Gewerkschaft nachweisen konnte und durch eine Plenarversammlung ihrer ArbeitskollegInnen gewählt oder empfohlen wurde, stand die Mitgliedschaft dafür offen. Die Grundeinheit war der Trupp von zehn Personen (desjatok); diese konnten eine «sotnja», eine Einheit von hundert, bilden und zehn solcher Kompanien formten ein Bataillon. Die gesamte Miliz war unter Kontrolle des Bezirkssowjet (von denen die meisten von den Bolschewiki kontrolliert wurden). Alle OffizierInnen wurden von der Basis gewählt.
Zu Beginn sahen die ArbeiterInnenmilizen ihre Rolle in rein defensiver Hinsicht. Doch im Lauf der Erfahrung wandelte sich ihre Rolle kaum merklich von der Verteidigung zur Offensive, bis sie im November unter der Führung der Bolschewiki auf die Tagesordnung die Ergreifung der Staatsmacht setzen konnten. Eine neuere Expertise schätzt, dass am Vorabend der Oktoberrevolution die Milizen in ihren Reihen zwischen 70.000 und 100.000 KämpferInnen zählten. Davon befanden sich etwa 15.000-20.000 in Petrograd und Umgebung und etwa 10.000-15.000 in Moskau und der Zentralen Industrieregion. (57)
Mit jedem Tag wurde die Rolle der reformistischen Führenden der Sowjets deutlicher. Der erste gesamtrussische Kongress der Sowjets, der vom 3. – 24. Juni in Petrograd abgehalten wurde, beschloss eine Resolution, die volle Unterstützung für die Regierung zusicherte. Die Bolschewiki waren in einer kleinen Minderheit auf dem Kongress: 105 Abgeordnete gegen 533 von den Menschewiki und SozialrevolutionärInnen. Doch die Stimmung in den Fabriken und Kasernen der Hauptstadt wurde zunehmend unruhig. Die grosse Zahl neuer RekrutInnen liess diese Stimmung auch in der bolschewistischen Partei spürbar werden. Anfang Juni planten die bolschewistischen Militärorganisationen unter dem Einfluss dieser Stimmung eine bewaffnete Demonstration in Petrograd im Zeitraum des Kongresses. Die Absicht der Demonstration war es, Druck auf den Kongress auszuüben. Aber sie war auch eine Antwort auf den wachsenden Druck der fortschrittlichen ArbeiterInnen Petrograds, die es kaum erwarten konnten, die Macht zu übernehmen. Hätten die Bolschewiki nicht den Platz an der Spitze der Werktätigen eingenommen, hätten alle möglichen ultralinken und anarchistischen Elemente die Situation dahingehend ausnutzen können, voreilige bewaffnete Zusammenstösse mit unheilvollen Folgen zu provozieren.
Die ArbeiterInnen von Petrograd hatten für die Sowjetführung eine klare Botschaft: «Übernehmt die Macht im Staat! Brecht mit der Bourgeoisie! Brecht mit der Koalition und nehmt die Macht in die eigenen Hände!» Doch das letzte, was die kleinbürgerlichen SowjetführerInnen wollten, war die Macht und die Bewegung der Petrograder Lohnabhängigen machte ihnen Angst. Sie waren überzeugt, dass die Bolschewiki die bewaffnete Demonstration als Front für die Machtübernahme benutzen wollten. Diese Idee war weit von Lenins Gedanken zu dieser Zeit entfernt. Im Gegenteil, die Bolschewiki versuchten, die Werktätigen von Petrograd zurückzuhalten, weil sie verstanden, dass die Zeit für die entscheidende Kraftprobe noch nicht reif war. Die ArbeiterInnen hätten im Juni wohl die Macht in Petrograd übernehmen können. Aber die Provinzen hatten mit der Hauptstadt nicht Schritt gehalten. Die Massen der Arbeitenden und Bauern hätten das als Angriff auf «ihre» Regierung interpretiert und sich den SowjetführerInnen angeschlossen, die nicht gezögert hätte, die Bewegung in Blut zu ertränken. Die Russische Revolution hätte als heroischer Fehlschlag geendet, wie die Pariser Kommune. Lenin hatte nicht die Absicht, diesen Weg einzuschlagen.
In einer Panikreaktion eröffnete die Sowjetführung eine wilde Kampagne gegen die geplante Demonstration. Da sie die Bedeutung dessen verstanden, entschieden sich die Bolschewiki für den Rückzug und die Demonstration wurde abgesagt. Sie waren im Kongress noch immer in einer kleinen Minderheit und agierten dementsprechend. Die Hauptaufgabe war immer die Gewinnung einer Mehrheit im Sowjet durch geduldige Arbeit, Propaganda und Agitation. Die Frage der Machtübernahme, solange die Partei eine kleine Minderheit blieb, stellte sich einfach nicht. Die Entscheidung der Bolschewiki für einen taktischen Rückzug erwies sich durch die nachfolgenden Ereignisse als richtig.
Als Ausgleich für die Absage der bolschewistischen Demonstration riefen die ReformistInnen zur eigenen «offiziellen» Demonstration auf – und erlebten den Schock ihres Lebens. Am 1. Juli ergossen sich die Massen auf die Strassen von Petrograd als Antwort auf den Aufruf der Sowjetführung. Doch in ihren Händen trugen sie Banner mit bolschewistischen Losungen: «Nieder mit den Geheimverträgen! Nieder mit der Politik des strategischen Angriffs! Lang lebe ein ehrenwerter Friede! Nieder mit den zehn kapitalistischen Ministern! Alle Macht den Sowjets!» In der ganzen Demonstration gab es nur drei Plakate, die Vertrauen in die Provisorische Regierung ausdrückten – eines von einem Kosakenregiment, eines aus Plechanows winziger Gruppe und eines vom Bund (jüdische Arbeiterinnenorganisation, Anm.). Diese Demonstration zeigte nicht nur den ReformistInnen, sondern auch den Bolschewiki selbst, dass sie in Petrograd weit stärker waren als sie gedacht hatten.
Solange sie in einer Minderheit waren, taten Lenin und Trotzki das äusserste, um die ArbeiterInnen und Soldaten zurückzuhalten, um voreilige Konfrontation mit dem Staat zu vermeiden. All ihre Betonung lag auf der friedlichen Agitation und Propaganda. Das war nicht leicht. Zu ihrem Schmerz zogen sich Lenin und Trotzki oft den Ärger von Werktätigen, die ihrer Klasse schon etwas voraus waren, zu. Sie wurden des Opportunismus beschuldigt, da sie die Frage des bewaffneten Aufstands nicht zum Thema machten. Zu solcher Kritik zuckten sie nur die Schulten. Sie verstanden, dass die dringlichste Aufgabe darin lag, die Mehrheit der Arbeitenden und Soldaten, die unter dem Einfluss der Menschewiki und SozialrevolutionärInnen standen, zu gewinnen. Das war die wahre Bedeutung der Losung «Alle Macht den Sowjets». Lenin hielt diese Position bis Juli aufrecht, bis er sie zu Gunsten von «Alle Macht den Fabrikkomitees» fallen liess.
Auf dem Kongress der Sowjets hielt Lenin eine Rede, die seinen ganzen Zugang zu der Frage der Gewinnung der ArbeiterInnen in den Sowjets zusammenfasste. Keine Spur von schrillen, grellen Denunziationen, sondern ein geduldiger, wohltönender Aufruf an die Werktätigen, der Rücksicht auf ihre Illusionen in die reformistische Führung nahm, doch gleichzeitig klar die Tatsachen festhielt. Er warnte, dass nur zwei Alternativen möglich wären: «Eins von beiden: entweder eine übliche bürgerliche Regierung, und dann braucht man keine Bauern-, Arbeiter-, Soldaten- und sonstigen Sowjets, dann werden sie entweder von den Generalen, den konterrevolutionären Generalen auseinandergejagt, die die Armee in der Hand haben und den Redekünsten des Ministers Kerenski nicht die geringste Beachtung schenken, oder sie sterben eines ruhmlosen Todes. Einen anderen Weg gibt es für diese Körperschaften nicht; sie dürfen weder rückwärtsgehen noch stehen bleiben und können nur existieren, wenn sie vorwärts schreiten.» (58)
Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem brennenden Thema des Kriegs zu. Seine Analyse der Situation ist so klar, die Botschaft so direkt, dass sie nicht darin fehlgehen konnte, bei den Delegierten eine Saite anzuschlagen, obwohl sie zu dieser Zeit zumeist für die Menschewiki und die SozialrevolutionärInnen waren. Ohne eine Spur von Phrasendrescherei oder Demagogie, durch die Kraft eiserner Logik fegte Lenin alles diplomatische Geschwätz hinweg und legte die zugrundeliegenden Klasseninteressen bloss:
«Die Plünderung des Volksvermögens durch die Kapitalisten geht weiter. Der imperialistische Krieg wird fortgesetzt. Uns aber verspricht man Reformen, Reformen und Reformen, die in diesem Rahmen überhaupt nicht verwirklicht werden können, weil der Krieg alles erdrückt, alles bestimmt. Warum sind Sie nicht mit denen einverstanden, die sagen, der Krieg werde nicht um der Profite der Kapitalisten willen geführt? Worin besteht das Kriterium? Vor allen Dingen darin, welche Klasse an der Macht ist, welche Klasse fortfährt, die Herrschaft auszuüben, welche Klasse fortfährt, Hunderte Milliarden aus Bank- und Finanzoperationen einzuheimsen. Es ist immer noch dieselbe kapitalistische Klasse, und deshalb ist der Krieg nach wie vor ein imperialistischer Krieg. Sowohl die erste Provisorische Regierung als auch die Regierung mit den beinah-sozialistischen Ministern hat daran nichts geändert: die Geheimverträge bleiben geheim, Russland kämpft um die Meerengen, darum, die Ljachowsche Politik in Persien fortsetzen zu können usw.
Ich weiss, dass Sie das nicht wollen, dass die Mehrheit von Ihnen das nicht will und dass die Minister das nicht wollen, weil man das nicht wollen kann, denn das bedeutet, Hunderte Millionen von Menschen hinzumorden. Nehmen Sie aber die Offensive, von der die Miljukow und Maklakow jetzt so viel reden. Diese verstehen sehr gut, worum es sich handelt; sie wissen, dass das mit der Frage der Macht, mit der Frage der Revolution zusammenhängt. Man sagt uns, man müsse zwischen politischen und strategischen Fragen unterscheiden. Es ist lachhaft, eine solche Frage auch nur zu stellen. Die Kadetten verstehen ausgezeichnet, dass es um eine politische Frage geht.
Dass der revolutionäre Kampf um den Frieden von unten, der begonnen hat, zu einem Separatfrieden führen könnte, ist eine Verleumdung. Wenn wir die Macht hätten, wäre unser erster Schritt, die reichsten Kapitalisten zu verhaften und das ganze Netz ihrer Intrigen zu zerreissen. Ohne diesen Schritt sind alle Redensarten von einem Frieden ohne Annexionen und Kontributionen leere Worte. Unser zweiter Schritt wäre, den Völkern, getrennt von den Regierungen, zu erklären, dass wir alle Kapitalisten für Räuber halten, auch Tereschtschenko, der um kein Haar besser ist als Miljukow, nur ist dieser etwas dümmer, auch die französischen und die englischen und alle anderen Kapitalisten.
In Ihrer eigenen Zeitung, den Iswestija, hat man sich verrannt und schlägt statt eines Friedens ohne Annexionen und Kontributionen vor, es beim Status quo zu belassen. Nein, so fassen wir den Frieden ‚ohne Annexionen’ nicht auf. Sogar der Bauernkongress kommt hier der Wahrheit näher, da er von einer ‚föderativen’ Republik spricht und so den Gedanken zum Ausdruck bringt, dass die russische Republik kein einziges Volk unterdrücken will, weder auf neue noch auf alte Art, dass sie mit keinem Volk auf der Grundlage der Gewalt zusammenleben will, weder mit Finnland noch mit der Ukraine, denen der Kriegsminister so zusetzt, mit denen ungehörige und unzulässige Konflikte vom Zaun gebrochen werden. Wir wollen eine einheitliche und unteilbare Republik Russland mit einer starken Staatsmacht, aber eine starke Staatsmacht kann nur durch freiwillige Übereinkunft der Völker geschaffen werden. ‚Revolutionäre Demokratie’ – das sind grosse Worte, sie werden aber für eine Regierung gebraucht, welche durch kleinliche Schikanen die Frage der Ukraine und Finnlands kompliziert, die sich gar nicht lostrennen wollen, sondern nur sagen: Schiebt doch die Anwendung der elementarsten Grundsätze der Demokratie nicht bis zur Konstituierenden Versammlung auf!
Ein Frieden ohne Annexionen und Kontributionen kann nicht geschlossen werden, solange Sie nicht auf Ihre eigenen Annexionen verzichten. Das ist doch lächerlich, das sind Possen, darüber lacht in Europa jeder Arbeiter; er sagt: Sie führen schöne Worte im Munde, sie rufen die Völker auf, die Bankiers zu stürzen, aber selbst schicken sie ihre einheimischen Bankiers in die Regierung. Verhaften Sie die Bankiers, decken Sie ihre Machenschaften auf, enthüllen Sie ihre Verbindungen – das aber tun Sie nicht, obwohl Sie machtvolle Organisationen haben, gegen die ein Widerstand unmöglich ist. Sie haben die Jahre 1905 und 1917 erlebt, Sie wissen, dass Revolutionen nicht auf Bestellung gemacht werden, dass die Revolutionen in anderen Länder auf dem schweren, blutigen Weg von Aufständen vollzogen wurden; aber in Russland gibt es keine Gruppe, keine Klasse, die sich der Macht der Sowjets widersetzen könnte. In Russland ist diese Revolution ausnahmsweise als friedliche Revolution möglich. Wenn diese Revolution heute oder morgen unter Voraussetzung des Bruches mit allen Kapitalistenklassen allen Völkern den Frieden anböte, so würden innerhalb kürzester Frist die Völker sowohl Frankreichs als auch Deutschlands ihre Zustimmung geben, weil diese Länder zugrunde gehen, weil die Lage Deutschlands hoffnungslos ist, weil es keine Rettung für Deutschland gibt und weil Frankreich…
(Vorsitzender: Ihre Redezeit ist abgelaufen)
Ich schliesse in einer halben Minute (Lärm, Zurufe: ‚Weitersprechen’, Widerspruch, Beifall)»
Deutlich beeindruckt, fast gegen den eigenen Willen, entschied die Mehrheit, dem Sprecher Extrazeit zuzugestehen und Lenin setzte seine Rede fort, in der er die imperialistische Natur des Kriegs offen legte, aber, wieder die ehrlich vaterlandsverteidigerischen Neigungen seines Publikums berücksichtigend, revolutionären Defätismus in einer Sprache erklärte, die Widerhall von den ArbeiterInnen und Soldaten hervorrufen konnte. Wir sind keine Pazifisten, sagt er. Wir sind darauf vorbereitet, gegen den Kaiser zu kämpfen, der auch unser Feind ist. Aber wir haben kein Vertrauen in die Kapitalisten. Werdet die zehn kapitalistischen Minister los! Die Sowjetführer sollen die Macht ergreifen und wir werden einen revolutionären Krieg gegen den deutschen Imperialismus führen und zugleich die Revolution auf Deutschland und die anderen kriegführenden Mächte ausweiten. Das ist der einzige Weg, Frieden zu erhalten:
Wenn wir die Macht in unsere Hände nehmen, werden wir den Kapitalisten Zügel anlegen, und dann wird es nicht der Krieg sein, der jetzt geführt wird, denn der Krieg wird dadurch bestimmt, welche Klasse ihn führt, nicht aber durch das, was auf dem Papier steht. Auf Papier kann man schreiben, was man will. Solange aber die Kapitalistenklasse in der Regierung die Mehrheit hat, wird der Krieg, was Sie auch schreiben mögen, welch schöne Reden auch gehalten werden, was für beinah-sozialistische Minister auch in der Regierung sein mögen (…) Der Krieg bleibt ein imperialistischer Krieg, und Sie mögen den Frieden noch so sehr wollen, Sie mögen noch so aufrichtig mit dem Werktätigen fühlen, Sie mögen noch so ehrlich den Frieden herbeiwünschen – ich bin vollkommen davon überzeugt, dass der Wunsch nach Frieden bei den Massen nicht unaufrichtig sein kann -, aber Sie sind machtlos, weil der Krieg nicht anders beendet werden kann als durch die Weiterentwicklung der Revolution.
Als in Russland die Revolution begann, da begann auch der revolutionäre Kampf von unten um den Frieden. Wenn Sie die Macht in Ihre Hände genommen hätten, wenn die Macht von den revolutionären Organisationen ergriffen worden wäre, um den Kampf gegen die russischen Kapitalisten zu führen, dann hätten die Werktätigen der andren Länder Ihnen geglaubt, und Sie hätten den Frieden anbieten können. Dann wäre uns der Frieden gesichert, zumindest von zwei Seiten, von Seiten zweier Völker, die verbluten und deren Lage hoffnungslos ist, von Seiten Deutschlands und Frankreichs. Wenn uns dann die Umstände in die Situation eines revolutionären Krieges versetzen sollten – das kann niemand wissen, und wir stellen diese Möglichkeit nicht in Abrede -, so würden wir sagen: ‚Wir sind keine Pazifisten, wir lehnen den Krieg nicht ab, wenn die revolutionäre Klasse die Macht hat, wenn sie wirklich den Kapitalisten jeglichen Einfluss auf die Führung der Geschäfte und die Möglichkeit genommen hat, die Zerrüttung zu vergrössern, die ihnen erlaubt, Hunderte von Millionen einzuheimsen.’
Die revolutionäre Staatsmacht würde allen Völkern ohne Ausnahme erklären und sagen, dass alle Völker frei sein müssen, dass ebenso wie das deutsche Volk kein Recht hat, um den Besitz von Elsass-Lothringen Krieg zu führen, auch das französische Volk nicht um seiner Kolonien willen Krieg führen darf. Denn wenn Frankreich seiner Kolonien wegen Krieg führt, so besitzt Russland an Chiwa und Buchara auch eine Art von Kolonien und dann fängt die Aufteilung der Kolonien an. Wie aber soll man sie aufteilen, nach welchem Grundsatz? Nach der Macht. Das Kräfteverhältnis hat sich aber geändert, die Lage der Kapitalisten ist derart, dass es keinen anderen Ausweg gibt als den Krieg. Wenn Sie die revolutionäre Macht ergreifen, dann wird Ihnen der revolutionäre Weg zum Frieden offen stehen: Sie werden sich mit einem revolutionären Aufruf an die Völker werden und ihnen an Ihrem eigenen Beispiel die Taktik erläutern können.» (59)
Was am meisten überrascht, ist das völlige Fehlen Lenins früherer Formulierungen über «revolutionären Defätismus». Kein Verweis auf den Bürgerkrieg. Kein Aufruf an die Soldaten, ihre Bajonette gegen ihre Offiziere zu wenden und kein Hinweis, dass die Niederlage Russlands das «geringere Übel» wäre! Dieser Wechsel spiegelt einen wichtigen Schwenk in Lenins Denken über Taktik seit dem Februar wider. Die Frage von Vaterlandsverteidigung versus revolutionärem Defätismus, die er zuvor oft in Schwarz-Weiss-Malerei darlegte, erwies sich als nicht so einfach. Natürlich hatte sich Lenins grundlegende Position zum Krieg nicht verändert. Der Regimewechsel von der zaristischen Autokratie zu einer bürgerlich-demokratischen Republik bedeutete nicht, dass der Krieg auf Russlands Seite weniger imperialistisch als vorher war. Doch als er nach Russland zurückkehrte, sagte Lenin, dass er neben der üblichen sozial-chauvinistischen Menge eine breite Schicht ehrlicher VaterlandsverteidigerInnen der Arbeiterklasse in den Sowjets vorgefunden hatte, die aus der Erfahrung und Diskussion das reaktionäre Wesen des Kriegs erkennen mussten. Einfach die alten Losungen zu wiederholen, hätte bedeutet, die Bolschewiki vom Proletariat abzuschneiden. Ein neuer Zugang war nötig, der den Unterschied zwischen dem Schreiben und Sprechen für eine kleine Gruppe von ParteiaktivistInnen und der Zuwendung an die breiten Massen von kürzlich zu politischem Leben erwachten Werktätigen berücksichtigte.
Die reformistische Führung der Sowjets blieb gegenüber diesen Appellen taub. Die Feigheit der Menschewiki und SozialrevolutionärInnen hinsichtlich der Zurückweisung der Machtübernahme bedeutete, dass die Initiative unvermeidlich an die Kräfte der Reaktion überging. Trotz des Februaraufstands war das zaristische Regime nicht entscheidend geschlagen. Hinter den Rockzipfeln der russischen Volksfront (der Provisorischen Regierung) war die herrschende Klasse dabei, sich neu zu formieren und ihre Rache vorzubereiten. Das Ergebnis war die Reaktion der «Julitage». Der unmittelbare Auslöser war die Offensive des 1. Juli. An diesem Tag, an dem ArbeiterInnen und Soldaten auf den Strassen Petrograds mit den Forderungen nach Frieden und der Veröffentlichung der Geheimverträge demonstrierten, startete Kerenski eine neue Offensive. «Spontane» patriotische Demonstrationen wurden auf dem Newski Prospekt veranstaltet, wo nett gekleidete bürgerliche Damen und Herren mit Offizieren und JournalistInnen in ihren Schmähungen gegen die Bolschewiki wetteiferten.
Auf dem Kongress der Sowjets protestierte die bolschewistische Minderheit energisch gegen die Offensive und strich heraus, dass das zu einer Stärkung der reaktionären Elemente unter den bewaffneten Streitkräften führen würde – sie würden Vorteile aus der Situation ziehen und versuchen, die Disziplin neu zu errichten und Kontrolle wieder zu gewinnen. Die Revolution würde damit ernsthaftester Gefahr ausgesetzt. Lenin schrieb: «Die Offensive, wie immer sie auch militärisch gesehen ausgehen mag, bedeutet politisch, dass der Geist des Imperialismus mehr Einfluss gewinnt, dass imperialistische Stimmungen erstarken, dass man sich vom Imperialismus beeindrucken lässt, sie bedeutet, dass das alte, nicht abgelöste Offizierkorps der Armee gefestigt (‚den Krieg führen, wie wir ihn zuvor geführt haben’) und die entscheidenden Positionen der Konterrevolution gestärkt werden.» (60)
Diese Warnungen wurden in Folge in der Person des General Kornilow verkörpert. Wenn die Offensive Erfolg hätte, würde sie die reaktionären Kräfte ermutigen und eine Schicht von KleinbürgerInnen und Bauern der Bourgeoisie zutreiben und sie so vom revolutionären Proletariat isolieren. Wenn sie versagte, könnte sie zum totalen Zusammenbruch der Armee führen und einen demoralisierenden Effekt auf die Massen ausüben. Es war die zweite Variante, die sich in der Wirklichkeit ereignete.
Am 2. Juli brach eine ministerielle Krise über die Frage der Ukraine aus, die die völlige Unfähigkeit der Provisorischen Regierung hinsichtlich der Lösung der nationalen Frage enthüllte. Der Grund für den Bruch der Koalition und die Entlassung der bürgerlichen Minister war niemals deutlicher. Doch je tiefer die Krise wurde, umso mehr hingen die «sozialistischen» Minister an den bürgerlichen Liberalen. Kerenski schwenkte rasch nach rechts und war von den Ministern KadettInnen nicht mehr zu unterscheiden. Die reformistischen Führenden hatten Angst vor den Massen. Die Junidemonstration hatte ihnen einen Schreck eingejagt und je mehr sie den Einfluss der Bolschewiki anwachsen sahen, umso mehr erkannten sie die von der Linken ausgehenden Gefahr für ihre Position und klammerten sich immer inniger an die Rechte. Die Bolschewiki hingegen intensivierten ihre Kampagne mit der Forderung, dass die Menschewiki und die SozialrevolutionärInnen mit den KapitalistInnen brechen und die Macht in die eigenen Hände nehmen sollten. Dieses augenfällige Paradox repräsentierte in Wirklichkeit den einzigen Weg, auf dem die Bolschewiki das Ohr der Massen gewinnen konnten. Lenin vermittelte der Sowjetführung sogar die Zusicherung der Bolschewiki, dass, wenn sie die Macht übernähmen, der Streit um die Vorherrschaft auf eine friedliche Auseinandersetzung um die Mehrheit innerhalb der Sowjets beschränkt bliebe. Trotzki erklärt:
«Nach den Erfahrungen der Koalition mochte es geschienen haben, dass es nur einen Ausweg gab, nämlich mit den Kadetten zu brechen und eine reine Sowjetregierung zu bilden. Die Kräftezusammensetzung der Sowjets war zu dieser Zeit so, dass eine Sowjetregierung aus dem Blickwinkel der Partei die Konzentration der Macht in den Händen der Sozialrevolutionäre und Menschewiki bedeutet hätte. Wir steuerten vorsätzlich auf ein solches Ergebnis hin, weil die permanenten Wiederwahlen zu den Sowjets die nötige Maschinerie zur Sicherung einer ausreichend wahrheitsgetreuen Reflektion der wachsenden Radikalisierung der Massen von Arbeiter und Soldaten gewährleisteten. Wir sahen vorher, dass nach dem Bruch der Koalition mit der Bourgeoisie die radikalen Strömungen notwendigerweise die Oberhand über die Sowjets gewinnen würden. Unter solchen Bedingungen verlagert sich der Kampf des Proletariats um die Macht natürlich auf die Ebene der Sowjetorganisationen und schreitet in einer schmerzlosen Form fort.»
Das Drängen auf entschiedene Aktion stieg unter den ArbeiterInnen und Soldaten von Petrograd. Wieder riefen die Bolschewiki zu einer bewaffneten Demonstration auf, um Druck auf die Sowjetführung auszuüben. Trotzki erklärt die Motive der Bolschewiki: «Es gab noch immer einige Hoffnung, dass eine Demonstration der revolutionären Massen die härtnäckige Schulmeisterlichkeit der Koalitionäre brechen möge und sie endlich zur Erkenntnis zwänge, dass sie sich selbst nur an der Macht halten könnten, wenn sie mit den Bürgerlichen völlig brächen. Im Gegensatz zu dem, was in der bürgerlichen Presse gesagt und geschrieben wurde, gab es keine Absicht in unserer Partei, die Macht über das Mittel eines bewaffneten Aufstands zu ergreifen. Es war nur eine revolutionäre Demonstration, die spontan ausbrach, wenngleich durch uns politisch angeleitet.» (61)
Die Stimmung der Soldaten war besonders explosiv. Das Erste Artillerieregiment, stationiert im ArbeiterInnenbezirk Wyborg, war von den Neuigkeiten, dass sie 500 Artillerieeinheiten an die Front schicken sollten, aufgebracht. Das Regiment, in dem der Einfluss der Bolschewiki stark war, zog seine eigenen Schlüsse: es war notwendig, die Provisorische Regierung zu stürzen. Teile der Bolschewiki – besonders die Militärorganisation – sympathisierten mit diesem Ziel. Es gibt unter Militärs eine Tendenz, die unabhängige Macht des Gewehrs zu überschätzen. Doch das bolschewistische Zentralkomitee setzte sich heftig jedem Versuch, die Macht in Petrograd in jener Phase zu ergreifen, entschieden entgegen. Die Provinzen waren noch nicht bereit und unter solchen Umständen wäre die Eroberung der Hauptstadt ein Putsch gewesen. «Eine falsche Bewegung unsererseits kann alles zerstören,» sagte Lenin, «Wenn wir nun imstande sind, die Macht zu ergreifen, ist es naiv zu denken, wir wären auch imstande, sie zu halten … Sogar in den Sowjets beider Hauptstädte, gar nicht zu sprechen von den anderen, sind wir eine unbedeutende Minderheit … Das ist eine grundlegende Tatsache und das bestimmt das Verhalten unserer Partei … Ereignissen soll nicht vorgegriffen werden. Die Zeit ist auf unserer Seite.» (62)
Doch die Bolschewiki konnten die Explosion, die vorbereitet wurde, nicht verhindern. Am 3. Juli gingen Soldaten, Seeleute und ArbeiterInnen, erzürnt von den Schachzügen der Regierung, sie als Kanonenfutter an die Front zu schicken, auf die Strassen der Hauptstadt. Es war ein spontaner Aufstand, der eine grosse Anzahl von Menschen auf der Strasse ohne klares Ziel oder Strategie einbezog. Die reformistischen Kader sahen bestürzt, wie sich eine riesige Menge von Werktätigen und Seeleuten um das Taurische Palais versammelte, wo sich die Zentrale Exekutive traf. Die Initiative für die Demonstration kam von unten, von den wegen der Zauderei der Sowjetführung wütenden ArbeiterInnen und Soldaten Petrograds, deren Entrüstung durch die Ankündigung einer Julioffensive den Siedepunkt erreicht hatte. Weit vom Streben nach Machtergreifung entfernt taten die Bolschewiki in ihrer berechtigten Furcht, dass Petrograd so vom Rest Russlands isoliert würde, ihr Bestes, die Massen zurückzuhalten.
Lunatscharski schrieb seiner Frau am nächsten Tag: «Die Bewegung entwickelte sich spontan. Schwarzhundertschaften, Rowdys, Provokateure, Anarchisten und verzweifelte Menschen verursachten ein grosses Ausmass an Chaos und Absurdität in der Demonstration.» (63) Teile der AnarchistInnen und Schwarzhundertschaften versuchten, die DemonstrantInnen dazu anzustiften, das Gebäude anzugreifen und die SowjetführerInnen gefangen zu nehmen und es wurde tatsächlich ein Versuch unternommen, den sozialrevolutionären Spitzenfunktionär Tschernow einzusperren. Das ermöglichte der reaktionären Presse später, die Julidemonstration als ein Pogrom und gleichzeitig als einen von den Bolschewiki organisierten Putschversuch gegen die Revolution und die Sowjetmehrheit zu beschreiben. Nichts davon hat auch nur den geringsten Bezug zur Wahrheit. Das Zentralkomitee traf sich am 3. Juli um vier Uhr nachmittags und entschied, alles nur Mögliche zu tun, um die Bewegung zu zügeln, die sich zu einem voll entwickelten Aufstand auszuwachsen drohte. Delegierte wurden eilig in die Fabriken und Kasernen entsandt, um die Massen daran zu hindern, auf die Strassen zu gehen, doch es war schon zu spät. Die Bewegung hatte begonnen und nichts konnte sie aufhalten.
Spät in dieser Nacht entschloss sich das Zentralkomitee gemeinsam mit dem Petrograder Komitee und der Militärorganisation unter Bedachtnahme auf die Stimmung der Massen, an der Demonstration teilzunehmen, um ihr einen organisierten und friedlichen Charakter zu verleihen. Lenin befand sich auf Urlaub, um sich von der Erschöpfung seiner Stärke aus den letzten paar Monten zu erholen. Doch sobald er vom plötzlichen Umschwung der Ereignisse erfahren hatte, kehrte er zurück in die Hauptstadt und fand einen chaotischen und potenziell gefährlichen Zustand der Lage vor. Am 4. Juli war eine unermessliche Menge Menschen an den Demonstrationen beteiligt. Mehr als eine halbe Million drängte sich in den Strassen Petrograds ohne Ordnung, Ziel oder Führung. Die kleine Zahl von AnarchistInnen in Petrograd war entzückt: «Die Strasse wird uns organisieren!» war ihr typischer Kommentar. Doch die Dinge waren nicht so einfach, wie die Ereignisse zeigten.
Mit dem 4. Juli hatte die Demonstration einen riesenhaften und bedrohlichen Charakter angenommen. Ab jetzt setzten die Bolschewiki ihre gesamte Kraft ein, die Dinge in Grenzen zu halten.
«Wir Bolschewiki,» erinnert sich Trotzki, «traten an jede Demonstrationsgruppierung entweder auf der Strasse oder im Palast heran, redeten mit ihnen und rieten ihnen, Ruhe zu bewahren und versicherten ihnen, dass angesichts der Massen in der gegenwärtigen Stimmung die Versöhnler nicht im Stande wären, eine neue Koalitionsregierung zu bilden. Die Männer von Kronstadt waren besonders entschlossen und es gelang uns nur unter Schwierigkeiten, sie in den Grenzen einer blossen Demonstration zu halten.»
Trotzki wurde geschickt, den sozialrevolutionären Führer Tschernow zu befreien, der von den Seeleuten Kronstadts «verhaftet» worden war. Im Verlauf seines Arrests schüttelte einer der Arbeiter verärgert seine Faust vor Tschernows Gesicht und rief ihm zu: «Übernehmt die Macht, du Hurensohn, wenn sie euch gegeben wird!» In einem bekannten Zwischenfall erinnert sich Trotzki der Stimmung düsteren Misstrauens, das von allen Seiten erwuchs, als er seinen Weg durch die Reihen der rebellischen Seeleute ging. Sie erwarteten von Trotzki, dass er ihnen den Befehl zur Machtübernahme gäbe, stattdessen bat er sie um die Freilassung ihres Gefangenen. Die Matrosen schrieen Trotzki an, er fühlte, dass das geringste falsche Wort oder eine entsprechende Geste mit seiner Gefangennahme und Tötung geendet haben würde. Um sieben Uhr Abends brach eine Gruppe bewaffneter und wütender Werktätiger aus den Putilow-Werken in ein Treffen der verängstigten Sowjetführung ein. Ein Arbeiter in blauem Overall sprang auf die Rednerbühne und rief, das Gewehr in der Luft schwenkend, den Abgeordneten zu:
«Genossen! Wie lange müssen wir Arbeiter mit dem Verrat leben? Ihr diskutiert hier und verhandelt mit der Bourgeoisie und den Landbesitzenden … Ihr seid damit beschäftigt, die Arbeiterklasse zu verraten. Nun, ihr sollt hören, dass die Arbeiterklasse sich das nicht gefallen lassen wird! Es gibt 30.000 von uns hier aus den Putilow-Werken. Wir werden unseren Weg gehen. Alle Macht den Sowjets! Wir haben unsere Waffen fest in der Hand! Ihr Kerenskis und Zeretelis werden uns nicht zum Narren halten!» (64)
Die SowjetführerInnen waren gezwungen zu verhandeln, um Zeit zu gewinnen, während Kerenski «verlässliche» Truppen von der Front zurückberief. Doch die Ankunft der Truppen von der Front war das Signal für eine konterrevolutionäre Offensive. Die Bourgeoisie nahm Rache für die erlittene Angst. Der Gegenangriff wurde von der Sowjetführung geleitet, die in dem Moment neuen Mut gewannen, als das wolhynische Regiment eintraf. Da hatten sie nicht länger Ursache, mit den selbsternannten Vollziehenden einer «bewaffneten Rebellion» zu verhandeln. Die Bolschewiki wurden zu einer «konterrevolutionären Partei» erklärt.
Kosaken und Polizei feuerten von den Dächern auf die DemonstrantInnen und verursachten Panik. Später, als die loyalen Truppen eintrafen und die aufständischen Einheiten entwaffneten, liess die Mittelklasse ihrem Zorn freien Lauf. ArbeiterInnen wurden von ehrenwerten Damen und Herren auf dem Newski Prospekt zusammengeschlagen. Es gab eine Welle von Razzien, Verhaftungen, Schlägereien und sogar Morden. In der Nacht vom 4. auf den 5. Juli spielte der Justizminister P.N.Perewersew der Presse Papiere zu, in denen behauptet wurde, dass Lenin ein deutscher Agent sei. Die Büros der Prawda wurden in der Nacht des 5. Juli von Regierungskräften zerstört. Die bolschewistischen Zeitungen wurden verboten. Aufständische wurden an die Front geschickt, um dort massakriert zu werden. Plötzlich schlug das Pendel gewaltsam nach rechts aus.
Die Demonstration vom 2. und 3. Juli enthüllte viele Dinge. Sie zeigte, dass die ReformistInnen endgültig ihre Basis in Petrograd verloren hatten. Doch sie zeigte auch, wie die Bolschewiki gewarnt hatten, dass Petrograd nicht Russland war, dass die Menschewiki und die SozialrevolutionärInnen noch riesige Reservoire der Unterstützung unter den ArbeiterInnen und Bauern der Provinzen hatten. Sogar in Petrograd war die Stimmung in den Kasernen nicht einheitlich. Obwohl eine Mehrheit der Soldaten und noch mehr Matrosen zu dieser Zeit auf Seiten der Bolschewiki waren, blieben einige Einheiten passiv oder unentschlossen. Doch nicht eine einzige Einheit der Petrograder Garnisonen war bereit, für die Verteidigung der Provisorischen Regierung oder auch nur der Sowjetführung zu kämpfen.
Die ArbeiterInnen und Soldaten kamen nicht ungeschoren davon. Für Fehler wird immer bezahlt. Einige hundert wurden getötet. Doch wenn die Bolschewiki sich nicht an die Spitze der Demonstration gesetzt hätten, um ihr einen organisierten und friedlichen Charakter zu verleihen, hätte es unzweifelhaft ein Blutbad gegeben. Mehr noch, der Einfluss der Partei über die fortschrittlichsten Werktätigen wäre dahin gewesen. Manchmal ist es nötig, mit den Arbeitenden zu gehen, auch wenn sie fehlgeleitet sind, damit sie aus der Erfahrung lernen und ihre Schlüsse ziehen können. Die Erfahrung der Julitage war eine schmerzliche, doch die Lohnabhängigen lernten, dem Urteil der Bolschewiki, die sie von vornherein vor den Geschehnissen gewarnt und sich dann mit ihnen Schulter an Schulter beteiligt hatten, zu vertrauen
Am 2. Juli traten als ein Ergebnis der Spaltung bezüglich der ukrainischen Frage drei Minister der Kadetten aus der Regierung zurück, später folgten ihnen Perewzew und, am 7., der Premierminister Prinz Lwow. Das verbleibende Ministerkabinett ernannte Kerenski und betraute ihn mit der Bildung einer neuen Regierung – der Zweiten Koalition. Der Angriff auf die Linke bestärkte die Konterrevolutionäre enorm, die nun fühlten, dass sie die Zügel in der Hand hielten. Nach der Unterdrückung der Bewegung in Petrograd erkannte die Bourgeoisie, dass die Zeit gekommen wäre, die «Ordnung wieder herzustellen». Die Kadetten forderten, dass die sozialistischen Minister ihre Verbindungen zu den Sowjets abbrächen. Der linke Flügel, in Person der Bolschewiki, wurde vernichtet. Orlando Figes gibt einen Eindruck der Stimmung der antibolschewistischen Hysterie, die zu dieser Zeit bestand:
«Am Morgen des 5. war die Hauptstadt von einer antibolschewistischen Hysterie ergriffen. Die rechten Boulevardblätter lechzten nach bolschewistischem Blut und beschuldigten sofort die ,deutschen Agenten’ wegen des Rückzugs an der Front. Es schien offensichtlich, dass die Bolschewiki ihren Aufstand in Übereinstimmung mit dem deutschen Vormarsch geplant hatten. General Polowzew, der für die Repressionen als Befehlshaber der Petrograder Militärbezirks verantwortlich war, räumte später ein, dass die Bolschewistenhetze eine ‚stark antisemitische Tendenz’ enthielten; doch in der üblichen Art, mit der Russen seiner Klasse Pogrome rechtfertigten, schob er es ‚den Juden selbst zu, denn unter den bolschewistischen Führern liegt ihr Prozentsatz nicht weit von hundert. Es begann die Soldaten zu ärgern, dass die Juden alles beherrschten und die Bemerkungen, die ich in den Kasernen hörte, zeigten offen, was die Soldaten darüber dachten’.» (65)
Am Tag nach den Demonstrationen vollzog die Presse eine hysterische Kampagne gegen Lenin und die «deutschen Agenten», während die SozialrevolutionärInnen und Menschewiki, die wussten, dass das nur Lügen waren, feiges Stillschweigen bewahrten. Aber ihre Komplizenschaft mit der Konterrevolution endete hier noch nicht. Die Menschewiki und SozialrevolutionärInnen riefen Lenin und die anderen FührerInnen auf, sich «der Justiz auszuliefern». Das war eine offene Einladung, den Kopf der Schlinge zu überlassen. Die Reaktionäre verlangten nach Blut.
Am 6. Juli gab die Regierung einen Haftbefehl für Lenin, Kamenew und Sinowjew heraus. Einige SchriftstellerInnen (darunter der kürzlich genannte Orlando Figes) versuchen, Lenin persönlicher Feigheit zu beschuldigen. Das ist Unsinn. Die Aufzeichnungen zeigen, dass Lenin entschlossen war, sich selbst aufzugeben, was ihm von anderen Parteiführenden ausgeredet werden musste. Am Tag, nachdem der Haftbefehl ausgestellt worden war, der eine Razzia in der Wohnung seiner Schwester zur Folge hatte, schrieb Lenin eine Notiz an das Zentralexekutivkomitee des Sowjets, in der er um Eröffnung einer Untersuchung ersuchte und anbot, sich selbst den Autoritäten auszuliefern unter der Bedingung, dass die Sowjetexekutive seinen Arrest sanktionierte:
«Erst jetzt, um 15.15 des 7. Juli erfuhr ich, dass in meiner Wohnung letzte Nacht entgegen der Proteste meiner Frau durch bewaffnete Männer, die keinen Hausdurchsuchungsbefehl vorweisen konnten, eine Durchsuchung stattgefunden hat. Ich bekunde meinen Protest dagegen und ersuche das Büro des Zentralexekutivkomitees, diesen offenen Gesetzesbruch zu untersuchen.
Gleichzeitig erachte ich es als meine Pflicht, offiziell und schriftlich zu bestätigen, was, wie ich sicher bin, nicht ein einziges Mitglied des Zentralexekutivkomitees bezweifeln kann, dass ich mich im Zuge der Regierungsanordnung meiner Verhaftung, die durch das Zentralexekutivkomitee gebilligt wird, an dem mir vom Zentralexekutivkomitee zugewiesenen Ort stellen werde.
Wladimir Iljitsch Uljanow (N. Lenin), Mitglied des Zentralexekutivkomitees» (66)
In ihren Memoiren über Lenin erinnert sich Krupskaja, dass «er (Lenin) die Notwendigkeit seines Erscheinens vor Gericht argumentierte. Maria Iljitschna (Lenins Schwester) protestierte herzhaft dagegen. ‚Grigori (Sinowjew) und ich haben beschlossen, zu erscheinen – geh und sag es Kamenew,’ sagte Iljitsch zu mir. Kamenew war in einer anderen nahegelegenen Wohnung. Ich ging eilig hin. ‚Lass uns Abschied nehmen,’ meinte Lenin, ‚vielleicht sehen wir einander nicht wieder’.» (67)
Mitglieder des Zentralkomitees versuchten Lenin zu überreden, dass seine Handlungsweise nicht in Frage kam. Was Lenins Entschluss letztlich ausmachte, war die Entscheidung der Sowjetexekutive, die versprochene Untersuchung bezüglich der Juliereignisse zu streichen. Als Ordschonikidse und Nogin mit der Botschaft Lenins und Anweisungen zur Verhandlung der Umstände seiner Gefangenschaft zum Taurischen Palais geschickt wurden, verweigerte der Sowjetvertreter jedwede Versicherung, sondern versprach nur «zu tun, was sie konnten». Gemäss Ordschonikidse war sogar dem gemässigten Nogin «unwohl hinsichtlich Lenins Schicksal, in das er sich begeben wollte». Es war nun ziemlich klar, dass der Sowjet von allem Einfluss auf die Regierung ausgeschlossen war und dass die Judikatur, noch immer dominiert von zaristischen Elementen, als gehorsamer Diener der Konterrevolution handeln würde. In einem zur Veröffentlichung bestimmten Brief erklärte Lenin:
«Wir haben unseren Plan, sich der Regierung zu unterwerfen, geändert, weil … es klar ist, dass der Fall der Spionage Lenins und anderer absichtlich von den Kräften der Konterrevolution konstruiert wurde … Gegenwärtig kann es keine Garantie für eine gerechten Prozess geben. Das Zentralexekutivkomitee … bildete eine Kommission, um Einblick in die Anklageschrift der Spionage zu erhalten und wurde unter dem Druck der Konterrevolution aufgelöst … uns nun an die Autoritäten auszuliefern, hiesse, sich in die Hände der Miljukows, Alexinskis, Perewzews zu begeben – also in die Hände von in der Wolle gefärbten Konterrevolutionären, für die die Anklage gegen uns nicht mehr als eine Episode im Bürgerkrieg ist.» (68)
Die Parteiführenden überredeten Lenin letztlich, sich zu verstecken. Das war zweifellos die richtige Vorgehensweise. Lenin war der Revolution lebendig nützlicher als tot oder eingesperrt. Es ist wahr, dass ein Teil der Partei dafür war, dass Lenin vor Gericht ging und sich von der Anklagebank aus verteidigen sollte, wie es Trotzki 1906 getan hatte. Aber diese Idee wäre verrückt gewesen. Später betrachtete die Mehrheit des Sechsten Parteikongresses, der Ende Juli in Petrograd zusammentraf, die Frage richtig und beschloss, dass Lenin niemals bis in den Gerichtssaal gekommen wäre, sondern der Kugel eines Attentäters zum Opfer gefallen wäre, «während eines Fluchtversuchs erschossen». Sogar wenn das eine Möglichkeit gewesen wäre, hatte die Partei nicht das Recht, das Leben Lenins wie ein Spieler zu riskieren.
Es kann keinen Zweifel geben, dass Lenins Leben zu diesem Zeitpunkt in Gefahr war. Die Konterrevolution war zügellos. Im Petrograder Sowjet erklärte ein Abgeordneter der Menschewiki: «Bürger, die wie Arbeiter aussehen oder die verdächtigt werden, Bolschewiki zu sein, sind in dauernder Gefahr, geschlagen zu werden.» Ein weiterer setzte hinzu, dass «recht intelligente Leute die ultra-antisemitische Agitation verfolgten.» (69) Verschiedene bolschewistische Parteibüros wurden durchsucht und zerstört. Das passierte auch der Druckerei der Trud, die viel Material für die Gewerkschaften wie auch bolschewistische Literatur produzierte. Ivan Woinow, ein 23jähriger Bolschewik, der im Verteilungsressort der Prawda aushalf, wurde verhaftet, als er Listok Prawdi (Prawda Pamphlet) verteilte, einer der vielen Namen, unter denen die Parteizeitung erschien, um das Erscheinungsverbot zu umgehen. Während seiner «Einvernahme» wurde dem Gefangenen mit einem Säbel auf den Kopf geschlagen, was ihn sofort tötete. Angesichts der allgemeinen Atmosphäre der Hysterie und der direkt gegen Lenin persönlich gerichteten Anschuldigungen als deutscher Agent wäre es höchst unverantwortlich gewesen, ihn der schwachen Gnade des «Gesetzes» in einer Periode der Konterrevolution anzuvertrauen.
Zwei Jahre später, während des Aufstands der SpartakistInnen in Berlin – eine Bewegung, die den Julitagen verblüffend ähnlich war – versäumten es Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die nötigen Vorsichtsmassnahmen zu treffen und wurden von konterrevolutionären Offizieren verhaftet. Sie glaubten nicht, dass sie kaltblütig ermordet würden, doch genau das war es, was passierte. Der Mord an zwei der hervorragendsten Führungsfiguren der deutschen Arbeiterklasse hatte eine verheerende Wirkung auf den gesamten Verlauf der deutschen Revolution und die Weltgeschichte. Gewiss, sie zeigten sich persönlich tapfer. Doch welch schrecklicher Preis wurde für diese misslungene Aktion bezahlt! Wenn sie in den Untergrund gegangen wären, wie es Lenin tat, wäre die Zukunft der deutschen Revolution in sicheren Händen gewesen. Stattdessen erlitt sie eine Fehlgeburt. Nicht nur das deutsche Proletariat, sondern die gesamte Welt bezahlte für diese Katastrophe mit dem Aufstieg Hitlers und all den folgenden Schrecknissen des Faschismus und Kriegs. Solche Betrachtungen sollten nachdenklich machen, bevor dümmliche Kommentare über «persönliche Tapferkeit» und ähnliches abgegeben werden.
Die menschewistischen und sozialrevolutionären Kader, auf die Lenin als GarantInnen betreffend seiner Verhaftung gehofft hatte, spielten eine verachtenswerte Rolle. Dan schlug eine roh zusammengezimmerte Resolution vor, die von der Mehrheit der reformistischen Parteien im Sowjet unterstützt wurde und die die Bolschewiki der Verbrechen gegen das Volk und die Revolution beschuldigte und Lenins Verstecken vor der Verhaftung als «unerträglich» bezeichnete. Genauso agierten die deutschen rechts-sozialdemokratischen Führer Noske und Scheidemann 1919 als Komplizen des Generalstabs und des Freikorps im Mord von Liebknecht und Luxemburg. Sie forderten, dass die Bolschewiki eine Diskussion über Lenins Führung eröffneten und sorgten für die Aufhebung der Mitgliedschaft in der Sowjetexekutive für alle unter Verdacht befindlichen Personen. Nogin protestierte: «Ihr wurdet beauftragt, eine Resolution über die Bolschewiki zu verfassen, bevor sie vor Gericht stehen. Ihr wurdet beauftragt, die Führer der Fraktion, die mit Euch die Revolution vorbereiteten, ausserhalb des Gesetzes zu stellen.» (70) Doch der rechte Flügel des Sowjet war an Nogins Beschwerden nicht interessiert. Dans Resolution wurde von einer überwältigenden Mehrheit angenommen. Aus dem Plenum waren die Angriffe gegen die Bolschewiki sogar noch hysterischer.
Nun, da der Appetit der Konterrevolutionäre angeregt war, richteten sie ihren Zorn gegen die Arbeiterbewegung im Allgemeinen, ungeachtet jeder Unterscheidung zwischen links und rechts. Auf einem Treffen des Provisorischen Komitees der Duma am 5. Juli wüteten rechte Dumaabgeordnete wie A.M.Maslenikow und Wladimir Purischkewitsch (bekannt aus seinem Beitrag bei der Ermordung Rasputins) gegen die moderaten Sowjetführenden, die als «Träumer», «Wahnsinnige, die sich als Pazifisten ausgeben», «kleinbürgerliche Karrieristen» und «eine Gruppe von Fanatikern, Kurzlebigen (d.h. Juden) und Verrätern» beschrieben wurden. Maslenikow forderte, dass die Macht an die Duma zurückgegeben werden und die Regierung ihr allein verantwortlich sein solle. Das war eine Forderung nach der Auflösung der dualen Macht. Die Sowjets sollten keine Rolle spielen. Purischkewitsch ging weiter und platzte mit den wahren Absichten der Konterrevolution hervor: «Wenn mit tausend, zweitausend, vielleicht fünftausend Schurken an der Front und ein paar Dutzend im Hinterland ein Ende gemacht worden wäre, würden wir nicht solch eine nie da gewesene Schande erleiden.» (71)
Und er forderte die Wiedereinführung der Todesstrafe, nicht nur an der Front, sondern auch im Hinterland. Diese Forderung wuchs wie ein betäubendes Crescendo in den Wochen nach der Juliniederlage. Ihre Bedeutung war klar. Die Bourgeoisie war bestrebt, die «Ordnung» wieder einzusetzen – d.h. ihre Kontrolle über die Gesellschaft und den Staat, der, wie Lenin erklärte, in letzter Konsequenz, aus bewaffneten Menschen besteht. Die Wiedereinführung der Disziplin in der Armee durch brutalste Mittel einschliesslich der Todesstrafe war die Vorbedingung für die Eliminierung der dualen Macht und der Wiedererrichtung des alten Staats. Das konnte nur Diktatur bedeuten, wie die folgenden Ereignisse zeigten.
Die Juliniederlage änderte die Klassenzusammensetzung der Kräfte. Mit jedem Schritt zurück, den die Revolution setzte, wurde die Konterrevolution kühner. Andererseits war die Stimmung der ArbeiterInnen und Soldaten in der Hauptstadt gedrückt. Sie hatten eine herbe Lektion erfahren. Die Provinzen waren gegen sie. Ein Gefühl der Isolation und Ohnmacht ergriff die Stadt. Die Werktätigen liessen ihre Köpfe hängen und warteten auf den nächsten Schlag. Inmitten dieses Karnevals der Reaktion, als die Bolschewiki auf allen Seiten gejagt und verfolgt wurden, klang eine Stimmer kühn und klar – die Stimmer von Leon Trotzki, der am 10. (23.) Juli 1917 in einem offenen Brief an die Provisorische Regierung schrieb:
«Sehr geehrte Minister, ich habe erfahren, dass im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 16./17. Juli ein Haftbefehl für Lenin, Sinowjew und Kamenew, aber nicht für mich, ausgestellt wurde. Ich möchte daher Ihre Aufmerksamkeit auf Folgendes lenken:
Die Autoritäten waren gefällig und Trotzki wurde in der Kresti-Festung eingesperrt.
Die Bedeutsamkeit dieser Ereignisse in seinem Versteck in dem kleinen Dorf Razliv am Golf von Finnland, etwa 20 Meilen nordwestlich der Hauptstadt, überdenkend, befand sich Lenin in einem düsteren Geisteszustand. Die Vorfälle des Juli und danach machten starken Eindruck auf ihn. Für jene, die sich vorstellen, dass die Russische Revolution 1917 einem automatischen Kurs zum Sieg unter der umsichtigen Führung eines Mannes, der nie an seinem Erfolg zweifelte, folgte, wäre es eine lohnenswerte Aufgabe, die Entwicklung seiner Gedanken zu jener Zeit zu untersuchen.
Es ist nicht allgemein verbreitet, doch ursprünglich war Lenin geneigt, den Fortschritt der Konterrevolution zu überschätzen und zog pessimistische Schlüsse. Auf Grundlage der Memoiren Shotmans und Sinowjews schreibt Alexander Rabinowitsch in seinem interessanten Buch über die bolschewistische Revolution: «Shotman erinnerte sich, dass Lenin eine Zeit lang den Bereich und die Wirkung der Reaktion übertrieb und pessimistisch hinsichtlich der kurzfristigen Aussichten für die Revolution in Russland war. Es hatte keinen Sinn, weiter über eine Verfassunggebende Versammlung zu sprechen, meinte Lenin, da dem ‚Sieger’ das nicht genehm wäre; die Partei sollte daher ihre übrigen Kräfte ordnen und ‚ernsthaft und für lange Zeit’ in den Untergrund gehen. Die tristen Berichte, die Shotman anfänglich Lenin in Razliv zukommen liess, bestärkten diese Überzeugung; es dauerte einige Wochen, bis sich die Neuigkeiten verbesserten.
Lenins Pessimismus im Gefolge der Julitage wird von Sinowjew bestätigt. Im Schreiben in den späten 20ern erinnerte er sich, dass Lenin zu jener Zeit vermutete, dass eine längere und tiefere Periode der Reaktion vor ihnen läge, als es dann tatsächlich der Fall war.» (73)
Maria Sulimowa, eine bolschewistische Stabsarbeiterin, mit der Lenin am 6. Juli zusammen war, bemerkt, dass, als sie die jüngsten Neuigkeiten Lenin überbrachte, dieser finster antwortete: «Dich, Genossin Sulimowa, mögen sie verhaften. Doch mich werden sie hängen.» Dass das in seinen Gedanken spielte, zeigt eine Notiz, die er an Kamenew sandte: «Entre nous: falls man mich umbringt, bitte ich Sie, mein Heft ‚Marxismus und Staat’ herauszugeben.» (74)
Das erwähnte Notizbuch ist Lenins gefeiertes Staat und Revolution, eine der wichtigsten und einflussreichsten Arbeiten marxistischer Theorie, die er zu dieser Zeit schrieb. Lenin blieb brieflich mit der Hauptstadt in engem Kontakt, schrieb viele Artikel und Erklärungen und durchkämmte die Zeitungen nach Neuigkeiten. Doch in einer Situation, die sich rasch änderte, mit jedem Tag, manchmal mit jeder Stunde, war das nicht ausreichend, um am Puls der Bewegung zu bleiben. Der tiefe Eindruck der Juliereignisse veranlasste ihn, eine Veränderung der Taktik zu befürworten, die zu einer weiteren hitzigen Kontroverse in der Partei führte.
Auf Grundlage der Julitage hatte Lenin den Schluss gezogen, dass ein friedliches Ergebnis nun unmöglich, der Bürgerkrieg unvermeidbar und es für die Partei notwendig war, den Aufstand unmittelbar auf die Tagesordnung zu setzen. «Alle Hoffnungen auf eine friedliche Entwicklung der russischen Revolution sind endgültig verschwunden.», schrieb er. Lenin schloss, dass die Juliniederlage das Regime der dualen Macht aufgelöst hatte. Die Sowjets unter der Führung des rechten Flügels war faktisch auf die Seite der Konterrevolution übergewechselt. Das bedeutete, dass die frühere Perspektive einer friedlichen Transformation nicht länger möglich war. Daher befürwortete er das Abgehen von der Losung «Alle Macht den Sowjets». Stattdessen sollte die Partei ihre Bemühungen auf die Vorbereitung eines Aufstands konzentrieren, der sich auf die Fabrikkomitees stützte:
«Die Losung ‚Alle Macht den Sowjets!’ war die Losung der friedlichen Entwicklung der Revolution, die möglich war im April, im Mai und im Juni, bis zum 5.-9. Juli, d.h. bis zum Übergang der tatsächlichen Macht an die Militärdiktatur. Jetzt ist diese Losung bereits falsch, denn sie zieht nicht in Betracht, dass sich dieser Übergang der Macht vollzogen hat und dass die Sozialrevolutionäre und Menschewiki die Revolution in der Tat glatt verraten haben. Weder Abenteuer noch Revolten, weder vereinzelter Widerstand noch aussichtslose Versuche, sich einzeln der Reaktion zur Wehr zu setzen, können der Sache dienen (…)» (75)
Diese Bewertung erwies sich als voreilig und Lenin revidierte sie entsprechend. Doch sie war zu dieser Zeit verständlich. Was charakteristisch für Lenin war, war, dass er an den nächsten Schritt dachte und die Unausweichlichkeit eines Aufstands präzise zu einer Zeit vorhersagte, als die Konterrevolution den vollen Triumph auf ihrer Seite zu haben schien. Lenin sah, dass die Flut der Konterrevolution letztlich abebben würde und dass die Bolschewiki sich das Ziel der Machtübernahme setzen mussten. Das sollte sich als korrekt erweisen. Doch in anderer Hinsicht war Lenin zu pessimistisch. Der Sieg des rechten Flügels in den Sowjets war nicht so entscheidend, wie er dachte. Im Gegenteil, die wachsende Polarisierung und Radikalisierung der Gesellschaft drückte sich selbst in den Sowjets als den wesentlichsten Massenorganisationen der Arbeiterklasse aus.
Natürlich liegt in den Sowjets als solchen nichts Magisches. Wohl sind sie besonders geeignet, die Hoffnungen und Stimmungen der Menge aufgrund ihrer äusserst demokratischen und flexiblen Form auszudrücken. Doch in einer Revolution, in der die Stimmung der Massen mit Lichtgeschwindigkeit umschlägt, liegen sogar solche Organisationen zurück und spiegeln die Situation von gestern, nicht die von heute wider. Schon im April warnte Lenin vor der Fetischisierung der Sowjets. Auf der Aprilkonferenz sagte er: «Die Sowjets sind für uns nicht als Form wichtig; für uns ist wichtig, welche Klasse sie repräsentieren.» Es war keine Frage des Teilhabens im «Sowjetparlamentarismus», des Manövers mit den Mächtigen, sondern eine der Wegfindung für die ArbeiterInnen, die auf die Sowjets blickten.
Nach dem Juli hatte sich das Gleichgewicht der Kräfte dramatisch verändert. Die reformistische Führung verstand nichts. Sie ähnelte einem Menschen, der den Ast, auf dem er sitzt, absägt. Mit jedem Schlag gegen die Bolschewiki wuchs das Vertrauen und die Aggressivität der Rechten. Unvermeidlich war die nicht nur gegen die Bolschewiki, sondern gegen die Sowjets selbst gerichtet. Nicht nur, dass die Menschewiki und SozialrevolutionärInnen die Machtübernahme ablehnten, die Sowjetführung ermutigte durch ihre Handlungen die Konterrevolution und machte nach Lenins Ansicht künftige Gewalt und Bürgerkrieg unausweichlich. In diesem Sinn waren es konterrevolutionäre Sowjets, insofern der rechte Flügel der ReformistInnen, der sich auf die Sowjets stützte, der Bourgeoisie bei der Wiedererrichtung ihrer Kontrolle über den Staat assistierte.
Später schrieb Lenin: «Alle Erfahrungen der beiden Revolutionen, sowohl vom Jahre 1905 als auch vom Jahre 1917, wie auch alle Beschlüsse der Partei der Bolschewiki, alle ihre politischen Erklärungen seit vielen Jahren laufen darauf hinaus, dass der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputieren nur als Organ des Aufstands, nur als Organ der revolutionären Macht real ist. Ausserhalb dieser Aufgabe sind die Sowjets ein blosses Spielzeug, das unvermeidlich zur Apathie, Gleichgültigkeit und Enttäuschung der Massen führt, denen die endlose Wiederholung von Resolutionen und Protesten mit vollem Recht zuwider geworden ist.» (76)
Trotz allem erholten sich die Bolschewiki recht rasch von der Juliniederlage. Der Sieg der Konterrevolution erwies sich als seichter und vergänglicher, als Lenin vermutet hatte. Überraschend wenige verliessen die Partei nach diesem Juli, trotz der Tatsache, dass die Bolschewiki auch in einigen Fabriken, in denen rückständige ArbeiterInnen dem Einfluss eines Sperrfeuers antibolschewistischer Propaganda ausgesetzt waren, eine raue Zeit erlebten. Innerhalb weniger Wochen begann die Partei, sich in ihrem Einfluss und Wachstum zu erholen. Die Gründe wurzelten in der objektiven Situation. Trotz des zeitweiligen Erfolgs war die Provisorische Regierung so unpopulär wie eh und je. Die Nachrichten von der Front wurden immer schlechter. Kerenskis «patriotische» Demagogie brachte das Eis zu den Truppen, die nur noch abrüsten und heimgehen wollten, nicht zum Schmelzen. Die Versuche, Disziplin unter solchen Umständen einzuführen, machten die Dinge nur schlimmer. Die Soldaten beobachteten mit wachsender Besorgnis das Wiederauftauchen konterrevolutionärer Elemente im Offizierkorps. Die zaristischen Offiziere hatten sich seit Februar geduckt gehalten, doch nun begannen sie sich neu zu formieren und sich mit immer grösserem Selbstvertrauen durchzusetzen.
Entgegen Lenins Prognose wurden die Sowjets für bolschewistische Propaganda empfänglicher. Das trotz der Tatsache, dass bis August die einzigen zwei Sowjets in Petrograd, in denen die Bolschewiki starken Einfluss hatten, Kolpinski und die ArbeiterInnenfestung des Bezirks Wyborg waren. Alle anderen lokalen Sowjets in der Hauptstadt unterstützten die Menschewiki und SozialrevolutionärInnen. Einige davon nahmen nach den Julitagen eine streitlustige anti-bolschewistische Haltung ein und verabschiedeten Resolutionen, in denen sie die OrganisatorInnen der Demonstration verurteilten. Doch die Stimmung begann sich zu verändern. Die Menschewiki an der Basis und die sozialrevolutionären ArbeiterInnen wurden ihrer Führung gegenüber immer kritischer.
Ein widersprüchlicher Prozess begann sich zu entfalten: die reformistischen Führenden im gesamtrussischen Exekutivkomitee gelobten bedingungslose Unterstützung für Kerenski, während in den Bezirkssowjets das Misstrauen gegen die Regierung stündlich wuchs. Das zeigte sich im stetigen Anwachsen der linken Strömung, die von den menschewistischen InternationalistInnen (Martow), dem interrayonistischen Komitee (die Mezhrayontsi) und den Bolschewiki repräsentiert wurde. Mitte Sommer wurden abgesehen von Wyborg und Kolpinski auch auf der Insel Wasilewski, Kolomenski und im Ersten Stadtbezirk bolschewistische Resolutionen verabschiedet. Obwohl sie formell weiterhin Menschewiki und SozialrevolutionärInnen waren, waren die ArbeiterInnen immer mehr geneigt, den Ideen jener Leute Gehör zu schenken, die aussprechen konnten, was auch ihre Gedanken waren – den Bolschewiki. «Nichtsdestotrotz,» streicht Alexander Rabinowitsch heraus, «scheint es mit Ausnahme des Bezirkssowjet Wyborg möglich, dass keiner dieser Sowjets von den Bolschewiki kontrolliert wird. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, oder vielmehr ihre menschewistischen internationalistischen und linken sozialrevolutionären Sprösslinge, bleiben in den meisten Bezirkssowjets bis zum späten Herbst 1917 einflussreich.» (77)
Die Ereignisse von 1917 waren ein bestimmendes Moment für die revolutionäre Bewegung in Russland. Hier wurden letztlich alle Theorien, Programme und Personen dem entscheidenden Test unterworfen – dem Test der Praxis. Viele überlebten diese Prüfung nicht. Sogar Lenins engste MitarbeiterInnen unterlagen dem Druck des Moments und konnten ihrer historischen Verantwortung nicht gerecht werden. Das war nicht nur ihren persönlichen Charakteren anzulasten, wenngleich diese eine Rolle – und zwar keine unbedeutende – spielten. Die Vorstellung, dass die Geschichte auf das blinde Spiel ökonomischer Kräfte, in dem Männer und Frauen nur Marionetten eines vorbestimmten Schicksals – wie die Charaktere in der griechischen Tragödie – sind, reduziert werden kann, hat nichts mit Marxismus zu tun.
Marx und Engels leugneten nie die Rolle des Individuums in der Geschichte, doch erklärten, dass Menschen keine völlig frei Handelnden sind, sondern von der bestehenden sozialen Realität, der Konstellation der Klassenkräfte, dem existierenden Bewusstsein der Massen, den politischen Strömungen, Vorurteilen und Illusionen beeinflusst sind – alles spielt eine entscheidende Rolle, aber in letzter Konsequenz (und nur in letzter Konsequenz) sind sie durch die Abfolge der Entwicklung der Produktionsmittel bestimmt. Letztlich ist die ökonomische Basis entscheidend, aber die Beziehung zwischen der Basis (Produktivkräfte) und dem Überbau (Staat, Politik, Religion, Philosophie, Moral usw.) ist keine direkte und mechanische, sondern eine indirekte und dialektische. Es gibt weiten Spielraum für die Handlungen der Individuen, um einen Unterschied zu machen – sogar einen entscheidenden Unterschied für den Verlauf der Geschichte, wie die Russische Revolution zweifellos beweist.
Marx beobachtete einst, dass die Theorie zu einer materiellen Kraft wird, wenn sie das Bewusstsein der Massen erreicht. Eine richtige Theorie ist eine, die mehr oder weniger exakt den Hauptverlauf der Ereignisse vorhersagt. Bewaffnet mit einer solchen Theorie sollte es möglich sein, eine Perspektive zu erarbeiten, die im Vorhinein die Hauptlinie der Entwicklung erklärt, noch bevor die Fakten zu ihrer Untermauerung für uns ersichtlich werden.
Das sollte eine revolutionäre Tendenz befähigen, ihre Kräfte korrekt einzusetzen und die wirklichen Tendenzen zu ersehen, bevor sie in Existenz treten. Jeder, der die Polemiken in der russischen Sozialdemokratie in etwa den zehn Jahren vor 1917 studiert, kann sich nicht der Übermacht der einen Theorie erwehren, die mit erstaunlicher Genauigkeit vorhersagte, was 1917 wirklich passierte – Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution. Im Kontrast dazu enthüllte die Theorie des «bürgerlich-demokratischen Stadiums», entwickelt von den Menschewiki, ihre konterrevolutionäre Natur nach dem Februar, als sie dazu verwendet wurde, die Unterstützung der Menschewiki und der SozialrevolutionärInnen für die bürgerliche Provisorische Regierung zu rechtfertigen, während Lenins Formulierung der «demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft» als Entschuldigung für Kamenew und Stalin diente, vor den Menschewiki zu kapitulieren und die sozialistische Revolution um der bürgerlichen Demokratie willen aufzugeben.
Im Verlauf von 1917 verblassten die Differenzen, die Lenin und Trotzki getrennt hatten, als ob sie nie existiert hätten. Zwischen den beiden Männern erwuchs eine Solidarität im wahrsten Sinne und eine Nähe, die bis zum Tod Lenins dauerte. Anfang Oktober unterstützte Lenin in einem an eine Konferenz der Bolschewiki von Petrograd adressierten Dokument, das die Liste der Kandidaten für die Verfassunggebende Versammlung ins Auge fasste, Trotzkis Aufnahme in die Liste und schrieb, dass «niemand die Kandidatur Trotzkis in Frage stellen würde, da Trotzki erstens mit seiner Ankunft sofort einen internationalistischen Standpunkt einnahm; zweitens bei den Mezhrayontsi für eine Vereinigung (mit den Bolschewiki) arbeitete; drittens in den schwierigen Julitagen sich der Aufgabe gewachsen und als loyaler Unterstützer der Partei des revolutionären Proletariats erwies.»(78)
In seinen Memoiren schrieb Raskolnikow: «Mit grosser Verehrung stand Trotzki zu Wladimir Iljitsch (Lenin). Er stellte ihn über alle Zeitgenossen, mit denen er in Russland und im Auslande zusammengetroffen war. Aus dem Tone, in dem Trotzki von Lenin sprach, fühlte man die Ergebenheit des Schülers: zu jener Zeit blickte Lenin auf eine dreissigjährige Erfahrung im Dienste des Proletariats zurück, Trotzki auf eine zwanzigjährige. Das Echo einstiger Meinungsverschiedenheiten in der Vorkriegsperiode war restlos verhallt. Zwischen den taktischen Linien von Lenin und Trotzki bestand kein Unterschied. Diese bereits während des Krieges wahrnehmbare Annäherung offenbarte sich völlig mit dem Moment der Rückkehr Lew Dawidowitschs (Trotzkis) nach Russland; nach seinen ersten Reden fühlten wir alte Leninisten alle, dass er unser ist.» (79)
Sobald er offiziell auf dem Sechsten Kongress der Partei beigetreten war, wurde Trotzki ins Zentralkomitee gewählt. Trotzkis enorme Popularität unter den bolschewistischen ArbeiterInnen und sein rasches Vorrücken wurde von den alten Bolschewiki übel aufgenommen, die ihre Irritation mit Opposition zu Lenins Vorschlag, ihn im Redaktionsteam der Prawda aufzunehmen, zeigten – eine Entscheidung, die im September rückgängig gemacht wurde, als er ins Redaktionsteam gewählt wurde. Wie Lenin in oben genanntem Dokument (das nebenbei in der UdSSR nicht vor 1962 veröffentlicht wurde) festhält, trat Trotzki der bolschewistischen Partei nicht allein bei, sondern mit einer wichtigen Gruppe, den Mezhrayontsy oder InterrayonistInnen. Um genau zu sein, verschob er in Absprache mit Lenin seinen Eintritt in die bolschewistische Partei, um diese Gruppe dafür zu gewinnen, die sich letztlich den Bolschewiki nach den Julitagen anschloss. Auf dem Sechsten Kongress, auf dem die Mezhrayontsi sich der bolschewistischen Partei anschloss und Trotzki ins Zentralkomitee gewählt wurde, war sein Name einer der vier (gemeinsam mit Lenin, Kamenew und Sinowjew), die mit der höchsten Stimmenanzahl gewählt wurden (131 von 134).
Der einzige Grund, warum Trotzki seinen formellen Beitritt zu den Bolschewiki nach seiner Rückkehr verschob, war der, dass er, in voller Übereinstimmung mit Lenin, daran arbeitete, die Mezhrayontsi-Gruppe auch dafür zu gewinnen. «Mezhdurayonny komitet» oder «Mezhrayonka», wie sie besser bekannt war, bedeutet «bezirksübergreifendes Komitee». Das war keine neue Organisation, wie wir schon gesehen haben. Sie wurde 1913 gebildet und hielt ihre revolutionäre Aktivität während des Krieges aufrecht. Ihre Mitgliedschaft bestand hauptsächlich aus RevolutionärInnen, die aus verschiedenen Gründen nicht geneigt waren, Lenins Partei beizutreten.
Es waren linke menschewistische InternationalistInnen, VperyodistInnen, Bolschewistische VersöhnlerInnen, UnterstützerInnen Trotzkis und individuelle Linke, viele von ihnen talentierte Leute, die später eine wichtige Rolle in der Revolution spielten und führende Positionen in der Sowjetregierung besetzten. Solche Männer waren Lunatscharski, der erste Volkskommissär für Erziehung und Kultur, Adolf Joffe, der Sowjetdiplomat, der später aus Protest gegen Stalins Machtaneignung Selbstmord beging, Wolodarski und Uritzki, zwei wichtige bolschewistische Führer in Petrograd, die deswegen nicht bekannter sind, weil sie früh von linken sozialrevolutionären Terroristen ermordet wurden, Rjasanow, der bekannte Schriftsteller, Pokrowski, der Historiker, Manuilski, Jurenjew und viele andere. Im Februar 1917 waren sie eine bedeutsame Kraft mit 4.000 Mitgliedern in Petrograd (C). Ihr Anschluss an die Partei war eine wichtige Entwicklung, wie Lenin später bestätigte.
Vom Moment der Rückkehr Trotzkis im Mai, sobald er die grundlegende Einigkeit ihrer Ansichten erkannt hatte, sah Lenin die Möglichkeit einer Partnerschaft, die wichtige Früchte tragen würde. Die beiden Männer führten Diskussionen, in denen beschlossen wurde, dass Trotzki den Beitritt zu den Bolschewiki verschieben sollte, bis er die Mezhrayontsi auch davon überzeugt hatte. Das war keine einfache Aufgabe, angesichts aller vergangenen Reibungen und Verdächtigungen. Später, bei seinem Auftritt von der Dewey Kommission erklärte Trotzki die Umstände:
«Trotzki: Ich arbeitete mit der bolschewistischen Partei zusammen. Es gab eine Gruppe in Petrograd, die programmatisch dasselbe vertrat wie die bolschewistische Partei, organisatorisch aber unabhängig war. Ich fragte Lenin um Rat, ob es gut wäre, dass ich sofort der bolschewistischen Partei beiträte oder ob es besser wäre, dass ich gemeinsam mit dieser guten Arbeiterorganisation, die drei oder vier revolutionäre Arbeiter hatte, einträte.
Goldman: Drei oder vier?
Trotzki: Drei- oder viertausend revolutionäre Arbeiter. Wir stimmten darin überein, dass es besser wäre, eine Vereinigung der beiden Organisationen auf dem Kommunistischen Parteikongress vorzubereiten. Formell blieb ich in dieser Organisation und nicht in der bolschewistischen Partei bis August 1917. Doch die Aktivität war absolut dieselbe. Das geschah nur, um eine Vereinigung in grösserem Ausmass vorzubereiten.» (80)
Am 10. Mai, wie zur Unterstreichung der Wichtigkeit, die er dieser Frage beimass, besuchte Lenin selbst ein Treffen der Mezhrayontsi und unternahm den aussergewöhnlichen Schritt, ihnen einen Sitz im Redaktionsteam der Prawda und im Organisationskomitee für den kommenden Parteikongress anzubieten (81). In Verbindung damit schrieb er:
«In Ausführung des Beschlusses der Gesamtrussischen Konferenz unterbreitete das ZK unserer Partei, das die Vereinigung mit der «Zwischengruppe» für sehr wünschenswert hält, folgende Vorschläge (diese Vorschläge wurden der Zwischengruppe zunächst nur im Namen des Gen. Lenin und einiger Mitglieder des ZK gemacht, später jedoch fanden sie auch die Billigung der Mehrheit des ZK):
Eine unverzügliche Vereinigung ist wünschenswert.
Dem Zentralkomitee der SDAPR wird vorgeschlagen, unverzüglich in die Redaktionen beider Zeitungen (der jetzigen ‚Prawda’, die zu einer gesamtrussischen populären Zeitung ausgebaut werden soll, und des Zentralorgans, das in der nächsten Zeit geschaffen werden wird) je einen Vertreter der Zwischengruppe aufzunehmen.
Dem Zentralkomitee wird vorgeschlagen, eine spezielle Organisationskommission zur Einberufung eines Parteitags (in 1 ½ Monaten) zu bilden. Die Konferenz der Zwischengruppe erhält das Recht, zwei Delegierte in diese Kommission zu entsenden. Wenn die Menschewiki, die Anhänger Martows, mit den ‚Vaterlandsverteidigern’ brechen, ist es wünschenswert und notwendig, auch ihre Delegierten in die erwähnte Kommission aufzunehmen.
Die Freiheit der Diskussion über strittige Fragen wird durch die Herausgabe von Diskussionsblättern im Verlag ‚Priboi’ und durch die freie Diskussion in der wieder herauszugebenden Zeitschrift Prosweschtschenije (‚Kommunist’) gewährleistet.» (82)
Lenins Verlangen, die Mezhrayontsi zu gewinnen, war nicht zufällig. Die Erfahrung der vergangenen Wochen seit dem Februaraufstand hatte ihn von der Notwendigkeit einer radikalen Erneuerung der bolschewistischen Partei von Grund auf überzeugt. Er brauchte Verbündete auf der Linken, die als Gegengewicht zum Konservatismus der alten Bolschewiki agieren sollten. Seine grösste Hoffnung lag in den bolschewistischen ArbeiterInnen der Basis und besonders im Einfluss frischer neuer Elemente der Jugend, der Fabriken und der Kasernen. Aber das war ungenügend. Er brauchte erfahrene Leute, TheoretikerInnen, PropagandistInnen, AutorInnen, die ein Rolle in der Aufmischung der Führung spielen, die Routine bekämpfen und der Parteiaktivität eine klare revolutionäre Linie aufdrücken sollten.
Die Mezhrayontsi antworteten auf Lenins Eröffnungen mit gewisser Reserviertheit. Erst im Sommer war der Boden ausreichend dafür bereitet, dass die Mezhrayontsi sich den Bolschewiki anschlossen, was sie schliesslich auf dem Sechsten Kongress taten. Doch schon bevor sie sich formell vereinigten, arbeiteten die beiden Organisation eng zusammen. Über den im Juni abgehaltenen gesamtrussischen Sowjetkongress, der eindeutig von den Menschewiki und SozialrevolutionärInnen dominiert wurde, schreibt der gefeierte englische Historiker der Russischen Revolution E.H.Carr: «Trotzki und Lunatscharski waren unter den zehn Delegierten der ‚vereinten Sozialdemokraten’, die die Bolschewiki während der drei Wochen des Kongresses verlässlich unterstützten.» (83)
Um den Eintritt der Mezhrayontsi in die Bolschewistische Partei, dem Teile der Führung der Mezhrayontsi ablehnend gegenüberstanden, zu beschleunigen, schrieb Trotzki in der Prawda folgende Stellungnahme: «Keinerlei prinzipielle oder taktische Meinungsverschiedenheiten existieren, meiner Ansicht nach, gegenwärtig zwischen Interrayonisten und der bolschewistischen Organisation. Es gibt folglich keine Gründe, die das getrennte Bestehen dieser Organisation rechtfertigen.» (84)
Die Istoriya KPSS beschreibt sie in der Tradition stalinistischer Verfälschung als eine Gruppe, die «zwischen Menschewismus und Bolschewismus schwankte», fügt aber ohne Erklärung hinzu, dass «sie im Sommer 1917 in die Reihen der bolschewistischen Partei eintrat.» (85) Zwei Jahre nach der Revolution schrieb Lenin, dass 1917 «der Bolschewismus die besten Elemente aus den Strömungen sozialistischer Prägung, die ihm am nächsten standen, an sich zog». Auf wen beziehen sich diese Zeilen? Die einzige andere Möglichkeit wäre die linke menschewistische Gruppe von Larin gewesen, die sich den Bolschewiki etwa zur selben Zeit wie die Mezhrayontsi anschliessen wollte. Doch Lenins Haltung zu dieser Gruppe war als eine höchst kritische wohlbekannt. In derselben Rede zur Konferenz vom 8. Oktober wies Lenin den Vorschlag, Larin als bolschewistischen Kandidaten für die Verfassunggebende Versammlung zu wählen, entrüstet zurück und nannte ihn «besonders skandalös». (86)
Der Hinweis kann nur auf Trotzki und die Mezhrayontsi gemünzt sein. Die Tatsache, dass keine wirklich politischen Differenzen zwischen den Bolschewiki und den Mezhrayontsi existierten, zeigte sich im Faktum, dass, als sie sich der Partei anschlossen, beschlossen wurde, dass die Zeit ihrer Mitgliedschaft bei den InterrayonistInnen aus Gründen des Dienstalters als gleichwertig auf die Dauer der Zugehörigkeit in der bolschewistischen Partei angerechnet werden sollte. Das zeigte an, dass die politische Linie der beiden Organisationen im Wesentlichen dieselbe war, ein Punkt, der in einer Notiz zu den zu seinen Lebzeiten herausgegebenen Gesammelten Werken Lenins Hervorhebung fand: «In der Frage des Kriegs nahmen die Mezhrayontsi eine internationalistische Position ein und in ihren Taktiken befanden sie sich in großer Nähe zu den Bolschewiki.»
Langsam beginnend, doch mit zunehmender Energie formierten sich auch die Bolschewiki neu. Unter der unermüdlichen Führung von Jakow Swerdlow, ein fähiger Organisator mit kühlem Kopf aus dem Ural, waren die Dinge in Petrograd rasch geordnet. Die Repression hatte die Partei nicht zerstören können. Das war kein Zufall. Die Konterrevolution tastete sich vorsichtig voran. Sie musste ihre Aktionen tarnen, in dem sie im Namen der Revolution und der Verteidigung der Sowjets sprach. Sogar die Truppen, die die Julidemonstration niedergehalten hatten, taten das im Namen der Verteidigung der Sowjets. Ein drastischeres rigoroses Vorgehen hätte Probleme verursacht, obwohl es das war, was Kerenski wollte. Sie mussten mit Vorsicht vorgehen.
Sogar die Prozesse der «Deutschen Agenten» mussten verschoben werden, zum Teil aufgrund des völligen Fehlens jedweder tragfähigen Hinweise. Natürlich waren die Bedingungen noch immer schwierig. Der Verlust von Büros und Aufzeichnungen brachte die Arbeit vorübergehend fast zum Erliegen: «Wir haben alles verloren – unsere Dokumente, Konten, Quartiere, buchstäblich alles!» beklagte sich ein Mitglied des Exekutivkomitees. Die Unterdrückung der Prawda war ein schwerer Schlag und die Partei war darauf zurückgeworfen, Flugblätter auf einer veralteten Handdruckmaschine aus der zaristischen Zeit zu produzieren. Erst Anfang August konnten die Bolschewiki wieder mit der Publikation eines regulären Organs beginnen. Doch die Moral erholte sich schnell. Swerdlow konnte den Parteiorganisationen in den Provinzen telegrafieren, dass «die Stimmung in Pieter (der umgangssprachliche Name für Petrograd, Anm.) gesund und munter ist. Wir behalten einen klaren Kopf. Die Organisation ist nicht zerstört.» (87)
Die bolschewistische Führung traf sich am 13. und 14. Juli, um den von Lenin vorgeschlagenen Taktikwechsel, der schlecht aufgenommen wurde, zu besprechen. Von 15 anwesenden Parteiführenden stimmten zehn dagegen. Die schliesslich vom Zentralkomitee verabschiedete Resolution bezog sich in keiner Weise auf ein Ende der Periode der friedlichen Entwicklung der Revolution noch auf die Notwendigkeit der Vorbereitung auf einen bewaffneten Aufstand. Als Lenin das am nächsten Tag bemerkte, war er tief beunruhigt. Was sollte diese Zeitvergeudung bedeuten? In seinem Artikel Über Losungen griff er frontal die Tendenz seiner GenossInnen an, revolutionäre Aktion zu verschieben und Konzessionen an die ReformistInnen zu machen. Die Situation hatte nach den Julitagen eine scharfe Wendung erfahren. Die Reaktion sass nun im Sattel: «Erstens und vor allem muss das Volk die Wahrheit wissen – es muss wissen, wer tatsächlich die Staatsmacht ausübt. Dem Volk muss die ganze Wahrheit gesagt werden, nämlich dass die Macht in der Hand einer Militärclique der Cavaignacs (C) (Kerenski, gewisse Generäle, Offiziere usw.) liegt, die von der bürgerlichen Klasse unter Führung der Kadettenpartei und von allen Monarchisten, die über die Zeitungen Schwarzhundert, Novoye Vremya, Zhivoye Slovo usw. usw. agieren, unterstützt wird.»
Diese Worte sollten sich als prophetisch erweisen. Die Cavaignacs der Offizierskaste bereiteten tatsächlich einen Gegenschlag vor. Es war nötig, die Partei vorzubereiten und die Massen vor dem drohenden Konflikt zu warnen. Und die Sowjets? Lenin schrieb: «Sowjets können und müssen in dieser neuen Revolution in Erscheinung treten, aber nicht die jetzigen Sowjets, nicht Organe des Paktierens mit der Bourgeoisie, sondern Organe des revolutionären Kampfes gegen die Bourgeoisie. Dass wir auch dann für den Aufbau des ganzen Staates nach dem Typ der Sowjets eintreten werden, das stimmt. Das ist nicht eine Frage der Sowjets schlechthin, sondern eine Frage des Kampfes gegen die gegenwärtige Konterrevolution und gegen den Verrat der gegenwärtigen Sowjets.» (88)
Auf der Zweiten Stadtkonferenz drückte Wolodarski, der mit den Mezhrayontsi übergewechselt war und in der bolschewistischen Organisation in Petrograd bis zu seiner Ermordung durch einen linken sozialrevolutionären Terroristen eine wesentliche Rolle gespielt hatte, die Meinung vieler Anwesender aus, als er sagte: «Leute, die behaupten, dass die Konterrevolution siegreich ist, urteilen über die Massen auf Basis ihrer Führer. Während die Führer (der Menschewiki und Sozialrevolutionäre) nach rechts schwenken, gehen die Massen nach links. Kerenski, Zereteli und Awksentjew sind Könige für eine Stunde… Das Kleinbürgertum wird auf unsere Seite wechseln. Wenn wir das im Kopf behalten, ist klar, dass die Losung ‚Alle Macht den Sowjets’ keineswegs obsolet ist.» Ein anderer Abgeordneter, Weinberg, setzte hinzu: «Die gegenwärtige Regierung wird nicht imstande sein, irgendetwas wegen der ökonomischen Krise zu tun; die Sowjets und politischen Parteien werden nach links gehen. Die Mehrheit der Demokratie ist um die Sowjets gruppiert und daher kann die Zurückweisung der Losung ‚Alle Macht den Sowjets’ sehr schwere Konsequenzen haben.» (89)
Tatsächlich hatte sich Lenin getäuscht. Lenin, der sich versteckte, gab später zu, dass er nicht in Verbindung mit der Situation gestanden hatte. Die folgenden Entwicklungen zeigten, dass die Bolschewiki noch immer eine Mehrheit in den Sowjets gewinnen und die rechten reformistischen Führenden besiegen konnten und genau das war es, was den Erfolg der Oktoberrevolution gewährleistete. Jetzt scheint das so offensichtlich, dass weiterer Kommentar überflüssig ist. Doch gar nichts war daran automatisch. Während des Sommers stand es auf des Messers Schneide und Lenins Sorgen entbehrten keineswegs der Grundlage.
Der entscheidende Wendepunkt war genau der Moment, als es schien, dass die Bolschewiki eine wesentliche Niederlage erlitten hätten und die Konterrevolution am Zug wäre. Während des Sommers 1917 schlug das Pendel immer weiter nach rechts aus. Am 18. Juli wurde General Brjussilow durch General Lawr Kornilow, einem Abenteurer, der anders als die meisten Mitglieder der Offizierskaste kein Aristokrat, sondern der Sohn eines kosakischen Kleingewerblers war, ersetzt. Persönlich tapfer, war Kornilow auch ein Einzelgänger mit der Neigung zum Ungehorsam. Engstirnig in seinen Ansichten und politisch ungebildet, hatte er für alle Probleme eine soldatische Lösung. Es gab nichts in Russland, das nicht mit dem Prasseln eines Schrotschusses und dem Schnalzen einer Offizierspeitsche gelöst werden konnte. Über ihn wurde bemerkt, dass er «das Herz eines Löwen und das Hirn eines Schafs» hatte.
Die zentrale Forderung der Konterrevolution wiedergebend bestand Kornilow auf der Wiedereinführung der Todesstrafe an der Front, wo er sie in der Praxis bereits eingeführt hatte – er hatte befohlen, auf Deserteure zu schiessen. Als Bedingung für die Akzeptanz des Oberkommandos diktierte Kornilow Kerenski die Forderungen. Zusätzlich zur Todesstrafe verlangte er das Verbot von Versammlungen an der Front, die Auflösung revolutionärer Regimenter und ein Ende für die Befugnisse von Soldatenkomitees. Später erweiterten sich diese Forderungen auf die Wiedereinführung der Todesstrafe für ZivilistInnen, die Durchsetzung des Kriegsgesetzes und das Streikverbot in der Rüstungsindustrie sowie bei der Eisenbahn, bei Todesstrafe. Das war ein vollendetes Programm für eine konterrevolutionäre Diktatur.
Kerenski seinerseits hatte keine Einwände, ausser vielleicht hinsichtlich des jeweiligen Zeitpunkts. Sein Hauptkonflikt mit Kornilow bestand darin, dass es nur einen Bonaparte geben konnte und Kerenski war entschlossen, diese Rolle für sich selbst zu reservieren. Aber persönliche Rivalitäten hinderten Kerenski nicht daran, mit Kornilow in Kontakt zu treten und an der Verschwörung zu beteiligen. Das führte Historiker wie Orlando Figes zu der Annahme, dass Kornilow niemals Kerenski aus dem Weg räumen und sich selbst als Diktator einsetzen, sondern nur die Provisorische Regierung vor den Bolschewiki schützen wollte.
Aber Figes eigene Untersuchungen widersprechen diesem Argument. Er schreibt: «Es kann nicht geleugnet werden, dass viele Unterstützer Kornilows ihn drängten, die Provisorische Regierung abzuschaffen. Die Offiziere etwa legten Pläne für einen Staatsstreich vor, während eine ‚Konferenz öffentlicher Männer’, hauptsächlich bestehend aus Kadetten und rechtslastigen Geschäftsleuten, Mitte August Kornilow dazu eindeutig ermutigten. Im Zentrum dieser rechten Zirkel befand sich Wassilii Sawojko, eine recht zwielichtige Figur – Bodenspekulant, Industriefinanzier, Journalist und politischer Intrigant -, die gemäss General Martinow als Kornilows ‚persönlicher Assistent, man könnte sogar sagen, Mentor, in allen Belangen’ fungierte. Sawojkos Pläne für einen Staatsstreich waren so bekannt, dass sogar Whitehall davon hörte: schon am 8. August setzte das Aussenministerium in London Buchanan, den Botschafter in Petrograd, darüber in Kenntnis, dass gemäss seiner militärischen Quellen Sawojko den Sturz der Provisorischen Regierung plante. Auch kann nicht geleugnet werden, dass Kornilow selbst eigene Ambitionen auf dem politischen Feld hatte – der Kult um Kornilow, den er in seiner Entstehung unterstützte, war ein klarer Ausdruck dessen – und er muss vom dauernden Drängen seiner Unterstützer wie Sawojko dazu verführt worden sein, seine enorme Popularität auszunützen, um sich selbst als Diktator einzusetzen.» (90)
Figes beruft sich auf die Tatsache, dass Kornilow, während seine Armee auf Petrograd zumarschierte, laut proklamierte, das für die Rettung der Regierung vor einem «bolschewistischen Putsch», der gerüchteweise für Ende August geplant sei, zu tun. Dieser «Putsch» war eine Erfindung und war offensichtlich als Rechtfertigung für Kornilows Befehl an General Krimow, auf Petrograd vorzuschreiten, zusammengebraut worden. Das ist eine pathetische Argumentationslinie. Man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass Kornilow nur eine wohlbekannte Taktik der Verkleidung einer Offensive als Defensive benutzt hatte. Die «Rettung» der bestehenden Regierung vorgebend, konnte er sie später seiner Gnade unterstellen und dann hinwegfegen und sich selbst als Diktator einsetzen. Dieses Szenario ist nicht einmal originell. Es ist der ausgetretene Pfad jedes Möchte-gern-Bonapartisten, von Napoleon angefangen.
Kerenski, der andere ehrgeizige Bonaparte, versuchte über seinen Botschafter, den Dumaabgeordneten Oktobristen V.N.Lwow, einen Handel zu erwirken. Doch Kornilow sagte Lwow, dass er die diktatorische Macht für sich selbst forderte. Es war kein Platz für einen zweiten Bonaparte! Erst jetzt denunzierte Kerenski Kornilows «konterrevolutionäre Verschwörung» an das Kabinett. Kornilow wurde befohlen, seine Truppen zurückzuziehen. Wenn er tatsächlich nur zur Rettung der Provisorischen Regierung handelte, ist nicht klar, warum er von ihr keine Befehle entgegennahm und sich in die Kasernen zurückzog. Stattdessen gab er nun seine Absicht bekannt, Russland von einer Regierung zu retten, die unter der Kontrolle der Bolschewiki stünde!
Am 25. August begann General Kornilow sein Vorrücken auf Petrograd. Das war ein plötzlicher und scharfer Schwenk der Ereignisse, was eines der Hauptcharakteristika einer revolutionären Periode ist. Hier sehen wir die Wichtigkeit von Taktik, die in ihrem Wesen sehr flexibel sein muss, so dass eine revolutionäre Partei den Kurs zu einer Frage binnen Tagen oder sogar Stunden ändern kann, wenn es nötig ist. Die Frage wurde offen gestellt: welche Haltung sollten die Bolschewiki im Konflikt zwischen Kerenski und Kornilow einnehmen? Trotz der konterrevolutionären und repressiven Politik der Provisorischen Regierung war es nötig, im Kampf gegen die offenen Kräfte der Reaktion, die Kornilow repräsentierte, vereint zu sein. Das wurde von den ArbeiterInnen instinktiv verstanden, einschliesslich der bolschewistischen Werktätigen aus dem Bezirk Wyborg, die die Ersten waren, um zur Verteidigung Petrograds zu eilen.
Durch diesen Schwenk in den Ereignissen beunruhigt, waren die reformistischen Führenden der Sowjetexekutive gezwungen, einen Aufruf an die ArbeiterInnen zu richten, die Revolution zu verteidigen. Die Bolschewiki wurden eingeladen, im Komitee für den Kampf gegen die Konterrevolution teilzunehmen. Bolschewistische Kader, einschliesslich Trotzki, wurden aus dem Gefängnis entlassen, wo sie nach den Julitagen geschmachtet hatten. Die Bolschewiki nahmen das Angebot einer Einheitsfront sofort an und gingen energisch an den Kampf gegen die Konterrevolution. Doch die bolschewistische Politik bedeutete kein Zeichen der Unterstützung für die Provisorische Regierung. Wie Lenin erklärte:
«Die Kerenskiregierung dürfen wir selbst jetzt nicht unterstützen. Das wäre Prinzipienlosigkeit. Man wird fragen: Sollen wir etwa nicht gegen Kornilow kämpfen? Natürlich sollen wir das! Aber das ist nicht dasselbe; da gibt es eine Grenze, sie wird von manchen Bolschewiki überschritten, die in ‚Verständigungspolitik’ verfallen, sich vom Strom der Ereignisse mitreissen lassen.
Wir werden kämpfen, wir kämpfen gegen Kornilow ebenso wie die Truppen Kerenskis, aber wir unterstützen Kerenski nicht, sondern entlarven seine Schwäche. Das ist ein Unterschied. Das ist ein recht feiner, aber überaus wesentlicher Unterschied, den man nicht vergessen darf.» (91)
Lenin meinte, dass die Bolschewiki Kerenksi als «Feuerpause» im Kampf gegen Kornilow nutzen würden und dann, wenn sie stark genug wären, gegen Kerenski vorgehen würden: «Wir ändern die Form des Kampfes gegen Kerenski. Ohne unsere Feindschaft gegen ihn auch nur um einen Deut zu mildern, ohne ein Wort von dem, was wir gegen ihn gesagt haben, zurückzunehmen, ohne auf die Aufgabe zu verzichten, Kerenski zu stürzen, sagen wir: Man muss der Situation Rechnung tragen, jetzt werden wir Kerenski nicht stürzen, wir werden jetzt an die Aufgaben, den Kampf gegen ihn zu führen, anders herangehen, und zwar werden wir das Volk (das gegen Kornilow kämpft) über Kerenskis Schwäche und über seine Schwankungen aufklären. Das taten wir auch früher, jetzt aber ist das die Hauptsache geworden: darin besteht die Änderung.» (92)
Das ist die Essenz von Lenins Taktik während 1917: die reformistischen Führenden nicht direkt anzugreifen, sondern ihre Flanke blosszulegen, den Hauptfeind – die Landbesitzenden und KapitalistInnen und die Reaktion – anzugreifen und in der Praxis zu zeigen, dass die ReformistInnen des Kampfes gegen die Reaktion unfähig waren, unfähig, entschieden im Interesse der ArbeiterInnen und Bauernschaft zu handeln.
Hier war ein klassisches Beispiel leninistischer Politik der Einheitsfront in der Aktion. Die Bolschewiki warfen sich energisch in den Kampf an der Seite der von Menschewiki und SozialrevolutionärInnen geführten Arbeitenden und Soldaten, die die Verleumdungen als «Deutsche Agenten» geglaubt hatten. Sie bewiesen in der Tat, dass sie die besten KämpferInnen gegen die Konterrevolution waren und legten so die Basis für die Gewinnung der Massen von ArbeiterInnen und Soldaten, die bislang die reformistische Führung unterstützt hatten.
Es kann keinen Zweifel geben, dass die Teilnahme der Bolschewiki für die Niederlage Kornilows entscheidend war. Sogar der antibolschewistische Figes gibt zu: «Das Kampfkomitee repräsentierte eine Einheitsfront der gesamten Sowjetbewegung. Doch es war abhängig von der militärischen Organisation der Bolschewiki, ohne die, in den Worten Suchanows, es ‚nur Zeit mit Aufrufen und eitlen Reden von Personen, die ihre Autorität verloren hatten, verbracht hätte’. Nur die Bolschewiki hatten die Fähigkeit, die Massen von Arbeitern und Soldaten zu mobilisieren und zu bewaffnen und sie arbeiteten in enger Kollaboration mit ihren Rivalen in den Sowjets.» (93)
Mit der Anwendung revolutionärer Methoden mobilisierten die Bolschewiki die ArbeiterInnen gegen die KornilowitInnen. Am Papier repräsentierten diese eine bemerkenswerte Kraft. Ihre Stosstruppen waren die sogenannte Wilde Division, rekrutiert aus kriegerischen Bergstämmen des Nordkaukasus. Doch die Bewegung der reaktionären Truppen unter General Krimow gelangte bald an einen Stillstand. Die EisenbahnarbeiterInnen sabotierten die Züge, die – die Weichen von unsichtbarer Hand gestellt – von ihrem Kurs abwichen und auf Seitengleise fuhren. Nachdem der Vorstoss aufgehalten war, wurden die Rebellentruppen von bolschewistischen AgitatorInnen, die sogar die Kosaken überzeugten, nicht zu kämpfen, gewonnen. Die Wilde Division wurde von einer Delegation kaukasischer Moslems, die zufällig auf einem Sowjetkongress in Petrograd zur Zeit der Meuterei waren, in ihrer eigenen Sprache angesprochen. Bald wurden die Offiziere der Rebellen von ihren eigenen Männern verhaftet. Krimow schoss selbst. Die Kornilow-Aufstand brach zusammen wie eine Welle an einem Felsen.
Marx schrieb einst, dass die Revolution die Peitsche der Konterrevolution braucht, womit er Recht behielt. Was als entscheidender Zug der Konterrevolution gedacht war, verwandelte sich in sein Gegenteil. Die Niederlage Kornilows verlieh der Revolution einen mächtigen Impuls. Überall stellten sich Soldaten gegen ihre Offiziere. Viele wurden von ihren eigenen Männern verhaftet. Die unpopulärsten wurden erschossen. Die Soldatenversammlungen stimmten für die sofortige Friedensunterzeichnung und die Machtübertragung auf die Sowjets. Sie stimmten auch mit ihren Füssen ab. Ganze Einheiten lösten sich auf, die Bauernsoldaten kehrten in ihre Dörfer zurück. Die Ankunft so vieler radikalisierter Elemente von der Front fungierte als Anreiz für den Bauernaufstand, der im September aufloderte. Die Revolution war in ihre entscheidende Phase eingetreten.
Der Kampf um die Massen
Die entscheidende Arena des Kampfes waren zweifelsohne die Sowjets. Vom Moment Lenins Rückkehr an war die bolschewistische Partei fest auf das Ziel der Eroberung der Macht orientiert. Doch die Vorbedingung dafür war die Gewinnung einer entscheidenden Mehrheit der Arbeiterklasse. Das bedeutete die Gewinnung einer Mehrheit in jenen Organisationen, die die Loyalität der Massen von Werktätigen und Soldaten beherrschte – die Sowjets. Doch ein ernsthaftes Hindernis war die Dominierung der Sowjets durch die reformistischen Führenden, die Menschewiki und SozialrevolutionärInnen. Von Februar bis zum Sommer war die Mehrheit fest in den Händen der Menschewiki und SozialrevolutionärInnen, die eine Koalition mit den bürgerlichen Liberalen bevorzugten, obwohl sie ihr rückwärtiges Ende mit der Verwendung alter Formeln der Unterstützung der Provisorischen Regierung «insofern sie dieses oder jenes täte» zu bedecken gezwungen waren.
Das geschah, um Kritik von den ArbeiterInnen in den Sowjets, die der bürgerlichen Regierung natürlich skeptisch gegenüberstanden, zum Schweigen zu bringen. Aber sie vertrauten ihren FührerInnen und verliessen sie nicht automatisch, wenngleich sie mit Teilen ihrer Politik nicht übereinstimmten. Die Bolschewiki waren ursprünglich schwer im Nachteil. Ihre Schwäche in den Sowjets nach dem Februar war noch grösser, als die Zahlen nahelegen. In einigen Sowjets hatten sie eine disproportional hohe Vertretung, weil sie mit den Menschewiki gemeinsam KandidatInnenlisten erstellten. So hatten die Bolschewiki in Saratow drei von fünf Mitgliedern im Sowjetpräsidium, aber nur 28 von 248 Abgeordneten im Plenum. (94)
Ab dem Frühling führten die Bolschewiki eine energische Kampagne für Neuwahlen zum Sowjet. Im Verlauf einer Revolution lernen die Massen rasch aus ihrer eigenen Erfahrung. Die Sowjets sind tatsächlich eine viel getreulichere Spiegelung der wechselnden Stimmungen und des Bewusstseins der Massen als die schwerfällige Maschinerie sogar des demokratischsten Parlaments. Doch sogar die Sowjets hinkten hinter der schnell wechselnden Situation her und zeigte öfter den gestrigen als den heutigen Stand der Ideen und Bemühungen der Massen. Die Bolschewiki waren immer viel stärker in den Fabrikkomitees, weil diese viel enger an die einfachen ArbeiterInnen anknüpften und so schneller die wahre Stimmung der Basis wiedergaben.
Zwischen August und September erfuhr die Zusammensetzung der Sowjets eine dramatische Veränderung. Wieder markiert die Kornilow-Affäre hier den entscheidenden Wendepunkt. Die Bedrohung einer Konterrevolution spornte die Sowjets zur Forderung nach entschiedener Aktion an und die bolschewistischen Losungen eines Bruchs mit der Bourgeoisie und «Alle Macht den Sowjets» begannen zu wurzeln. Das Sowjetexekutivkomitee wurde mit Telegrammen, die forderten, dass es die Macht übernehmen solle, überschwemmt. Obwohl der Prozess eher ungleichmässig verlief, war die allgemeine Tendenz diesmal klar in Richtung der Bolschewiki ausgerichtet. Die Sowjetexekutive hing immer noch an ihrer diskreditierten Politik der Unterstützung für die Provisorische Regierung, aber nur mittels einer hauchdünnen Mehrheit – es waren 86 Delegierte für die Sowjetmacht, und nur 97 dagegen. Doch die Situation änderte sich täglich, fast stündlich.
Ein entscheidender Wendepunkt ergab sich in der ersten Septemberwoche, als die Kontrolle des Petrograder Sowjet in die Hände der Bolschewiki überging. Das Kräftegleichgewicht war enthüllt, als eine von den Bolschewiki vorgeschlagene Resolution, die die Bildung einer Regierung von ArbeiterInnen und der Bauernschaft forderte, 229 Stimmen erhielt, bei 115 Gegenstimmen und 51 Enthaltungen, was zeigte, dass viele der menschewistischen und sozialrevolutionären Werktätigen für die Bolschewiki gestimmt hatten. Als Ergebnis verkündete die betäubte reformistische Führung ihren Rücktritt. Panisch angesichts des Verlusts ihrer Schlüsselposition, begannen die ReformistInnen umgehend eine wilde Kampagne auf den Seiten der Iswestija, wie üblich in solchen Fällen, dass die Versammlung nicht repräsentativ gewesen wäre und alle Delegierten zur nächsten Versammlung zwecks Überstimmung der Wahl erscheinen sollten. (95)
Die Sitzung vom 9. September war eine hitzige. JedeR war sich der grundlegenden Wichtigkeit des Ergebnisses bewusst. Alle Fraktionen stellten sicher, dass sie bis zum/zur letzten Delegierten vertreten waren. Es waren etwa 1.000 Delegierte anwesend. Aus Angst, dass sie keine Mehrheit gewinnen könnten, um das Präsidium abzulösen, schlugen die Bolschewiki vor, dass die Wahl nach Proporzsystem geschehen sollte. Lenin verurteilte diesen bürokratischen Zug, der, wie er fürchtete, die Kanten der bolschewistischen Sache abstumpfen lassen könnte. Das Thema war die Frage der ArbeiterInnenmacht und kein Hauch eines Streits über das Zustandekommen sollte ermöglichen, das zu verdunkeln. Aber Lenin brauchte sich keine Sorgen zu machen. Das Thema war allen ausreichend klar und der Vorschlag zur Vorgangsweise hatte den Vorteil, dass er dazu beitrug, die schwankenden Elemente zu gewinnen, nämlich Martows Gruppe und sogar die eher rechtslastigen VolkssozialistInnen. Jedenfalls setzte der Vorsitzende Zereteli den Kompromiss ausser Kraft. Doch der rechte Flügel hatte sich verrechnet. Durch die Verhinderung eines Kompromisses und die Verpflichtung der Delegierten, über eine geradlinige Resolution, die die ReformistInnen eingebracht hatten abzustimmen, wurde die gesamte Versammlung polarisiert. Die Resolution hielt fest, dass die vorangegangene Wahl vom 1. September nicht der Linie des Sowjets entsprach und man das alte Präsidium unterstütze. Dies zwang die Bolschewiki, den Handschuh aufzunehmen und polarisierte die gesamte Versammlung. Es war eine Frage des «entweder…oder».
Der Hauptsprecher für die Bolschewiki war Trotzki, in seinem ersten öffentlichen Auftritt seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Er wurde mit herzlichem Applaus von Teilen des Publikums willkommen geheissen, bevor er einen erbitterten Angriff auf das Präsidium startete. War Kerenski noch ein Mitglied des Präsidiums, ja oder nein? Die Frage erwischte das Präsidium auf dem falschen Fuss. Nach einem Moment des Zögerns wurde die bestätigende Antwort gegeben. Das wurde von Trotzki voll ausgenützt: « ‚Wir waren zutiefst überzeugt,’ erklärte Trotzki, ‚…dass Kerenski dem Präsidium nicht angehört. Wir haben uns geirrt. Nun sitzt zwischen Dan und Tschcheidse das Gespenst Kerenskis…Wenn man euch vorschlägt, die politische Linie des Präsidiums gutzuheissen, vergesst nicht, dass man euch damit vorschlägt, Kerenskis Politik gutzuheissen.’» (96) Sogar zu diesem Zeitpunkt richteten die Bolschewiki ihr Feuer nicht so sehr gegen die ReformistInnen, sondern auf die Bürgerlichen und Kerenski, der nun völlig mit den Bürgerlichen in eins gesetzt wurde.
Durch solch kunstvolle Propaganda gelang es, die ArbeiterInnen zu gewinnen, die bis vor kurzem fest hinter den Menschewiki und SozialrevolutionärInnen gestanden hatten. Durch die Konzentration der Angriffe auf den Klassenfeind enthüllten sie systematisch die klassenkollaborationistische Politik der ReformistInnen, ihre Feigheit, ihren Unwillen, die Feinde der Arbeitenden und der Bauernschaft zu konfrontieren und trieben so einen Keil zwischen die ReformistInnen und ihre UnterstützerInnen.
Das Wahlergebnis konnte nicht klarer sein: für die Koalition 414 Stimmen; dagegen 519; 67 Enthaltungen. Dieser Sieg für die Bolschewiki war umso überwältigender, als die ReformistInnen keine Mühe gespart hatten, die Versammlung mit ihren UnterstützerInnen zu bestücken und sich darauf zu konzentrieren, die Wahl zu einer Umfrage zur Frage «Koalition oder Sowjetregierung?» umzudefinieren. Reformismus oder Bolschewismus? Die Niederlage war ein Schlag für den rechten Flügel. Sie hatten so viel in den Sieg dieser Versammlung investiert, dass sie der Verlust der Wahl völlig zu ernüchtern schien. Die Linke andererseits war ermutigt und liess über die Zeitung ihr Vorankommen verbreiten. Am 11. September, als Dan die Koalition gegen Trotzki, der für eine Sowjetregierung im Petrograder Sowjet sprach, verteidigte, wurde die Koalition mit nur zehn Stimmen dafür und sieben Enthaltungen zurückgewiesen. Die Schlacht in Petrograd war entschieden gewonnen.
Die Dinge liefen nun zugunsten der Bolschewiki. Am 5. September stärkte der Sowjetkongress von Zentralsibirien die Bolschewiki. Moskau folgte bald darauf, dort gewannen die Bolschewiki nicht nur die Mehrheit im Sowjet, sondern auch im Soldatenkomitee, dass separat davon bestand. In den Wahlen zum Moskauer ArbeiterInnensowjetexekutivkomitee am 19. September gewannen die Bolschewiki 32 Sitze, die Menschewiki 16. Nogin wurde zum Präsidenten gewählt. Am 5. Oktober präsentierten die Bolschewiki einer Versammlung des ArbeiterInnen- und Soldatensowjet eine Resolution zur gegenwärtigen Situation und erhielten als Ergebnis 335 Stimmen und 254 Gegenstimmen. Aber in der Exekutive des Soldatensowjets war die Lage anders. Hier blieben die Bolschewiki in der Minderheit, mit 16 Sitzen gegenüber 26 für die SozialrevolutionärInnen und neun für die Menschewiki – eine Situation, die bis zum Oktoberaufstand so blieb. Aus diesem Grund waren in den Vollversammlungen beider Exekutiven die rivalisierenden Fraktionen gleichmässig verteilt und die Bolschewiki waren mitunter in der Minderheit, wenngleich es ihnen üblicherweise gelang, ihre Resolutionen durchzubekommen. In der Grossregion Moskau hatten die Bolschewiki jedoch die Mehrheit schon seit Mai inne. (97)
Die Bolschewiki hatten auch in den nördlichen Gebieten um Petrograd eine starke Position. Im Sowjet von Kronstadt hatten die Bolschewiki 100 Abgeordnete, die Linken SozialrevolutionärInnen 75, die menschewistischen InternationalistInnen 12, die AnarchistInnen 7. Der Rest (90) entfiel auf Unabhängige. Die Bolschewiki erhielten die Mehrheit in Finnland – v.a. in Helsingborg und Wyborg, wo die Macht der Provisorischen Regierung schon im September aufgelöst war. In Estland konnte die Linke ebenfalls hoch gewinnen. Die grosse Mehrheit in Reval, Dorpat und Wenden bildeten im September die Bolschewiki und die Linken SozialrevolutionärInnen. Im im Oktober gewählten Regionalkomitee gab es sechs Bolschewiki, vier Linke SozialrevolutionärInnen, einen menschewistischen Internationalisten und einen rechten Menschewik. Die Organisation der baltischen Flotte – Centrobalt – brach alle Verbindungen mit der Provisorischen Regierung ab und begann, ihre Angelegenheiten selber zu regeln. Die Fünfte Legion, die als das beste Frontregiment galt, wählte Mitte Oktober ein neues Komitee mit einer Mehrheit von Bolschewiki. Somit war nicht nur Petrograd, sondern auch die umgebenden Regionen fest in der Hand der Bolschewiki.
Historisch belegte der Kampf um die Gewinnung von Einfluss in den Gewerkschaften, der Grundeinheit der Organisation der Arbeiterklasse, eine zentrale Stelle in der Strategie und Taktik der Bolschewiki. In der Russischen Revolution jedoch wurde er durch den parallelen Kampf in den Sowjets und Fabrikkomitees trotz weiterhin stattfindenden Kampfs um die Kontrolle der Gewerkschaften etwas in den Hintergrund geschoben. Es gab dafür viele Gründe. Im zaristischen Russland führten die Gewerkschaften ein prekäres Dasein unter einem autokratischen Regime, das sie oft mit Haft und allen möglichen Verboten konfrontierte, was ihre Handlungsfreiheit ernsthaft beschränkte. Daher waren die Gewerkschaften 1917 in einem relativ schwachen Zustand und umfassten nur eine kleine Minderheit von ArbeiterInnen, meist in den besser ausgebildeten und besser bezahlten Schichten der Klasse. Die Masse unorganisierter Werktätiger, die nach dem Februar auf die Bühne traten, organisierten sich selbst spontan in den Sowjets und Fabrikkomitees, die flexibler und repräsentativer als die Gewerkschaften waren, die oft von konservativen Elementen dominiert waren, die offensichtlich eher den Menschewiki als dem revolutionären Flügel anhingen.
«Unter den ersten Einrichtungen, die sich den Bolschewiki anschlossen,» schreibt Lionel Kochan, «waren die Fabrikkomitees. Etwa Juni/Juli befanden sich die Petrograder Komitees bereits unter bolschewistischer Kontrolle; und auf der dritten gesamtrussischen Konferenz der Fabrikkomitees (17.-22. Oktober) waren mehr als die Hälfte der 167 stimmberechtigten Abgeordneten Bolschewiki, die auch die Unterstützung der 24 sozialrevolutionären Abgeordneten genossen. Die Opposition bestand nur aus 7 Menschewiki und 13 Anarcho-Syndikalisten. Das war tatsächlich, wie Trotzki stolz verkündete, ‚die direkteste und unbestreitbare Repräsentation des Proletariats im ganzen Land’.» (98)
Die Arbeit in den Sowjets und Fabrikkomitees bedeutete natürlich nicht, dass die Bolschewiki die Gewerkschaften vernachlässigten. Im Gegenteil. Während 1917 waren die Gewerkschaften ein Feld permanenten Kampfes zwischen den revolutionären Tendenzen und den reformistischen FührerInnen. Der Aufstieg der Bolschewiki vollzog sich bei den MetallarbeiterInnen in Petrograd, wo sie bald einen vorherrschenden Einfluss gewannen, rascher. ArbeiterInnen wurden massenweise auf Fabrikversammlungen, wo alle grossen Entscheidungen durch offene Handzeichen getroffen wurden, rekrutiert. Hier fühlten sich auch frische junge Schichten unmittelbar vom revolutionären Flügel angezogen. Es war genau diese Schicht, die die interne Lage der bolschewistischen Partei selbst veränderte.
Schon im April waren bis auf vier alle Exekutiven der MetallarbeiterInnengewerkschaft Petrograds in den Händen der Bolschewiki. Mit Juni verfügte die Petrograder Organisation über einen «voll ausgebildeten Apparat» von über hundert Personen, die aus Gewerkschaftsfonds bezahlt wurden. Ausgehend von Petrograd verbreitete sich der Parteieinfluss in den Gewerkschaften über andere Regionen. Mit Mai hatte die MetallarbeiterInnengewerkschaft 54.000 Mitglieder, im August 138.000. (99) Angesichts dessen, dass die gesamte ArbeiterInnenschaft in der Metallindustrie im Januar 1917 bei 546.100 lag, repräsentierte das eine beträchtliche Menge eines Schlüsselsektors des Proletariats. Ende des Jahres zählten die Gewerkschaften 544.527 Mitglieder in 236 Organisationen.
In der Textilgewerkschaft, der zweitwichtigste Gruppe, war die Lage gemischter. Im Juni verfügte die Gewerkschaft über eine Mitgliedschaft von 240.000, die mit Oktober auf etwa 400.000 angestiegen war. Das war die Hälfte aller in dieser Industrie Beschäftigten. Ein grosser Teil der Belegschaft bestand aus Frauen und die Textilindustrie war von Arbeitslosigkeit schwer betroffen, sodass es die Neigung gab, von den Gewerkschaften eher Lösungen für die drückenden sozialökonomischen Probleme zu erwarten als revolutionäre Politik. Das mag erklären, warum die Menschewiki und SozialrevolutionärInnen in der Zeit nach dem Februar die Gewerkschaft dominierten (ausser in Petrograd, wo die Bolschewiki vor der Februarrevolution eine kleine Gruppe gebildet hatten, die rasch zur dominanten Kraft wurde). Aber die Bolschewiki nutzten ihre Basis in Petrograd als Sprungbrett und zogen aus, ein Gebiet nach dem anderen zu erobern, beginnend mit dem wichtigen Zentralindustriegebiet.
Im Juni beriefen sie eine regionale Konferenz ein, auf der eine Anzahl von durch die Bolschewiki angeregten Resolutionen verabschiedet wurde, die u.a. die ArbeiterInnenkontrolle über die Industrie forderten. Die menschewistischen Führenden behaupteten nach Art aller GewerkschaftsbürokratInnen, die ihre Macht schwinden sehen, dass die Konferenz «irregulär» gewesen sei. Aber tatsächlich reflektierte sie einen allgemeinen Schwenk der Arbeitenden, die sich vom Einfluss der reformistischen Führungen freizumachen begannen, zur Linken. Die sich ändernde Stimmung wurde durch die Tatsache wiedergegeben, dass die Konferenz ein neues Exekutivkomitee wählte, in dem die Bolschewiki einflussreiche Positionen erhielten. So rang die fortwährende und systematische Arbeit der revolutionären Tendenzen den Menschewiki und SozialrevolutionärInnen eine Position nach der anderen ab. Im August war es den Bolschewiki gelungen, eine starke Stellung in den grossen Industriegewerkschaften zu gewinnen. Anweiler drückt das Wachstum der Bolschewiki in den Gewerkschaften so aus:
«Während die Bolschewiki auf dem gesamtrussischen Kongress der Gewerkschaften (im Juni 1917) die Unterstützung von 36,4% der Abgeordneten hatte, waren auf der Demokratischen Konferenz im September 58% der 117 Abgeordneten Bolschewiki, die 38,4% Menschewiki und rechten Sozialrevolutionären gegenüberstanden.»
Sogar in den traditionell konservativen Gewerkschaften der Angestellten und Handwerker hatte es eine Veränderung in der Perspektive gegeben und die Bolschewiki, wenngleich noch immer in der Minderheit, hatten beträchtliche Anhängerschaft gewonnen. Doch in den höheren Rängen der Gewerkschaften lagen die Dinge anders. Die behäbige Maschinerie der Gewerkschaftsstruktur bedeutete, dass die Veränderungen auf Basisebene lange Zeit brauchten, bis sie an die Führung kommuniziert wurden. In vielen Gewerkschaften gewannen die Bolschewiki erst einige Zeit nach der Oktoberrevolution die Kontrolle. Einige spielten eine offen konterrevolutionäre Rolle, besonders die Bankangestellten und die gesamtrussische Gewerkschaft der EisenbahnerInnen, die versuchte, die Sowjetregierung nach der Revolution zu sabotieren.
Bis zum August blieben die Bolschewiki eine kleine Minderheit in der Arbeiterklasse. In den Sowjets waren sie die kleinste Gruppe. Ebenso in den Gemeinderäten und Gewerkschaften. Im April belief sich die Mitgliedschaft auf etwa 80.000. Im August war sie auf 240.000 angewachsen (100). Der Parteieinfluss wuchs, vor allem seit der Episode Kornilow. In einigen Gebieten wie Iwanowo-Woznesensk waren die Bolschewiki seit dem Frühjahr in der Mehrheit. Aber solche Fälle waren die Ausnahme. In den Provinzen und noch mehr in den ländlichen Gebieten war die Kluft, die die Bolschewiki von den reformistischen Parteien trennte, enorm.
Die Julitage schienen den endgültigen Untergang der Bolschewiki zu markieren. Doch in wenigen Wochen hatte die Partei den verlorenen Boden mehr als wieder gut gemacht. Die Taktik der Bolschewiki im Umgang mit dem Aufstieg Kornilows war der fundamentale Wendepunkt, der den Bolschewiki grosses Prestige als entschlossenste und energische KämpferInnen gegen die Konterrevolution einbrachte und den restlichen bestehenden Verleumdungen als «Konterrevolutionäre» und «deutsche Agenten» ein für alle Mal ein Ende bereitete. Die Dinge liefen nun für die Bolschewiki sehr gut in der Hinsicht, dass es klar wurde, dass die Provisorische Regierung keines der drückenden Probleme, denen die russische Bevölkerung ausgesetzt war, lösen würde und dass die reformistischen FührerInnen blosse Anhängsel der KapitalistInnen waren. Die bolschewistische Losung von «Frieden, Brot und Land» gewann ein noch weiteres Publikum.
Ende August und Anfang September wurden die Bolschewiki zur entscheidenden Massenkraft, nicht nur in Petrograd und Moskau, sondern auch in den Provinzen. Obwohl die Partei relativ klein in der Mitgliedszahl blieb, gab es für jedes Mitglied 20, 30 oder 50 ArbeiterInnen und Soldaten, die sich selbst als Bolschewiki betrachteten. Unter solchen Umständen, wenn der Fluss der Dinge zugunsten der Bolschewiki strömte, war sogar Verfolgung Ansporn für das Wachstum. Werktätige, die um höhere Löhne streikten und sich einem Chorus der Missbilligung seitens der bürgerlichen Presse gegenübersahen, die sie als Bolschewiki angriff, wurden von der Gerechtigkeit der bolschewistischen Sache überzeugt, wenngleich sie nie auch nur eine Zeile von Lenin gelesen hatten. Der Bolschewismus wuchs aus dem einfachen Grund, weil seine Politik und Losungen eng an die Bedürfnisse und Bestrebungen der ArbeiterInnen und der Bauernschaft anknüpften.
«Auf der 7. gesamtrussischen Konferenz in der ersten Maiwoche (B),» schreibt Schapiro, «waren 79.204 Parteimitglieder von 149 Delegierten vertreten. Die grössten Konzentrationen gab es im Gebiet Petrograd und im Ural (jeweils über 14.000), gefolgt vom Gebiet Moskau (7.000) und dem Donezbecken (5.000). Die Stärke der Partei wuchs in den nächsten paar Monaten rasch an. Swerdlow berichtete auf dem 6. Kongress im August, dass die Anzahl der Organisationen von 78 auf 162 gestiegen war und er schätzte die absolute Stärke der Partei auf 200.000. Über die Mitgliedsstärke der Partei im November ist nichts bekannt, aber es kann angenommen werden, dass weitere Steigerung erfolgt war, da die vollständigen Daten über die Mitgliederzahlen der einzelnen Organisationen, die dem Zentralkomiteesekretariat zur Verfügung stehen, für viele Organisationen einen Anstieg nach dem August ausweisen.» (101)
Das Parteiwachstum zeigte sich in einer ganzen Anzahl von Statistiken. Der erste Sieg wurde in den Fabrikkomitees verbucht. Das war wichtig, weil die Fabrikkomitees die Organisationen waren, die die Stimmung der ArbeiterInnen auf Basisebene am unmittelbarsten wiedergeben. Die Fabrikkomitees hatten unmittelbar nach der Februarrevolution einen Anstieg erlebt, als Fortsetzung der Streikkomitees. Sie waren die Messerschneide im Kampf um den 8-Stunden-Tag, den sie oft auf eigene Initiative einführten. Die Forderung nach ArbeiterInnenkontrolle, die von den Bolschewiki vorgebracht wurde, traf auf bereitwilliges Echo seitens der Fabrikkomitees, die in vielen Unternehmen die Kontrolle über Aufnahme und Entlassung von Arbeitskräften innehatten, ArbeiterInnenmilizen bildeten und die Versuche der Bosse, die Produktion zu sabotieren, bekämpften.
Vom 30. Mai bis 3. Juni wurde der erste Kongress der Fabrikkomitees in Petrograd abgehalten. Er war die Bühne für einen bitteren Zusammenstoss zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki bezüglich der Rolle und Aufgaben der Komitees. Die Menschewiki stellten sich natürlich gegen die ArbeiterInnenkontrolle, die mit ihrem Gesamtkonzept des bürgerlichen Charakters der Revolution und dem Recht der Bourgeoisie auf die Herrschaft nicht vereinbar war. Die Konferenz verabschiedete jedoch die bolschewistische Resolution. Lenin nahm an dieser Konferenz teil und entwarf die Resolution «Über Massnahmen im Umgang mit der ökonomischen Verlagerung», die von einer grossen Mehrheit getragen wurde. Seit dem Sommer 1917 waren die Fabrikkomitees in Petrograd, Moskau und im Ural fest in bolschewistischer Hand.
Es gibt eine Fülle von Hinweisen, dass die Bolschewiki an Boden gewannen. Sogar in den Wahlen zum Gemeinderat erzielten die Bolschewiki spektakuläre Ergebnisse. In den Lokalwahlen in Petrograd im August steigerten sie die Anzahl ihrer Sitze von 37 auf 67 und belegten nach den SozialrevolutionärInnen mit 75 Sitzen den zweiten Platz. Die KadettInnen hatten 42, die Menschewiki erlebten den Verlust ihrer Sitze von 40 auf nur mehr acht. Das zeigt klar den Schwenk nach links. Noch überraschender waren die Ergebnisse der Lokalwahlen in Moskau. Wenn wir die Ergebnisse mit denen der Wahlen im Juni vergleichen, sehen wir Folgendes:
Stimmen Prozent
Partei Juni September Juni September
SozialrevolutionärInnen 374.885 54.374 58 14
Menschewiki 76.407 15.887 12 4
KadettInnen 168.781 101.106 17 26
Bolschewiki 75.409 198.230 12 51
(Quelle: Anweiler, Los Soviets en Rusia, 1905-1921, S. 188)
Das ist bedeutsam, weil die Bolschewiki zum ersten Mal eine absolute Mehrheit der Stimmen erhielten. Die Zahlen vom Juni beziehen sich auf die Wahlen zur Moskauer Stadtduma, während die Zahlen vom September die Bezirkswahlen betreffen. In Letzteren war die Beteiligung nicht besonders hoch (50%). Doch das vermindert nicht die Wichtigkeit des Ergebnisses. Es darf nicht vergessen werden, dass die Wahlen zum Parlament und den Gemeinderäten nicht das bevorzugte Feld für eine revolutionäre Partei sind. Es ist allgemein viel leichter, gute Ergebnisse bei Wahlen für Gewerkschaften oder Fabrikkomitees zu erhalten. Das war besonders der Fall in Russland 1917, als die Aufmerksamkeit der Massen sich auf die Sowjets konzentrierte. Doch die Bolschewiki mit dem Ziel der Erreichung weitester Schichten der Gesellschaft ignorierten auch die Lokalwahlen nicht. Das Moskauer Wahlergebnis war hochbedeutsam, weil die Bolschewiki erstmals eine absolute Mehrheit in einem wichtigen urbanen Zentrum gewonnen hatten.
In Petersburg zeigte sich derselbe Trend, wenngleich nicht im selben Ausmass wie in Moskau. Zwischen August und November stieg die Stimmenanzahl für die Bolschewiki von 184.000 auf 424.000; die SozialrevolutionärInnen sanken von 206.000 auf 152.000 herab und die KadettInnen legten von 114.000 auf 274.000 zu. Überraschend steigerten auch die Menschewiki ihren Anteil von 24.000 auf 29.000, aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie nun eine kleine Minderheit bildeten und als echte Kraft der Arbeiterklasse in der Hauptstadt praktisch ausgelöscht waren.
Von seiner Hütte in Razliv verfolgte Lenin den Prozess der Revolution mit scharfer Aufmerksamkeit und verschlang alle Berichte, Statistiken, Anekdoten, alles, das dabei helfen konnte, die allerwichtigste Frage zu entscheiden: wann sollte die Partei zuschlagen? Mit seiner gewohnten Sorgfältigkeit studierte er die Ergebnisse jeder Wahl, jeder Stimme in den Sowjets, Gewerkschaften und Stadträten, und versuchte zu erkennen, welches Licht sie auf das Gleichgewicht der Klassenkräfte warfen. Lenin vergass nicht einen Moment lang, dass Wahlstatistiken den Zusammenhang der Kräfte in einer sehr unvollständigen und verzerrten Weise wiedergaben. Doch alles deutete auf einen raschen Anstieg der revolutionären Partei.
Die Erinnerung an Kornilows Revolte war in den Gehirnen der ArbeiterInnen und Soldaten noch lebendig und die Bedrohung der Konterrevolution verursachte eine rapide Polarisation und Radikalisierung in den Sowjets. Neue Wahlen fanden überall in den Sowjets und Soldatenorganisationen an der Front statt. Und in fast allen erfuhr die Stimme für die Bolschewiki einen überraschenden Aufstieg. Die Macht glitt aus den Händen der rechtslastigen FührerInnen, die ihre völlige Ohnmacht während des Notfalls gezeigt hatten. Einer nach dem anderen wechselten die Sowjets in den Hauptindustriegebieten ihre Loyalität von den Menschewiki und SozialrevolutionärInnen hin zu den Bolschewiki: Petrograd, Finnland, die Flotte, die nördlichen Armeen, Moskau und das Zentralindustriegebiet, der Ural.
Zugegeben, das Bild war kein einheitliches. Die SozialrevolutionärInnen herrschten noch immer in den Bauernsowjets und in den Regimentern an der Front. Doch auch hier fand ein Prozess der inneren Differenzierung statt. Eine linke Tendenz innerhalb der sozialrevolutionären Partei gewann rasch an Boden bis hin zur Spaltung und Zusammenschliessung mit den Bolschewiki. Die rechtslastigen SozialrevolutionärInnen waren die stärksten im Schwarzerdegebiet (in der Ukraine, Anm.) und an der mittleren Wolga. In der Ukraine teilten sie sich die Kontrolle mit den linken NationalistInnen. Aber die Menschewiki verloren überall an Gewicht. Nur in ihrem traditionellen Rückhalt, dem Kaukasus, gelang es ihnen, die Kontrolle über die Sowjets, die sie zu Beginn der Revolution in ganz Russland hatten, zu erhalten. So sah das Kräfteverhältnis aus, das Lenins nächsten Schritt bestimmte. Die Bolschewiki waren nun die entscheidende Kraft innerhalb der Sowjets. Die reformistischen Führenden waren isoliert und in ihrem letzten Rückzugsgebiet, der Sowjetexekutive, belagert. War es nicht an der Zeit, die Sache zur Entscheidung zu bringen zu bringen, den entscheidenden Schlag zu führen?
Lenin war überzeugt, dass die Zeit reif war und dass jede Verschiebung sich als fatal erweisen würde. Aber nicht alle anderen Parteikader dachten genauso. Die Spitze der Parteiführung war von der Juliniederlage noch schwer getroffen und neigte zu extremer Vorsicht. Sinowjew, der bislang immer Lenins Linie gefolgt war, war schwer erschüttert und nun in grosser Nähe zu Kamenew, der wie üblich den Weg der «Mässigung» ging. Seit Anfang September bombardierte Lenin das Zentralkomitee mit Briefen, in denen er unaufhörlich forderte, den Aufstand zu organisieren. Einen Brief an das Zentralkomitee vom 12. bis 14. (25. bis 27.) September eröffnet er mit den Worten: «Nachdem die Bolschewiki in den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten beider Hauptstädte die Mehrheit erhalten haben, können und müssen sie die Staatsmacht in ihre Hände nehmen.» (102)
Lenins Brief schlug ein wie eine Bombe. Das Zentralkomitee war von seinem Inhalt so bestürzt, dass sie tatsächlich entschieden, ihn zu vernichten, wie sich Bucharin später erinnerte: «Als ich hereinkam, kam Miljutin plötzlich zu mir und sagte: ‚Genosse Bucharin, du weisst, wir haben einen kleinen Brief erhalten.’ Der Brief wurde gelesen. Wir rangen alle nach Luft. Keiner hatte die Frage je so scharf gestellt. Keiner wusste, was zu tun sei. Jeder war eine Weile ratlos. Dann dachten wir nach und kamen zu einer Entscheidung. Vielleicht war dies das einzige Mal in der Geschichte unserer Partei, dass das Zentralkomitee entschied, einen Brief von Genosse Lenin zu verbrennen.»
Andere Briefe folgten, jeder dringlicher als der letzte: «Was tun wir? Wir verabschieden nur Resolutionen. Wir verlieren Zeit. Wir legen Treffen fest (Sowjetkongress am 20. Oktober – ist es nicht lächerlich, den so lang hinauszuschieben? Ist es nicht lächerlich, sich darauf zu verlassen/zurückzuziehen?»
«Auf den Sowjetkongress und anderes unter solchen Umständen zu warten, wäre ein Verrat des Internationalismus, ein Verrat der Sache der weltsozialistischen Revolution.»
«Wir müssen … die Wahrheit erkennen, dass es eine Tendenz in unserer Haltung, in unserm Zentralkomitee und unter den Führern unserer Partei gibt, die das Warten auf den Sowjetkongress bevorzugt und sich der sofortigen Machtübernahme entgegenstellt, sich gegen den unmittelbaren Aufstand wehrt. Diese Tendenz oder Haltung muss überwunden werden. Sonst werden sich die Bolschewiki mit ewiger Schande bedecken und sich als Partei selbst ruinieren. Einen solchen Moment verstreichen zu lassen und auf den Sowjetkongress zu ‚warten’ wäre entweder äusserste Idiotie oder nackter Verrat.» (103)
Schliesslich drohte Lenin, verärgert von der Verzögerungstaktik des Zentralkomitees, daraus auszutreten und den Kampf in die Massen der Parteibasis zu tragen: «Wenn ich sehe, dass das ZK meine Vorstellungen in diesem Sinne seit dem Beginn der Demokratischen Beratung nicht einmal beantwortet, dass das Zentralorgan aus meinen Artikeln die Hinweise auf so himmelschreiende Fehler der Bolschewiki streicht wie den schmachvollen Beschluss der Beteiligung am Vorparlament, wie die Überlassung von Sitzen im Präsidium des Sowjets an die Menschewiki usw. usf., so muss ich darin einen ‚zarten’ Wink erblicken, dass das ZK diese Frage nicht einmal zu erörtern wünscht, einen zarten Wink, den Mund zu halten und mich zu entfernen.
Ich bin gezwungen, meinen Austritt aus dem ZK zu beantragen, was ich hiermit tue, und mir die Freiheit der Agitation in den unteren Parteiorganisationen und auf dem Parteitag vorzubehalten.
Denn es ist meine tiefste Überzeugung, dass wir die Revolution zugrunde richten, wenn wir den Sowjetkongress ‚abwarten’ und jetzt den Augenblick verpassen.» (104)
Der wahre Grund für Lenins Beharren auf sofortige Aktion war seine Angst, dass die Parteiführenden schwanken, die Vorbereitung der Machtübernahme nicht weiter vorantreiben und damit die Gelegenheit verpassen würden. Wenn der Moment einmal verstrichen wäre, könnte es Jahre dauern, wieder soweit zu gelangen. Genau aus diesem Grund ist eine Partei und eine Führung notwendig. Lenin war wahrscheinlich im Zweifel über die neuen Mitglieder des Zentralkomitees Joffe und Uritzki, die mit den Mezhrayontsi gewonnen wurden und die er nicht kannte. Waren sie nicht vielleicht Versöhnler? Und würde sich Trotzki auf eine Linie mit Kamenew und Sinowjew einlassen? In seinem Misstrauen gegenüber den neuen Mitgliedern des Zentralkomitees irrte er sich. Sie standen wie Trotzki fest auf der linken Seite. Doch der erbitterte Widerstand, den die alten Genossen Kamenew, Sinowjew und, wenngleich zurückhaltender, Stalin, leisteten, war ein harter Schlag.
An jedem entscheidenden Punkt gab es wilde Kontroversen und Polemiken innerhalb der Führung. Eine solche Kontroverse brach aus über die Frage der Teilnahme an der Demokratischen Konferenz. Das war ein Manöver der Menschewiki und der SozialrevolutionärInnen in der Zentralexekutive des Sowjets, die merkten, dass ihnen die Macht aus den Händen glitt. In der Theorie wurde die Konferenz von der Exekutive einberufen, um die Machtfrage zu entscheiden, doch in der Praxis sollte sie Sand in die Augen der Massen streuen und die Aufmerksamkeit von der anwachsenden Revolutionswoge ablenken und auf harmlosere Reden und Papiere lenken. Die reformistischen FührerInnen taten ihr Bestes, die Repräsentation der ArbeiterInnen und der Bauernschaft zu reduzieren und verliehen der Konferenz ein starkes Gewicht zugunsten kleinbürgerlicher Elemente. Sie versuchten, eine Alternative zu den Sowjets, in denen ihr Einfluss stündlich zurückging, zu gründen. Zu Lenins Empörung stimmte das bolschewistische Zentralkomitee dafür, an dieser Scharade teilzunehmen und rief die Organisationen auf, «ihr Äusserstes zu geben, die grösstmögliche gut zusammengesetzte Gruppe von Delegierten aus den Reihen der Parteimitglieder zusammenzustellen.» (105)
Lenin zweifelte an dieser Entscheidung, aber schloss sich widerwillig an, unter der Bedingung, dass sich die Bolschewiki demonstrativ von allen anderen Strömungen abhoben und eine Stellungnahme zur Enthüllung der Sowjetführung verlasen. Die Erklärung hielt fest: «kämpfend um die Macht, im Namen der Verwirklichung ihres Programms, strebte und strebt unsere Partei nicht danach, sich die Macht gegen den organisierten Willen der Mehrheit der werktätigen Massen des Landes anzueignen». Über diese Stellungnahme schrieb Trotzki: «Das hiess: Wir werden die Macht übernehmen als Partei der Sowjetmehrheit. Die Worte vom ‚organisierten Willen der Werktätigen’ bezogen sich auf den bevorstehenden Sowjetkongress. ‚Nur jene Beschlüsse und Anträge dieser Beratung…’, sagte die Deklaration, ‚können den Weg der Verwirklichung finden, die die Zustimmung des Allrussischen Sowjetkongresses finden werden…’» (106)
Die Entscheidung, an der Demokratischen Konferenz teilzunehmen, war tatsächlich ein Fehler, wie Lenin später feststellte, aber ein relativ geringfügiger und leicht zu korrigierender. Weit schwerwiegender war die Entscheidung der bolschewistischen Delegation auf der Konferenz zur Zustimmung für die Teilnahme im sogenannten Vorparlament, das hier gegründet wurde. Das war ein Unsinn ersten Ranges. Das Streben, eine Art von «Übergangsregierung» zu errichten, war ein durchsichtiger Versuch der reformistischen Führung, den Eindruck zu erwecken, dass Russland nun ein parlamentarisches System hätte, wobei das Vorparlament ein blosses Anhängsel der bürgerlichen Provisorischen Regierung mit nur beratenden Rechten hatte. Das war ein klar reaktionäres Manöver. Doch die bolschewistischen Abgeordneten stimmten mit 77 gegen 50 Stimmen dafür, daran teilzunehmen. Dieser Zug spaltete das Zentralkomitee, Trotzki befand sich an der Spitze jener, die das Vorparlament bekämpften. Lenin, bereits darüber besorgt, dass die bolschewistischen Führenden Zeit verschwendeten, war ausser sich vor Zorn und Frustration. Er forderte offen, dass sich die Bolschewiki aus dem Vorparlament zurückziehen sollten und ihre Energien der Vorbereitung des Aufstands widmen sollten.
In einer Fussnote zum Artikel, in dem er die Teilnahme an der Demokratischen Konferenz als einen Fehler bezeichnete und den Rückzug der Bolschewiki aus dem Vorparlament forderte, schreibt Lenin: «Trotzki ist für den Boykott eingetreten. Bravo, Genosse Trotzki!
Der Boykottismus hat in der Fraktion der Bolschewiki, die zur Demokratischen Beratung gekommen sind, eine Niederlage erlitten. Es lebe der Boykott!
Auf keinen Fall können und dürfen wir uns mit der Beteiligung abfinden. Die Fraktion einer Beratung ist nicht das höchste Parteiorgan, und auch die Beschlüsse der höchsten Organe unterliegen einer Revision auf Grund der praktischen Erfahrung.
Man muss um jeden Preis eine Beschlussfassung in der Frage des Boykotts sowohl durch das Plenum des Exekutivkomitees als auch durch einen ausserordentlichen Parteitag herbeiführen. Man muss sofort die Frage des Boykotts zur Plattform für die Wahlen zum Parteitag und für sämtliche Wahlen innerhalb der Partei machen. Zur Erörterung der Frage müssen die Massen herangezogen werden. Es ist notwendig, dass die klassenbewussten Arbeiter die Sache in ihre Hand nehmen, sie erörtern und einen Druck auf die ‚Spitzen’ ausüben.
Es kann nicht daran gezweifelt werden, dass in den ‚Spitzen’ unserer Partei Schwankungen zu beobachten sind, die verhängnisvoll werden können, denn der Kampf entwickelt sich; unter bestimmten Verhältnissen aber, in einem bestimmten Augenblick können Schwankungen die Sache zugrunde richten. Solange es nicht zu spät ist, muss man mit allen Kräften den Kampf aufnehmen und die richtige Linie der Partei des revolutionären Proletariats durchsetzen.
In den ‚parlamentarischen’ Spitzen unserer Partei ist nicht alles in Ordnung; es ist notwendig, ihnen mehr Aufmerksamkeit zu widmen, sie mehr unter die Kontrolle der Arbeiter zu stellen; die Kompetenz der Parlamentsfraktionen muss strenger festgelegt werden.
Der Fehler unserer Partei tritt klar zutage. Für die kämpfende Partei der fortgeschrittensten Klasse sind Fehler kein Unglück. Ein Unglück wäre das Beharren auf einem Fehler, wäre die falsche Scham, einen Fehler zuzugeben und zu korrigieren.» (107)
Schliesslich, nicht ohne scharfen Kampf im Zentralkomitee, in dem sich Kamenew dem Rückzug aus dem Vorparlament entgegenstellte, wurde Lenins Rat akzeptiert und die Bolschewiki zogen sich zurück, nachdem sie eine Deklaration vorlasen, die in dem Aufruf endete: «Lang lebe der direkte und offene Kampf um die revolutionäre Macht im Lande!»
Am Tag bevor Trotzki die Bolschewiki aus dem Vorparlament führte, traf das Zentralkomitee auf Lenins Drängen einmal mehr zur Diskussion der Frage des Aufstands zusammen. Angesichts der Dringlichkeit der Situation kam Lenin verkleidet, komplettiert mit Perücke, aus Finnland. Doch da war nichts Komisches oder Theatralisches an der Diskussion, von der das Schicksal der Revolution abhing. Lenin zerfleischte die VersöhnlerInnen des Zentralkomitees. Die Protokolle berichten: «Genosse Lenin konstatiert, dass seit Anfang September eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der Frage des Aufstands zu beobachten ist. Indes können wir das nicht zulassen, wenn wir die Losung der Machtergreifung durch die Sowjets allen Ernstes aufstellen. Darum hätte man sich schon längst näher mit der technischen Seite der Frage befassen müssen. Jedenfalls ist das eine brennende Frage, und der entscheidende Augenblick ist nahe.» (108)
Und er zählt die Gründe auf, warum die Bolschewiki die Macht ohne Verzögerung übernehmen sollten. Bedeutsamerweise bezieht er sich zuerst auf die internationale Situation. Die Nachrichten über Meutereien in der deutschen Flotte, über Streiks bei den tschechischen ArbeiterInnen und Demonstrationen und Barrikaden in Italien zeigten an, dass die Bedingungen für die Revolution im Weltmaßstab heranreiften: «Werfen Sie einen Blick auf die internationale Lage. Das Heranreifen der Weltrevolution ist unbestreitbar,» schrieb Lenin in seinem Brief an die Genossen Bolschewiki. (109)
Verzögerung war unzulässig, weil das Schicksal der Revolution ungewiss war. Entweder übernahmen die Bolschewiki die Macht oder Kerenski würde in die Offensive gegen die Sowjets gehen. Das rote Petrograd könnte den Deutschen ausgehändigt und die Konstituierende Versammlung endgültig aufgelöst werden: «Was jetzt mit dem Rückzug bis Narwa und der Preisgabe Petrograds eingefädelt wird, drängt uns noch mehr zu entscheidenden Aktionen.» Und wieder dieselbe Warnung: die Massen sind der Worte und Resolutionen müde. Sie würden die Bolschewiki ebenso wie alle anderen Parteien betrachten, wenn sie nicht handeln würden, um die Macht zu ergreifen: «Der Absentismus und die Gleichgültigkeit der Massen lassen sich damit erklären, dass die Massen der Worte und Resolutionen müde sind. Heute steht die Mehrheit hinter uns. Politisch ist die Frage des Übergangs der Macht völlig herangereift.» (110)
Wie erklären wir die Krisen und Schwankungen in der bolschewistischen Führung während des Verlaufs von 1917? Wenn wir von einer idealisierten Konzeption der bolschewistischen Partei ausgehen, kann diese Frage nicht beantwortet werden. Trotzki fragte: «Wie aber konnte es geschehen, dass Lenin, den wir Anfang April an der Spitze seiner eigenen Partei isoliert sahen, in der gleichen Umgebung wieder allein stand im September und Anfang Oktober? Das lässt sich nicht begreifen, glaubt man der törichten Legende, die die Geschichte des Bolschewismus als Ausfluss der reinen revolutionären Idee schildert. In Wirklichkeit hatte sich der Bolschewismus in einem bestimmten sozialen Milieu entwickelt und war dessen verschiedenartigen Einwirkungen ausgesetzt, darunter auch dem Einfluss kleinbürgerlicher Umkreisung und kultureller Rückständigkeit. Jeder neuen Situation passte sich die Partei nur auf dem Wege innerer Krisen an.» (111)
Es ist ein Gesetz, dass, sowie der Tag des Aufstands anbricht, die Führung der revolutionären Partei unter extremen Druck der anderen Klassen kommt und ein Teil zu schwanken beginnt. Der Grund dafür ist nicht schwer zu finden. Die genaue Bewertung der Stimmung der Massen ist nie leicht zu bestimmen. Angesichts der kolossalen Verantwortung, die auf den Schultern der Führung in einem solchen Moment liegt, der grossen Risiken, die mit jeder Entscheidung verbunden sind, des Drucks der bürgerlichen «öffentlichen Meinung», sind die Nerven bis zum Zerreissen gespannt und jede Schwäche wird grausam sichtbar. Doch am Vorabend des Aufstands ist Schwäche und Schwankung das, was man sich am wenigsten leisten kann.
Aus der Sicht der formalen Logik sind Verteidigung und Angriff unveränderliche Gegensätze. In der Praxis können sie jedoch oft ineinander übergehen. Ein defensiver Kampf kann sich unter gewissen Bedingungen in einen offensiven Kampf verwandeln und umgekehrt. Es gibt viele Vergleichspunkte hinsichtlich Kriegen zwischen Nationen und Kriegen zwischen Klassen. Aber es gibt auch Unterschiede. Eine bürgerliche stehende Armee ist auf Jahrzehnte hinaus vorbereitet, finanziert und bewaffnet für den Krieg. Der Generalstab kann wählen, wann und wo die Feindseligkeiten beginnen. Natürlich handelt es sich auch hier nicht um eine rein militärische Frage. Clausewitz erklärte, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist. Die Militärakte der bürgerlichen Regierungen sind von den Klasseninteressen der Bourgeoisie bestimmt. Daher haben MarxistInnen immer betont, dass die Frage, wer den ersten Schuss abgibt, eine völlig zweitrangige ist, die keinen Bezug zum konkreten Charakter eines Krieges hat.
Jede Regierung in jedem Krieg versucht immer, die Schuld für den Beginn auf die Schultern des Feindes zu laden. Das ist weder Zufall noch eine Laune. Krieg ist nicht nur eine militärische Angelegenheit, sondern beinhaltet Politik. Die Mobilisierung der öffentlichen Meinung im In- und Ausland bezüglich der Unterstützung des Kriegs ist eine grundlegende Frage, die nur auf politischer Ebene gelöst werden kann. Napoleon erklärte, dass im Krieg das Verhältnis von Moral zu physischer Stärke wie drei zu eins liegt. Somit ist die grundlegende Aufgabe der Diplomatie, die öffentliche Meinung zu überzeugen, dass die jeweilige Armee nur in Selbstverteidigung handelt, als Antwort auf inakzeptable Provokation, feindliche Aggression und so weiter. Eine Regierung, die nicht so handelt, würde einen grossen Fehler begehen und ihren eigenen Kriegsbemühungen grossen Schaden zufügen.
All das ist tausendmal mehr wahr in der sozialistischen Revolution. Das Proletariat besitzt anders als die herrschende Klasse keine Armee und wird nie über eine bewaffnete Kraft verfügen, die es mit der Macht des bürgerlichen Staats aufnehmen könnte, vorausgesetzt Letzterer ist intakt. Während konventioneller Krieg hauptsächlich eine militärische Frage ist, in der die Diplomatie eine wesentliche, aber untergeordnete Rolle spielt, liegt die Aufgabe der sozialistischen Revolution im politischen Auftrag der Gewinnung der Massen und der bewaffneten Kräfte. Die Rollen sind vertauscht.
Tatsächlich beginnen die weitaus meisten Kämpfe der Arbeiterklasse als defensive: Kämpfe zur Verteidigung des Lebensstandards, von Arbeit, demokratischen Rechten usw. Unter bestimmten Bedingungen, v.a. unter einer korrekten Führung, können diese Verteidigungskämpfe den Weg für einen offensiven Kampf, einschliesslich eines Generalstreiks, der die Machtfrage aufwirft, bereiten. Doch sogar im Verlauf einer Revolution ist es nötig, alle Verantwortung für Gewalt der herrschenden Klasse zuzuweisen, um die Massen zu gewinnen, nicht nur die Werktätigen, sondern auch das Kleinbürgertum. Es ist daher nicht nur richtig, sondern absolut notwendig, dass die Bewegung sich in einem defensiven Licht präsentiert. Schon im Juni schrieb Lenin:
«Das sozialistische Proletariat und unsere Partei müssen ihre ganze Kaltblütigkeit aufbieten, sie müssen ein Maximum an Standhaftigkeit und Wachsamkeit an den Tag legen: mögen die kommenden Cavaignacs als erste beginnen. Dass diese kommen werden, hat unsere Partei schon auf ihrer Konferenz vorausgesagt. Das Proletariat Petrograds wird ihnen nicht die Möglichkeit geben, die Möglichkeit von sich abzuwälzen. Es sammelt seine Kräfte und rüstet sich zur Gegenwehr in Erwartung des Zeitpunkts, zu dem sich diese Herrschaften entschliessen, von den Worten zur Tat überzugehen.» (112)
Die Geschichte der Russischen Revolution vor, während und nach dem Oktober genügt, um das zu demonstrieren. Am Vorabend der Oktoberrevolution gab es eine Meinungsverschiedenheit zwischen Lenin und Trotzki betreffend des Datums des Aufstands. Lenin wollte direkt zur Machtergreifung im September ziehen, während Trotzki für die Verlegung des Aufstand bis zum Sowjetkongress war. Warum nahm Trotzki diese Position ein? Fehlte es ihm an Mut? Sicher nicht. Trotzki verstand, dass sogar in einer Revolution die Frage der Legitimität eine extrem wichtige für die Massen ist. Trotzki war sicher, dass die Bolschewiki auf dem Kongress die Mehrheit erlangen würden und daher vor den Massen als die legitime Kraft der Gesellschaft auftreten könnten.
Das war keine zweitrangige Frage, sondern ein grundlegender Faktor im Versuch einer friedlichen Machtübergabe. Wieder einmal war das wesentliche Element kein militärisches, sondern politisch. Nebenbei präsentierten die Bolschewiki den Oktoberaufstand als Defensivhandlung, um zu verhindern, dass Russland in Chaos und Bürgerkrieg versänke. Und das ist kein Zufall. Sogar wenn man in der Position ist, in den Angriff übergehen zu können (was durchaus nicht immer der Fall ist, eher im Gegenteil), ist es immer nötig, zu handeln und zu reden, als ob man sich in einem Defensivkampf befände und alle Verantwortung dem Feind zuzuschieben.
Kamenew und Sinowjew waren gegen die Machtübernahme, weil sie vom Druck der bürgerlichen öffentlichen Meinung beeinflusst waren und ihre Nerven verloren. Übertreibung der Stärke des Feindes und eine pessimistische Einschätzung des Kampfpotenzials der Arbeiterklasse ist charakteristisch für diesen Geisteszustand. Für sie hiess Verschiebung auf ewig. Kamenews Haltung zeigte sich in einer Unterhaltung, die er mit Raskolnikow nur wenige Wochen vor dem Aufstand hatte:
«Als ich meinen alten Freund L.B.Kamenew traf, tauchte ich sofort mit ihm in eine Diskussion über ‚unsere Differenzen’ ein. Der Ausgangspunkt für Lew Borisowitschs Argument war, dass unsere Partei noch nicht bereit für den Aufstand wäre. Tatsächlich hatten wir riesige Massen unterschiedlicher Art hinter uns und sie verabschiedeten bereitwillig unsere Resolutionen, aber es war noch ein langer Weg vom Papier zur aktiven Teilnahme an einem bewaffneten Aufstand. Es war nicht sicher, dass die Petrograder Garnison sich in der Schlacht entschlossen zeigen würde, bereit zu erobern oder zu sterben. Wenn die ersten kritischen Umstände erwüchsen, würden die Soldaten uns verlassen und wegrennen.
‚Die Regierung andererseits,’ sagte Genosse Kamenew, ‚hat die ihrer Sache ergebenen Truppen hervorragend zu ihrer Verfügung organisiert – Kosaken und Kadetten, die gut gegen uns vorbereitet worden sind und verzweifelt bis zum Ende kämpfen werden.’
Aus diesen deprimierenden Fakten Schlüsse für unsere Siegeschancen ziehend kam Genosse Kamenew zur Ansicht, dass ein erfolgloser Versuch eines Aufstands in Niederlage und Untergang unserer Partei enden würde, was uns zurückwerfen und für eine lange Zeit die Entwicklung der Revolution verschieben würde.» (113)
Lenin drängte deshalb so auf die Notwendigkeit der sofortigen Machtergreifung, weil er nicht ohne Grund fürchtete, dass die bolschewistischen VersöhnlerInnen die Gelegenheit verstreichen lassen würden. Aber sein Widerstand gegen die Verschiebung des Aufstands bis zum Sowjetkongress war nicht besonders wohlbegründet. Trotzki unterstützte die Verschiebung nicht nur, um die schwankenden Elemente im Zentralkomitee zu gewinnen, sondern aus gesunden taktischen Gründen. Die Mehrheit der Arbeitenden und Soldaten blickten noch immer zur Autorität des Sowjets auf. Sie würden die Machtübernahme unterstützen, wenn sie im Namen des Sowjets geschähe, aber nicht notwendigerweise im Namen der Bolschewiki allein. Daher sollte der Aufstand mit dem Sowjetkongress zusammenfallen, wo die Bolschewiki und ihre Verbündeten sicher waren, die Mehrheit zu gewinnen. Lenin war über diese Strategie im Zweifel. War das nicht ein weiteres Beispiel von Ausflucht und legalistisch-parlamentarischem Kretinismus?
Doch Trotzkis Position war zweifellos richtig. Er verstand die Notwendigkeit, die Arbeit zur Gewinnung der Sowjets bis zum Moment des Aufstands fortzusetzen, um die grösstmöglichen Kräfte für den Aufstand und den geringstmöglichen Widerstand zu mobilisieren. Deshalb unterstützte er gegen Lenins Widerstand die Verschiebung des Aufstands, um ihn mit dem Sowjetkongress zusammenfallen zu lassen, auf dem die Bolschewiki die Mehrheit gewinnen würden. So nimmt sogar im Verlauf eines Aufstands selbst die Frage der Legitimität, weit davon entfernt, zu einer unwichtigen Haltung degradiert zu werden, eine entscheidende Rolle bei der Gewinnung der trägeren Schichten der Massen ein. Der Aufstand fand statt, wie Trotzki es vorgeschlagen hatte, in Übereinstimmung mit dem Kongress. Das hinderte natürlich nicht die StalinistInnen an der Behauptung, dass Trotzkis Vorschlag «in der Praxis bedeutete, den Aufstand stümperhaft zu organisieren und der Provisorischen Regierung zu gestatten, ihre Kräfte zusammenzuziehen, um den Aufstand am Tag, an dem der Kongress begann, zu zerschlagen.» (114)
Die Entscheidung, den Aufstand zu organisieren, wurde vom Zentralkomitee auf Lenins Drängen am 10. Oktober getroffen. Es scheint klar, dass Lenin beabsichtigte, den Sowjetkongress der nördlichen Regionen, der von 11. bis 13. Oktober in Petrograd stattfand, dazu zu verwenden, den Aufstand zu beginnen. Übereinstimmend mit den lettischen bolschewistischen Latsis lautete der Plan, dass sich der Nordkongress selbst zur Regierung erklären sollte, was den Start kennzeichnen würde. Das war einer von vielen regionalen Sowjetkongressen, der in Vorbereitung auf den kommenden gesamtrussischen Kongress abgehalten werden sollten. Der Kongress war von der Linken dominiert: 51 Bolschewiki, 24 linke SozialrevolutionärInnen, vier MaximalistInnen (eine kleine terroristische Splittergruppe der SozialrevolutionärInnen), ein menschewistischer Internationalist und nur zehn SozialrevolutionärInnen und vier Menschewiki, die sofort hinausgingen. Ursprünglich sollte er in Helsingborg in Finnland abgehalten werden, doch er wurde in die Hauptstadt als einen geeigneteren Platz für den Beginn des Aufstands verlegt.
In einer Nachricht an die bolschewistischen Abgeordneten für den Kongress der nördlichen Regionen schrieb Lenin, dass sie «Verräter der Internationalen» wären, wenn sie sich auf «blosse Resolutionen» beschränkten. Aber der Kongress stimmte nicht für den sofortigen Aufstand. Stattdessen verabschiedete er eine Resolution, die sich für eine Sowjetregierung aussprach, sie aber an den kommenden gesamtrussischen Kongress knüpfte. Das war die allgemeine Stimmung zu dieser Zeit. Berichte aus vielen Gebieten zeigen dasselbe Bild: dass ArbeiterInnen bereit wären, für die Errichtung einer Sowjetregierung zu kämpfen, wenn es vom Sowjetkongress verkündet würde, aber nicht notwendigerweise, wenn eine einzelne Partei, die Bolschewiki, ohne den Stempel der Autorität der Sowjets dazu aufrief. Mehr noch, interne Berichte, besonders aus der bolschewistischen Militärorganisation enthüllten einen enttäuschenden Zustand der Unvorbereitetheit und «eklatanter Mängel». Wahrscheinlich waren sie übertrieben.
Die Militärorganisation neigt immer dazu, der rein militärisch-technischen Seite ausserordentliche Wichtigkeit zuzuschreiben, wohingegen in Wirklichkeit die politischen Fragen die entscheidenden sind. Nichtsdestotrotz zeigten diese Berichte etwas. Nach der bitteren Erfahrung der Julitage fürchteten die bolschewistischen AktivistInnen Isolation und neigten dazu, vorsichtig zu sein – vielleicht zu vorsichtig. Nichtsdestoweniger wurde es immer klarer, dass die Partei weder psychologisch noch organisatorisch für den entscheidenden Sprung bereit war. Ein paar weitere Wochen waren nötig. Und das bedeutete, dass der Aufstand mit dem zweiten gesamtrussischen Kongress zusammenfallen würde.
Durch ausgefeilte und flexible Taktiken gelang es den Bolschewiki, ihren Einfluss in den Sowjets in den Monaten vor Oktober drastisch bis an den Punkt zu steigern, an dem sie zusammen mit ihren Verbündeten eine Mehrheit im Sowjetkongress anleiten konnten. Das und nur das erklärt den relativ friedlichen Charakter des Oktoberaufstands. Der Grund war nicht primär militärisch, sondern die Tatsache, dass neun Zehntel der Arbeit schon vorher vollbracht waren. Die wesentlichste Arena des Kampfes lag in den Sowjets selbst. Anweiler schildert den folgenden Zusammenbruch der Beziehungen zwischen den Parteien im Sowjet am Vorabend des Aufstands:
«1) In den Arbeitersowjets in fast allen grossen Industriestädten hatten die Bolschewiki die Mehrheit und dasselbe war der Fall für die Mehrheit der Soldatensowjets in den Regimentern. Die wesentlichen Punkte ihres Einflusses waren:
2) In den Bauernsowjets und in den Sowjets an der Front waren die Sozialrevolutionäre weiterhin die dominante Kraft. Ein starker linker Flügel, der sich schliesslich in den Wochen vor dem Oktober von den Sozialrevolutionären abspaltete, war auf Seiten der Bolschewiki und half ihnen oft, eine Mehrheit in den meisten Sowjets zu erhalten. Die gemässigten Sozialrevolutionäre waren am stärksten in:
3) Die Menschewiki hatten ihre dominante Position in den Arbeitersowjets nach den ersten Monaten der Revolution fast überall verloren. Nur im Kaukasus, besonders in Georgien, wo sie sich auch auf die bäuerliche Bevölkerung stützen konnten, waren sie viel stärker als die Bolschewiki im Oktober 1917
4) Zum ersten Mal spielten Gruppen von Maximalisten und Anarchisten eine wichtige Rolle in einigen Sowjets. Sie unterstützten die Bolschewiki im Oktober und leisteten einen wesentlichen Beitrag zur Radikalisierung der Massen.» (115)
Anweiler übertreibt die Rolle der AnarchistInnen und MaximalistInnen, die eine winzige Minderheit waren und ultralinke Strömungen repräsentierten, die immer existieren, aber keine wirkliche Rolle spielen können. Ein gewisses Wachstum solcher Tendenzen in einer Revolution ist zu erwarten. Lenin selbst erklärte, dass die Massen bereits des Wartens müde waren. Einzelne oder manchmal kleine Gruppen von ArbeiterInnen, die sich ein wenig zu weit vor ihre Klasse gewagt hatten, können von den radikal klingenden Losungen der Ultralinken angezogen werden. Aber für jeden von ihnen gibt es 50, 100 oder 1.000, die sich den traditionellen Massenorganisationen anschliessen, sogar wenn diese unter der Führung der ReformistInnen sind. Der Grund, warum die AnarchistInnen keine bedeutende Rolle in der Russischen Revolution spielten, liegt in der Existenz der bolschewistischen Partei. In Staat und Revolution schreibt Lenin verständnisvolle Zeilen über die anarchistischen ArbeiterInnen, während er ihre halbgaren Bemerkungen über den Staat kritisiert und betont, dass der Anarchismus (und ultralinke Politik im Allgemeinen) der Preis ist, den die Bewegung für den Opportunismus der reformistischen ArbeiterInnenführungen zahlen muss.
Unter russischen Bedingungen war der Reformismus immer ein schwaches und kränkliches Gewächs. Es gab keine Tradition mächtiger reformistischer Gewerkschaften und ArbeiterInnenparteien wie in Westeuropa. Nichtsdestotrotz wählten aus den bereits erwähnten Gründen die russischen Werktätigen im Februar, sogar als sie die Sowjets errichteten, den Weg des geringsten Widerstands und stärkten die reformistischen Parteien in den Sowjets. Nur durch die Erfahrung grosser Ereignisse lehnten die Massen diese Führenden ab und bewegten sich in die Richtung des Bolschewismus. Doch dieser Prozess war weder leicht noch automatisch. Er war nur möglich geworden durch die im Allgemeinen korrekte Politik und Taktiken der Bolschewiki und v.a. ihrer klaren Orientierung hin zu jenen Massenorganisationen, die bereits von den ArbeiterInnen geschaffen worden waren und die trotz der Politik ihrer Spitzen enorm anziehende Kraft hatten – die Sowjets und die Gewerkschaften.
Die Art, in der die Arbeitenden an den etablierten Massenorganisationen hingen, wurde am Vorabend des Oktober eindeutig durch die Kontroverse um den Tag des Aufstands und des Sowjetkongresses sichtbar. Lenin war zu Recht besorgt über den konstitutionellen und parlamentarischen Kretinismus der bolschewistischen Führenden wie Kamenew und Sinowjew. Er fürchtete Verschiebung, da jeder Tag, der vorbeiging, den KonterrevolutionärInnen die Zeit und die Gelegenheit gab, sich neu zu formieren und eine neue Offensive zu starten. Es gab dauerhafte Gerüchte (die sich im Folgenden als wahr erweisen sollten), dass Kerenski plante, das Zentrum der Regierung nach Moskau zu verlegen. Es war durchaus möglich, dass die Provisorische Regierung Petrograd eher in die Hände der Deutschen fallen lassen würde, bevor sie sie an die Bolschewiki gehen sehen müsste. Es gibt deutliche Hinweise, dass die Bourgeoisie in der Hauptstadt auf die kaiserlichen Armeen als ihre Rettung wartete. Zur Zeit des Kornilowaufstands hatten die Deutschen Riga genommen. Später besetzten sie zwei strategisch wichtige Inseln im Baltikum, die in Reichweite von Petrograd lagen. Die Gefahr war real.
Mikhail Rodsjanko, der frühere Obmann der Duma, gestand in vielen Worten, dass es besser wäre, wenn die Deutschen Petrograd nähmen: «Petrograd scheint (von den Deutschen) bedroht … Ich sage, zur Hölle mit Petrograd … die Leute fürchten, dass unsere zentralen Einrichtungen in Petrograd zerstört werden. Dazu sage ich, dass ich froh wäre, wenn diese Einrichtungen zerstört werden, denn sie haben Russland nichts als Trauer gebracht.» (116) Schlussendlich bereitete Kerenski unter Benutzung der deutschen Bedrohung die Abschaffung der rebellischen Petrograder Garnison vor. Doch als sich die Kluft zwischen den Klassen immer weiter öffnete, wurde die Bedrohung, dass die Sowjets von den Kräften der Reaktion aufgelöst werden könnten, immer grösser.
Das Hauptargument gegen Lenin war «wir müssen den Sowjetkongress abwarten». Aber Lenin fürchtete, dass der Kongress verschoben würde. Die Sowjetführung hatte ihn schon einmal aus Furcht, dass sie die Kontrolle verlieren könnte, verschoben. Warum sollte sie das nicht wieder tun? Dann hatten die GegnerInnen des Aufstands ein anderes Argument. Warum nicht auf die Zusammenkunft der versprochenen Konstituierenden Versammlung warten? Sie suchten immer nach irgendeinem Vorwand, um den Aufstand zu verschieben. Hier fand es Lenin wieder sehr wahrscheinlich, dass die Provisorische Regierung die Veranstaltungen zu den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung verschieben oder streichen würde. Daher sein erbitterter Widerstand gegen das Warten auf den Sowjetkongress oder irgend etwas anderes.
Lenins Ungeduld und seine beständige Angst, dass die bolschewistischen Kader Zeit verloren, waren zum Teil dem Schwanken Kamenews und Sinowjews anzulasten, die jedoch bei weitem nicht die Einzigen in der bolschewistische Führung waren. Aber sie waren auch zum Teil das Ergebnis von Lenins Isolation. Trotzki, der mit der Lage an der Basis in engerem Kontakt stand, war für die Vorbereitung des Aufstands, aber er sollte zeitgleich mit dem Sowjetkongress stattfinden, der ihm die nötige Legitimität in den Augen der Massen verleihen sollte. Das zeigt eine genaue Erkenntnis der Psychologie der ArbeiterInnen. Die Bolschewiki hatten sicher seit dem Sommer ausserordentliche Fortschritte gemacht. Das Wachstum der Mitgliedschaft war nun so rapide, dass es die knappe Kapazität des Parteiapparats sprengte, der damit nicht Schritt halten konnte. Im August, zur Zeit des 6. Kongresses, betrug die Mitgliedszahl etwa 240.000 (D). Auf dem Treffen des Zentralkomitees am 16. Oktober berichtete Swerdlow, dass «das Wachstum der Partei gigantische Ausmasse erreicht hat: gegenwärtig muss sie auf mindestens 400.000 geschätzt werden.» (117)
Tatsächlich ist es unmöglich, exakte Zahlen über die Mitgliedschaft jener Zeit wiederzugeben. Der bolschewistische Parteiapparat war noch relativ schwach und dauernd mit Arbeit eingedeckt. In einer Revolution müssen die Anforderungen der Stunde Vorrang vor solch banalen Dingen wie die Aktualisierung der Mitgliedszahlen haben. Jede Schätzung muss daher einen bedingten Zug aufweisen. Lenin selbst gestand ein, dass unmöglich war, eine genaue Vorstellung über die Mitgliedschaft im September zu erhalten, aber deutete die wachsenden Spenden von den ArbeiterInnen als Beweis für das rasche Parteiwachstum: «Ferner kann das bewusste Mitwirken der Massen in der Partei angesichts des Fehlens jeder Statistik über die Mitgliederbewegung, den Versammlungsbesuch usw. nur an hand solcher Tatsachen wie die veröffentlichten Angaben über Geldsammlungen für die Partei beurteilt werden. Diese Angabe zeigen den gewaltigen Massenheroismus der bolschewistischen Arbeiter bei der Sammlung von Geldmitteln für die Prawda, für die verbotenen Zeitungen usw. Die Berichte über die Sammlungen sind stets veröffentlicht worden.» (118)
Was ausser Frage steht, ist die Tatsache, dass die Bolschewiki, die das Jahr als winzige Organisation begonnen hatten, rasch zu einem Ausmass gewachsen waren, mit dem sie eine dominante Kraft in der Arbeiterklasse geworden sind. Doch selbst mit einer Mitgliedschaft von 400.000 wären die Bolschewiki nie imstande gewesen, Millionen Werktätige und Soldaten ohne flexible Taktiken und Methoden und einer korrekten Orientierung auf die Massenorganisationen zur Machtergreifung zu führen. Der Fortschritt der Partei in den Sowjets hat darauf bereits hingewiesen. Aber das zeigt nicht alles. Während die bolschewistischen Losungen ein bereitwilliges Echo unter den Arbeitenden fanden, blickten diese weiterhin auf die Sowjets, auf dass diese die Losungen in die Praxis umsetzten. Die Beziehung war eine dialektische. Tatsächlich konnten sie unter der Führung der rechtslastigen ReformistInnen als konterrevolutionäre Sowjets charakterisiert werden. Doch andererseits hätte die Politik der Bolschewiki ohne die Sowjets nicht notwendigerweise das Ohr der Massen erreicht, die noch tiefe Illusionen in jene Organisationen pflegten, die sie selbst errichtet hatten und an die sie gewöhnt waren, Lösungen für ihre Probleme zu erwarten. Die Ideen des Bolschewismus erreichten erst eine unwiderstehliche Macht, als sie in den Köpfen der Massen mit den Organisationen verknüpft waren, denen sie ihre Loyalität geschenkt hatten – den Sowjets.
Die Stunde entschiedener Aktion war gekommen. Zu dieser Zeit wurden die bolschewistischen ArbeiterInnen der Basis angesichts des Mangels entschlossener Tatkraft von oben schon ungeduldig. Am 19. (16.) Oktober verlas Lenin auf einem geheimen Treffen des verstärkten Zentralkomitees wieder eine Stellungnahme über die Notwendigkeit eines sofortigen Aufstands. Mit nur zwei Gegenstimmen – Kamenew und Sinowjew – wurde entschieden, dass der einzige Weg, die Revolution vor der Zerstörung zu bewahren, ein bewaffneter Aufstand war. Überzeugt, dass ein Aufstand vernichtend für die Partei und die Revolution wäre, eröffneten Lenins zwei alte Kampfgefährten einen verzweifelten Feldzug, um ihn zu stoppen. Am 18. Oktober gingen sie soweit, einen Artikel in einer nicht-parteieigenen Zeitung, Gorkis Novaya Zhinzn’, zu veröffentlichen, der sich öffentlich der Organisierung eines Aufstands als «einen Akt der Verzweiflung», der «die ruinösesten Konsequenzen für die Partei, für das Proletariat, für das Schicksal der Revolution» bringen würde, entgegenstellte. Bedeutsamerweise beanspruchte der Brief, der unter Kamenews Namen erschien, nicht nur für die beiden Mitglieder des Zentralkomitees, sondern für eine grosse Anzahl (ungenannter) «aktiver Parteiarbeiter» zu sprechen:
«Nicht nur ich und Genosse Sinowjew, sondern eine Anzahl aktiver Parteigenossen denken, dass die Initiative für einen bewaffneten Aufstand zu ergreifen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt unter den herrschenden Bedingungen sozialer Kräfte, unabhängig vom Sowjetkongress und wenige Tage vor seiner Zusammenkunft, ein unzulässiger Schritt wäre, vernichtend für das Proletariat.» (119)
Das war, um es milde auszudrücken, ein ernsthafter Disziplinbruch. In der Präsentation ihrer Argumente gegen den bewaffneten Aufstand hatten Kamenew und Sinowjew der feindlichen Hauptpartei Entscheidungen bezüglich des Aufstands zugespielt, die eindeutig geheim bleiben sollten. Wütend über diese Aktion schrieb Lenin in einer uncharakteristischen Tat einen bösen Brief an das Zentralkomitee, in dem er Kamenew und Sinowjew als Streikbrecher bezeichnete und ihren Ausschluss aus der Partei forderte (120). Tatsächlich führte das Zentralkomitee Lenins Anliegen nicht aus. Kamenew (aber nicht Sinowjew) zog sich aus dem Zentralkomitee zurück und beiden Männern wurde untersagt, weitere Stellungnahmen, die im Gegensatz zu Entscheidungen des Zentralkomitees standen, abzugeben. Aber sie wurden weder ausgeschlossen noch dazu aufgefordert, ihre Tat zu widerrufen. Der Tag der stalinistischen Geständnisse und erzwungenen Widerrufungen war noch nicht gekommen. Trotz der Ernsthaftigkeit ihres Vergehens wurde es ihnen nicht vorgehalten. Am Tag nach dem Aufstand präsentierten sich Kamenew und Sinowjew beim bolschewistischen Hauptkommando und ihnen wurden verantwortungsvolle Positionen in der Partei und dem Sowjetstaat übertragen.
Die Affäre Kamenew-Sinowjew verursachte keinen bleibenden Schaden. Es standen schon alle Zeichen sehr deutlich auf Aufstand. Unter solchen Bedingungen können Fehler von RevolutionärInnen normalerweise von einer intelligenten Führung, die ihren Kopf behält, korrigiert werden. Doch im Lager der Reaktion ist das Gegenteil wahr. Mit Problemen von allen Seiten konfrontiert, gefangen in einem Wirrwarr von Widersprüchen, können die PolitikerInnen, die gestern nichts falsch machen konnten, auf einmal nichts richtig tun. Das ist die Erklärung der oft wiederholten Kommentare über die «Unfähigkeit», «Starrsinnigkeit» und «Dummheit» Kerenskis, von Zar Nikolaus, König Ludwig, Marie Antoinette, Karl I. und einer langen Liste anderer ähnlicher Personen. Die antiken Griechen pflegten zu sagen: «Wen die Götter zu zerstören wünschen, den machen sie zuerst verrückt.» Aber bei genauerem Hinsehen wurzelt diese Verrücktheit in der objektiven Situation. Ein verurteiltes Gesellschaftssystem endet in einem Regime voller Krise. In solchen Regimes sind die Optionen beschränkt und der Spielraum für Fehler ist vertausendfacht.
Unter einer gegebenen günstigen historischen Konstellation können sogar Tölpel und Mittelmässigkeiten erfolgreich regieren (und tun es häufig). Aber wenn ein Regime und ein Gesellschaftssystem todkrank ist, sind auch die Begabungen der fähigsten MinisterInnen nicht notwendigerweise ausreichend, um es zu retten. Solche Regimes werden unausweichlich über interne Krise und Spaltungen an der Spitze gesprengt. Ein Teil der herrschenden Klasse versucht, das Desaster durch Zugeständnisse zu verhindern, andere versuchen die wachsende Woge der Revolte durch Unterdrückung zu stoppen. Das Ergebnis ist das Erscheinen (und die Wirklichkeit) von Schwankung und Inkompetenz. All das heisst nicht, dass die Qualität revolutionärer Führung nicht wichtig wäre. Sogar die günstigsten Umstände können in Kriegen und Revolutionen weggeworfen werden. Hätten statt Lenin und Trotzki Sinowjew, Kamenew und Stalin an der Spitze der bolschewistischen Partei gestanden, hätten sie die Gelegenheit zweifellos verstreichen lassen. Dann würden all die klugen HistorikerInnen, die jetzt über die Dummheit Kerenskis und Nikolaus’, weil sie dieses oder jenes getan hatten, dozieren, ihre Doktorthesen darüber verfassen, wie intelligent und weitsichtig sie gewesen waren und wie utopisch Lenin und Trotzki, weil sie sich eingebildet hätten, dass die ArbeiterInnen die Macht ergreifen hätten können.
Zufälle, einschliesslich Fehler, können sicher eine Rolle in der Geschichte spielen, und ein Regime, das am Rande eines Abgrunds steht, ist hochgradig anfällig für Fehler. Die Provisorische Regierung beging einen Fehler erster Klasse mit der Forderung, zwei Drittel der Petrograder Garnison an die Front zu schicken. Das war ein plumper Versuch, die revolutionäre Garnison in der Hauptstadt zu schwächen, aber es war aus zwei Gründen ein Geschenk des Himmels für die Bolschewiki. Erstens verursachte das eine Welle der Empörung in den Kasernen, die sogar die rückständigsten Schichten den Bolschewiki zutrieb. Sogar jene Regimenter, die an der Unterdrückung der Julidemonstrationen teilgenommen hatten, verabschiedeten Resolutionen, die die Provisorische Regierung verurteilten und nach den Sowjets riefen, die die Macht übernehmen sollten. Zweitens zeigte es, dass die Regierung sich vorbereitete, in die Offensive gegen das rote Petrograd zu gehen. Die Revolution war ermächtigt, zu ihrer Selbstverteidigung Taten zu setzen. Das war etwas, das jedeR Arbeitende und Soldat verstehen konnte. Und es brachte die schwankenden Elemente in den Reihen der Bolschewiki zum Schweigen. Sogar die reformistischen Führenden waren in eine halbe Opposition gegen die Regierung gezwungen.
Die Sowjetexekutive war gezwungen, die Leistung ihrer Unterschrift unter diese Forderung zu verweigern. Die Bolschewiki führten Agitation dagegen und forderten die Einsetzung eines revolutionären Petrograder Militärkomitees, eines offiziellen Sowjetorgans, das bald enorme Macht erhielt und praktisch die Speerspitze der Oktoberrevolution wurde. Das revolutionäre Militärkomitee ernannte Kommissäre für jedes Lager und Waffendepot ohne Widerstand. Trotzkis Befehl an die Kleinwaffenfabrik Sestoretski zur Herausgabe von 5.000 Gewehren an die Rote Garde erzeugte so etwas wie Panik in den bürgerlichen Kreisen, die ein lautes Gezeter über die Bolschewiki, die die Bürgerlichen massakrierten, begannen, aber die Waffen wurden trotzdem ausgegeben. Somit fanden die Vorbereitungen für den Aufstand direkt vor der Nase der Autoritäten, die zu machtlos waren, um sie zu verhindern, statt.
Die Anzahl der Roten Garden in Petrograd war jedoch sehr gering. Schätzungen streuen von 23.000 bis hin zu 12.000. Eine solch kleine Kraft könnte nie die volle Macht des alten Staatsapparats in die Niederlage getrieben haben. Aber das Wesentliche an der Geschichte ist die Tatsache, dass die politische Arbeit der Bolschewiki in den neun Monaten vor dem Oktober die Massen und damit auch die entscheidenden Teile der Armee gewonnen hatte. Als Führungsperson des Petrograder Revolutionären Militärkomitees war Trotzki persönlich verantwortlich für die Gewinnung der Petrograder Garnison, wie Marcel Liebman zeigt: «Am 23. Oktober erfuhren die Führer des Aufstands, dass die Garnison der Festung sich weigerte, die Autorität des Revolutionären Militärkomitees anzuerkennen. Anotonow-Owssejenko schlug vor, ein revolutionäres Bataillon hinzuschicken, um die Garnison zu entwaffnen und ihren Platz einzunehmen. Trotzki jedoch drängte, dass statt dieser riskanten Operation eine typischer bolschewistische und sozialistische Methode angewendet werden sollte, die der politischen Agitation. Er selbst ging in die Festung, berief eine Generalversammlung der Soldaten ein, wandte sich an sie, gewann sie und überzeugte sie, eine Resolution zu verabschieden, die ihre Bereitschaft zum Sturz der Provisorischen Regierung verkündete.
Während die militärischen Vorbereitungen des Aufstands viel zu wünschen übrig liessen, war die politische Vorbereitung während der letzten Tage und Stunden vor dem Beginn intensiv und beispielhaft. Die in der Hauptstadt stationierten Regimenter schlossen sich dem Aufstand an, nachdem sie die feurigen Reden bolschewistischer Delegierter gehört hatten; die grossen Versammlungshallen von Petrograd wie der Cirque Moderne waren nie leer und bolschewistische Sprecher (v.a. Trotzki) nutzten sie, um die revolutionäre Inbrunst der Arbeiter, Seeleute und Soldaten zu erhalten oder zu beleben. Der gesamte Oktober war in Petrograd wie in den Provinzen eine Zeit unaufhörlicher politischer Aktivität: die Sowjets der verschiedenen Regionen versammelten sich in Konferenzen und Kongressen; die bolschewistische Partei, die verpflichtet worden war, einen ausserordentlichen Kongress, der Ende des Monats stattfinden hätte sollen, zu verschieben, tat dasselbe. Im Oktober 1917 nahm die permanente Revolution konkrete Formen in einer permanenten Diskussion an. Und wenn die Massen im Aufstand keine direkte Beteiligung übernahmen, war das in letzter Analyse, weil es für sie keine Notwendigkeit gab. Ihr Anschluss an die bolschewistische Politik hatte andere Ausdrucksmittel finden können, geeignet für das proletarische und demokratische Wesen und die sozialistische Tradition des Unternehmens.» (121)
Es scheint paradox, dass verglichen mit all der Vorbereitungsarbeit, die dem voranging, die wirkliche Machtergreifung fast wie ein nachträglicher Einfall wirkt. In seinem monumentalen Werk «Die Geschichte der Russischen Revolution» beschreibt Trotzki im Detail die Leichtigkeit, mit der Petrograd genommen wurde. Die friedliche Natur der Revolution wurde durch die Tatsache sichergestellt, dass die Bolschewiki unter Trotzkis Führung schon die Petrograder Garnison gewonnen hatten. Im Kapitel Die Eroberung der Hauptstadt erklärt er die Weise, auf die die ArbeiterInnen die Kontrolle der Peter-und-Paul-Festung übernommen hatten:
«Alle Truppen der Festungsgarnison akzeptierten die Verhaftung des Kommandanten mit völliger Zufriedenheit, aber die Fahrradmänner verhielten sich ausweichend. Was lag hinter ihrem schmollenden Schweigen verborgen: eine versteckte Feindseligkeit oder die letzten Unsicherheiten? ‚Wir entschieden, ein spezielles Treffen für die Fahrradmänner abzuhalten,’ schreibt Blagonrawow, ,und unsere besten agitatorischen Kräfte einzuladen, v.a. Trotzki, der enorme Autorität und Einfluss über die Soldatenmenge hatte.’ Um vier Uhr nachmittags versammelte sich das ganze Bataillon im benachbarten Gebäude des Cirque Moderne. Als Opponent der Regierung ergriff Quartiergeneralmeister Poradelow, der als Sozialrevolutionär galt, das Wort. Seine Einwände waren so vorsichtig, dass sie zweideutig erschienen; umso destruktiver war der Angriff der Repräsentanten des Komitees. Diese zusätzliche Redeschlacht für die Peter-und-Paul-Festung endete wie vorhergesehen: das Bataillon akzeptierte mit Ausnahme von 30 Stimmen die Resolution Trotzkis. Ein potenziell blutiger Konflikt war vor dem Kampf und ohne Blutvergiessen beigelegt. Das war der Oktoberaufstand. So war sein Stil.» (122)
Von Anfang an bestand Lenin darauf, dass der Aufstand auf Basis der Massenbewegung stattfinden musste. Kurz vor der Oktoberrevolution schrieb er: «Um erfolgreich zu sein, darf sich der Aufstand nicht auf eine Verschwörung, nicht auf eine Partei stützen, er muss sich auf die fortgeschrittensten Klassen stützen (…) Der Aufstand muss sich auf den revolutionären Aufschwung des Volkes stützen.» (123)
Bürgerliche KritikerInnen des Bolschewismus beschreiben die Oktoberrevolution oft als einen Putsch. Das Argument ist falsch bis in den Kern. Die Revolution zog sich über neun Monate, während der die bolschewistische Partei unter Benutzung der demokratischsten Mittel die entscheidende Mehrheit der ArbeiterInnen und besitzlosen Bauernschaft gewann. Die Tatsache, dass sie in der Überwindung des Widerstands der Kräfte Kerenskis so einfach Erfolg hatten, kann nur dadurch erklärt werden. Mehr noch, es gibt keinen Weg, wie die Bolschewiki die Macht ohne die Unterstützung der überwältigenden Mehrheit der Gesellschaft erhalten hätten können, wie wir sehen werden. In jeder Phase wurde die entscheidende Rolle von der aktiven Intervention der Massen gespielt. Das ist es, was dem gesamten Prozess den Stempel aufdrückt. Die herrschende Klasse und ihre politischen und militärischen VertreterInnen konnten nur mit den Zähnen knirschen, aber sie waren machtlos und konnten nicht verhindern, dass ihnen die Macht aus den Händen glitt. Sie waren in beständiger Verschwörung gegen die Revolution verstrickt, einschliesslich des bewaffneten Aufstands General Kornilows, der auf den Sturz Kerenskis und die Errichtung einer Militärdiktatur zielte, aber alles gründete in der Massenbewegung.
Die Tatsache, dass die Massen die Bolschewiki unterstützten, wurde von jedem zu dieser Zeit akzeptiert, einschliesslich der härtesten FeindInnen der Revolution. Natürlich schrieben sie das allen Arten bösen Einflusses zu, der «Demagogie», der Unreife der ArbeiterInnen und Bauern, ihrer unterstellten Unwissenheit und all den anderen Argumenten, die im Kern gegen die Demokratie selbst gerichtet sind. Wie es dazu gekommen ist, dass die Massen erst unwissend und unreif geworden waren, als sie aufhörten, die Provisorische Regierung zu unterstützen, muss eines der grössten Mysterien sein, seit der Hl. Paul das Licht auf dem Weg nach Damaskus sah. Aber wenn wir die offensichtliche Motivation von Boshaftigkeit, übler und ohnmächtiger Wut beiseite lassen, können wir sehen, dass die folgende Passage aus einem Papier des rechten Flügels ein wertvolles Eingeständnis enthält, dass die Bolschewiki tatsächlich die Unterstützung der Massen genossen. Am 28. Oktober schrieb Russkaya Volya: «Welche Chancen haben die Bolschewiki für einen Erfolg? Es ist schwer, auf diese Frage eine Antwort zu geben, denn die Haupthilfsquelle der Bolschewiki ist … die Unwissenheit der Massen. Sie spekulieren auf diese Unwissenheit, sie benutzen sie für eine hemmungslose Demagogie…» (124)
Es ist unmöglich zu verstehen, was 1917 passierte, ohne die fundamentale Rolle der Massen zu erkennen. Dasselbe stimmt auch für die Französische Revolution von 1789-94, eine Tatsache, die HistorikerInnen oft nicht begreifen können (es gibt Ausnahmen, etwa den Anarchisten Kropotkin und in heutiger Zeit, George Rud).
Hier gelang es der Arbeiterklasse zum ersten Mal in der Geschichte, wenn wir die kurze aber glorreiche Episode der Pariser Kommune beiseite lassen, die Macht zu übernehmen und mit der sozialistischen Transformation der Gesellschaft zumindest zu beginnen. Genau deswegen sehen sich GegnerInnen des Sozialismus gezwungen, über die Oktoberrevolution zu lügen und sie zu verleumden. Sie können Lenin und den Bolschewiki nicht vergeben, die erste erfolgreiche sozialistische Revolution angeführt zu haben, bewiesen zu haben, dass das möglich ist und damit künftigen Generationen den Weg gewiesen zu haben. Solch ein Präzedenzfall ist gefährlich! Es ist daher notwendig zu «beweisen» (mit der Unterstützung der üblichen Mannschaft «objektiver» AkademikerInnen), dass das nur schlecht gelaufen ist und keiner Wiederholung bedarf.
Die Behauptung, dass die Oktoberrevolution nur ein Putsch war, wird oft gerechtfertigt mit dem Hinweis auf die relativ kleine Anzahl tatsächlich am Aufstand selbst Beteiligter. Dieses offensichtlich profunde Argument hält dem mildesten prüfenden Blick nicht Stand. Erstens vermengt es den bewaffneten Aufstand mit der Revolution, also den Teil mit dem Ganzen. In Wirklichkeit ist der Aufstand nur ein Teil der Revolution – ein sehr wichtiger Teil, zugegebenermassen. Trotzki vergleicht ihn mit dem Kamm einer Welle. Tatsache ist, der Anteil des Kampfes, der in Petrograd stattfand, war sehr klein. Man kann sagen, dass es blutlos abgegangen ist. Der Grund dafür war, dass neun Zehntel der Aufgaben bereits davor, mit der Gewinnung der entscheidenden Mehrheit der ArbeiterInnen und Soldaten, erfüllt worden waren. Es war noch nötig, bewaffnete Gewalt zu nutzen, um den Widerstand der alten Ordnung zu überwinden. Keine herrschende Klasse hat ihre Macht jemals kampflos aufgegeben. Aber der Widerstand war minimal. Die Regierung brach wie ein Kartenhaus zusammen, weil niemand bereit war, sie zu verteidigen.
In Moskau gingen die konterrevolutionären Junker, hauptsächlich wegen der Fehler der lokalen Bolschewiki, die nicht mit genügend Energie handelten, in die Offensive und vollführten ein Massaker. Trotzdem wurden sie unglaublicherweise gegen ihr Wort, dass sie an keinem weiteren gewaltsamen Akt gegen die Sowjetmacht teilnehmen würden, wieder freigelassen. Solcherlei war in den frühen Tagen der Revolution recht typisch, charakterisiert von einer gewissen Naivität eines Teils der Massen, die erst verstehen mussten, welcher schrecklichen Gewalt die VerteidigerInnen der alten Ordnung fähig waren. Weit davon entfernt, ein blutrünstiges Terrorregime zu sein, war die Revolution eine ausserordentlich sanfte Angelegenheit – bis die Konterrevolution ihr wahres Gesicht zeigte. Der Weisse General P.Krassnow war einer der Ersten, die einen Aufstand gegen die Bolschewiki an der Spitze der Kosaken führte. Er wurde von den Roten Garden niedergeschlagen und von seinen eigenen Kosaken ausgeliefert, aber auf Bewährung entlassen. Darüber schreibt Victor Serge ganz richtig:
«Die Revolution machte den Fehler, dem Führer des Kosakenangriffs Grossmut zu zeigen. Er hätte auf der Stelle erschossen werden sollen. Nach ein paar Tagen erlangte er seine Freiheit wieder, nachdem er sein Wort gegeben hatte, die Waffen nie wieder gegen die Revolution zu erheben. Aber welchen Wert können Ehrenversprechen gegenüber Feinden von Vaterland und Eigentum haben? Er ging in die Donregion, um sie unter Feuer und Schwert zu setzen.» (125)
Bedeutet die relativ kleine Anzahl von tatsächlich in Kampf verwickelten Leuten, dass der Oktoberumsturz ein Putsch war? Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen dem Klassenkampf und dem Kampf zwischen Nationen. Auch in Letzterem befindet sich nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung unter Waffen. Und nur eine kleine Minderheit der Armee ist an der Front. Sogar dort befindet sich im Verlauf einer größeren Schlacht normalerweise nur eine Minderheit der Soldaten zu einer gegebenen Zeit im Kampf. Erfahrene Soldaten wissen, dass eine Menge Zeit damit vertan wird, müssig zu warten, auch in einer Schlacht. Sehr oft werden die Reserven nie zur Tat gerufen. Aber ohne die Reserven würde kein verantwortlicher General einen Vorstoss befehlen. Mehr noch, es ist nicht möglich, ohne die rückhaltlose Unterstützung der Bevölkerung daheim Krieg erfolgreich zu führen, auch wenn diese nicht am Kampf direkt teilnimmt. Diese Lektion prägte sich dem Pentagon in den letzten Phasen des Vietnamkriegs tief ein.
Das Erwachen der Massen, ihre aktive Teilnahme, ihre Initiative und kreative Macht liegt im Herzen jeder grossen Revolution. Das wurde in den neun Monaten, die die Februar- von der Oktoberrevolution trennten, auf wahrhaft spektakuläre Weise sichtbar. Wieder und wieder, im Februar, im Mai, im Juni, im Juli, im September bewegten sich die Massen, um die Gesellschaft zu verändern. Wenn sie damit nicht sofort Erfolg hatten, lag das nicht am mangelnden Versuch, sondern daran, dass sie jedes Mal von ihren FührerInnen, die sich störrisch weigerten, die Macht zu übernehmen, wenn sie ihnen am Silbertablett präsentiert wurde, zurückgeworfen wurden. Wie oft haben wir seither dasselbe erlebt? In Deutschland 1918, 1920 und 1923; in Britannien 1926 und 1945; in Spanien 1936; in Frankreich 1936 und wieder 1968; in Portugal 1974-75; in Italien 1919-20, 1943 und 1969 und während der 1870er; in Pakistan 1968-69; in Chile 1970-73 und in vielen anderen Ländern auf der ganzen Welt. In jedem Fall, nachdem die Führung die Möglichkeit der Veränderung der Gesellschaft selbst durch friedliche Mittel weggeworfen und den Sieg der Reaktion vorbereitet hatte, lief dasselbe zynische Rad mit denselben alten Argumenten: dass die objektive Situation nicht reif gewesen wäre; dass das Kräfteverhältnis ungünstig gewesen wäre; dass die Massen nicht bereit gewesen wären; dass der Staat zu stark gewesen wäre und so weiter und so fort. Die Schuld für die Niederlage wird immer den Soldaten zugewiesen, die gekämpft haben, aber nie den Generälen, die sich weigerten zu führen. Und wenn anstelle von Lenin und Trotzki die Führung der bolschewistischen Partei in den Händen von Stalin, Sinowjew und Kamenew gelegen hätte, würden dieselben Damen und Herren nun mit einer eindrucksvollen Batterie von Tatsachen untermauert schreiben, wie die Russische Revolution von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen wäre, wegen der Hoffnungslosigkeit der objektiven Situation, des ungünstigen Klassenkräfteverhältnisses und der «Unreife» der Massen.
Tatsächlich zeigten die Massen die grösste Reife und Initiative, wie sie es in jeder Revolution tun. Das Erwachen der Massen, ihr hohes Niveau des Bewusstseins, ihr neugefundener Stolz auf sich selbst als denkende menschliche Wesen manifestiert sich auf tausend Arten. Das zeigt sich am besten nicht in trockenen Statistiken, sondern in Anekdoten, die die Statistiken zum Leben erwecken, wie jene, die der scharfsinnigste Beobachter der Russischen Revolution, John Reed, zitiert:
«Um sie herum war das ganze Russland in Bewegung, schwanger mit einer neuen sozialen Ordnung. Die Dienstboten, die man gewohnt war, wie Tiere zu behandeln und mit einem Bettelpfennig zu entlohnen, begannen aufsässig zu werden. Ein Paar Schuhe kostete über hundert Rubel, und da die Löhne in der Regel nicht mehr als fünfunddreissig Rubel im Monat betrugen, weigerten sich die Dienstboten, um Lebensmittel anzustehen und dabei ihr Schuhzeug zu verderben. Aber – was weitaus schlimmer war – im neuen Russland durfte jeder Mann und jede Frau wählen; es gab Arbeiterzeitungen, die ganz neue und erstaunliche Dinge schrieben; es gab Sowjets und es gab Gewerkschaften. Die Droschkenkutscher hatten einen Verband; sie waren auch im Petrograder Sowjet vertreten. Und die Kellner und Hotelbediensteten waren organisiert und weigerten sich, Trinkgelder zu nehmen. An den Wänden der Restaurants klebten sie Zettel an, auf denen zu lesen stand: ‚Keine Trinkgelder!’ oder auch: ‚Die Tatsache, dass ein Mann seinen Lebensunterhalt verdient, indem der bei Tisch aufwartet, gibt niemandem das Recht, ihn durch Trinkgeldgeben zu beleidigen.’» (126)
Das Argument, dass die Bolschewiki ohne die Massen an die Macht kommen konnten (ein Putsch), ist gewöhnlich mit der Idee verbunden, dass die Macht nicht von der Arbeiterklasse, sondern von einer Partei ergriffen wurde. Auch dieses Argument ist völlig falsch. Ohne die Organisation – die Gewerkschaften und die Partei – ist die Arbeiterklasse nur Rohmaterial für Ausbeutung. Das hatte schon lang davor Marx gezeigt. Ja, das Proletariat besitzt enorme Macht. Nicht ein Rad bewegt sich, nicht eine Glühbirne leuchtet ohne seine Erlaubnis. Aber ohne Organisation bleibt diese Macht nur ein Potenzial. Genauso ist Dampf eine kolossale Kraft, aber ohne einen Kolbenzylinder löst er sich harmlos in der Luft auf. Damit diese Kraft der Arbeiterklasse aufhört, blosses Potenzial zu sein und Wirklichkeit wird, muss es organisiert und auf ein Ziel hin konzentriert werden. Das kann nur über eine politische Partei mit einer mutigen und weitsichtigen Führung und einem richtigen Programm geschehen. Die bolschewistische Partei unter der Führung von Lenin und Trotzki war eine solche Partei. Sich auf die grossartige Bewegung der Massen stützend, gaben sie ihr Form, Sinn und eine Stimme. Das ist die Kardinalssünde aus der Sicht der herrschenden Klasse und ihres Echos in der Arbeiterbewegung. Das liegt hinter ihrem Hass und Abscheu des Bolschewismus, ihrer giftigen und gehässigen Haltung ihm gegenüber, die ihre Einstellung sogar noch drei Generationen später bestimmt.
Weit davon entfernt, hinter die Massen zurückzufallen, waren die Bolschewiki eine Partei, die den Bestrebungen der Arbeiterklasse hinsichtlich einer Gesellschaftsveränderung einen bewussten Ausdruck verlieh. Tatsächlich blieb die Partei während des Jahres 1917 oft hinter der revolutionären Stimmung der Massen zurück, ein Faktum, das Lenin rasch begriff und das aus unzähligen Quellen deutlich hervorgeht, wie der folgende Auszug aus den Memoiren eines prominenten bolschewistischen Aktivisten, dem Seemann Raskolnikow, zeigt, der eine Massenversammlung von Soldaten einberuft, an die er sich kurz vor dem Aufstand wendet: «Ich war von der militanten Stimmung der revolutionären Ungeduld, die ich auf dieser Versammlung vorgefunden hatte, erstaunt. Ich fühlte, dass jeder dieser tausenden Soldaten und Arbeiter bereit dazu war, jeden Moment mit der Waffe in der Hand auf die Straßen zu gehen. Ihre überschwänglichen Gefühle, ihr schäumender Hass auf die Provisorische Regierung war überhaupt nicht passiv ausgerichtet. Nur in Kronstadt am Vorabend der Juliereignisse hatte ich ein ähnliches Ferment revolutionärer Leidenschaft, das nach Aktion drängte, erlebt. Das bestärkte meine tiefe Überzeugung noch, dass die Sache der proletarischen Revolution auf dem richtigen Weg war.» (127)
Es muss dazu gesagt werden, dass die Bolschewiki zu jeder Zeit die Perspektive einer internationalen Revolution vor sich sahen. Sie glaubten niemals, dass sie die Macht in Russland allein erhalten könnten. Dieser brennende Geist des Internationalismus zieht sich wie ein roter Faden durch alle Schriften und Reden von Lenin. Am 24. Oktober schrieb Lenin an die Parteiführung einen ungeduldigen Aufruf zur Handlung: «Unter Aufbietung aller Kräfte bemühe ich mich, die Genossen zu überzeugen, dass jetzt alles an einem Haar hängt, dass auf der Tagesordnung Fragen stehen, die nicht durch Konferenzen, nicht durch Kongresse (selbst nicht durch Sowjetkongresse) entschieden werden, sondern ausschliesslich durch die Völker, durch die Masse, durch den Kampf der bewaffneten Massen.» (128)
Die tatsächliche Machtergreifung ereignete sich so sanft, dass viele gar nicht bemerkten, dass sie stattgefunden hatte. Aus diesem Grund präsentieren die GegnerInnen der Oktoberrevolution sie als einen Putsch. Es gibt zwei Gründe, warum sie so glatt vonstatten ging – der eine technisch, der andere politisch. Die technischen Vorbereitungen für den endgültigen Angriff waren vom Revolutionären Militärkomitee unter Trotzkis Führung sorgfältig durchgeführt worden. Die Grundregel lautete, wie immer im Krieg, eine überwältigende Kräfteübermacht auf den entscheidenden Moment und den entscheidenden Punkt zu konzentrieren und dann hart zuzuschlagen. Aber das erschöpft nicht die Frage der Taktik im Aufstand. Das Element der Überraschung und des Manövers, den Feind über die wahren Absichten der RevolutionärInnen zu täuschen, spielte hier eine Rolle, wie in jeder anderen Militäroperation auch. Jeder Schritt wurde als defensiver Zug präsentiert, doch in Wirklichkeit war der Charakter des Aufstands notwendigerweise offensiv, wobei der Umschwung von einer Position zur anderen schnell vollzogen wurde, um den Feind unerwartet und unvorbereitet zu packen.
Aber der wirkliche Grund, warum der Aufstand so schnell und fast schmerzlos durchgeführt werden konnte, war weder militärisch noch technisch, sondern politisch. Neun Zehntel der Arbeit des Aufstands waren schon im Vorhinein vollbracht worden – durch die Gewinnung einer deutlichen Mehrheit in den Sowjets der Arbeitenden und Soldaten. Im Moment der Wahrheit hatte die Provisorische Regierung, wie das zaristische Regime im Februar, niemanden, der sie verteidigte. Die wahre Position im Moment des Aufstands zeigt sich in den Stellungnahmen eines der Hauptakteure – Kerenski. In einem Auszug voll unbewusster Ironie schreibt er:
«Die Nacht vom 24. auf den 25. Oktober war eine Zeit dichter Erwartung. Wir warteten auf die Truppen, die von der Front kommen sollten. Sie waren von mir rechtzeitig gerufen worden und sollten am Morgen des 25. Oktober in Petrograd sein. Doch statt der Truppen erhielten wir Telegramme und Telefonnachrichten, dass die Eisenbahnen sabotiert worden wären.
Am Morgen (des 25. Oktober) waren die Truppen noch nicht angekommen. Das zentrale Fernsprechamt, das Postbüro und die meisten der Regierungsstellen waren besetzt von Abteilungen der Roten Garden. Das Gebäude, das den Rat der Republik beherbergte, der erst am Tag davor Schauplatz einer endlosen und dummen Diskussion gewesen war, war ebenso von den Roten Wachen besetzt.» (129)
Derselbe Kerenski, der sich vor dem britischen Botschafter gebrüstet hatte, dass er nur auf die Bolschewiki warten würde, um zuzuschlagen, sah sich selbst nun ohne Truppen und war gezwungen, mit einem großzügigerweise von der amerikanischen Botschaft geliehenen Wagen aus Petrograd zu fliehen.
Hier ist nicht der Platz, um die Geschichte des Aufstands zu wiederholen, die aus den Schriften von John Reed und Leo Trotzki ausreichend gut bekannt ist. Was an der Oktoberrevolution erstaunlich ist, ist das Ausmass, in dem sie sich im vollen Blickfeld der öffentlichen Aufmerksamkeit abspielte. Wenn das Volk sich dessen nicht im Klaren darüber war, dass die Bolschewiki die Absicht hatten, die Macht zu übernehmen, hätten die öffentlichen Erklärungen von Kamenew und Sinowjew ihnen diese Tatsache eröffnet. Die in Petrograd herausgegebene französische Zeitung Entente schrieb am 15. November, eine Woche nach der Revolution:
«Die Regierung Kerenski diskutiert und zögert. Die Regierung Lenin-Trotzki greift an und handelt.
Letztere nennt man die Regierung der Verschwörer, aber das ist falsch. Regierung der Usurpatoren, ja, wie alle revolutionären Regierungen, die über ihre Gegner siegen. Verschwörer – nein!
Nein! Sie haben keine Verschwörung gesponnen. Im Gegenteil, offen, kühn, unzweideutig, ohne ihre Absichten zu verbergen, vermehrten sie ihre Agitation, verstärkten sie ihre Propaganda in den Fabriken, in den Kasernen, an der Front, auf dem Lande, überall. Sie legten sogar den Tag für ihren bewaffneten Aufstand vorher fest, das Datum der Machtergreifung…
Sie – Verschwörer? Nein, niemals…» (130)
Gegen Abend des 24. Oktober begannen Gruppen der Roten Garden die Druckereien der bürgerlichen Presse zu besetzen, wo sie eine grosse Anzahl revolutionärer Erklärungen wie auch bolschewistische Zeitungen wie Rabochy Put und Soldat druckten. Soldaten, die den Befehl hatten, die Druckereien anzugreifen, verweigerten den Befehl. Das war das allgemeine Bild in Petrograd. Widerstand war praktisch nicht existent. Als schläfrige Abgeordnete zum Kongress aus der Tür traten – einige mit Besorgnis, einige mit Erwartung, verliessen Abteilungen von Soldaten und Seeleuten den Smolny Palast und zogen zu den zentralen Plätzen der Stadt. Um ein Uhr morgens hatten sie das Telegrafenamt besetzt. Eine halbe Stunde später war die Post eingenommen. Um fünf Uhr folgte das Fernmeldeamt. Um zehn Uhr morgens wurde ein Cordon um den Winterpalast, wo einiger Widerstand erwartet wurde, gezogen. Tatsächlich fiel er nicht mit einem Schlag, sondern mit einem Winseln.
Der Oktoberaufstand legitimierte nur noch, was selbstevidente Realität war. Jeder wusste, dass die Bolschewiki und ihre Verbündeten eine entscheidende Mehrheit auf dem Sowjetkongress erhalten würden. Darum wurde die Entscheidung, dass der Aufstand zusammenfallend mit der Eröffnung des Kongresses stattfinden sollte, gefällt. Der formale Aspekt hatte eindeutig hinter die Erfordernisse einer Militäroperation zurückzutreten. Die Bemerkung, dass die Frage eines bewaffneten Aufstands vom Ergebnis einer öffentlichen Debatte im Kongress abhängig gemacht werden sollte, ist so lächerlich, als sollten die Pläne für die Kriegsführung öffentlich während des Krieges im Parlament diskutiert werden. Jeder, der so etwas forderte, wäre zweifellos als Verräter gebrandmarkt und vermutlich in eine Anstalt für geistig abnorme RechtsbrecherInnen eingewiesen worden. Doch solche Betrachtungen hindern die KritikerInnen der Oktoberrevolution nicht daran, sich darüber zu beklagen, dass Lenin und Trotzki mit dem Angriff nicht auf die formelle Bestätigung des Sowjetkongresses warteten. Solche Argumente sind ohne einen Funken Stichhaltigkeit. Die Meinung der überwältigenden Mehrheit der ArbeiterInnen und Soldaten war bereits wohlbekannt: dass die Sowjets die Macht übernehmen sollten. Diese Frage war bereits zuvor entschieden worden, und der Kongress gab dazu nur noch seinen Stempel. Nachdem diese zentrale Frage gelöst war, musste Zeitpunkt und Art der Durchführung – eine rein technische und militärische Entscheidung – von den geeigneten Organen bestimmt werden, in diesem Fall dem Revolutionären Militärkomitee, entsprechend den Regeln, nicht jener der formalen Demokratie, sondern jenen des Krieges.
Um 2:35 Uhr eröffnete Trotzki eine Notfallssitzung des Petrograder Sowjets. Er ging auf die Tribüne und rief die Worte, auf die jeder gewartet hatte: «Im Namen des Revolutionären Militärkomitees erkläre ich, dass die Provisorische Regierung nicht mehr existiert! Lang lebe das Militärische Revolutionskomitee!» Eine nach der anderen führte er die Eroberungen des Aufstand auf, unterbrochen nur von der Erklärung der Situation beim Winterpalast:
«Der Winterpalast ist noch nicht genommen, aber sein Schicksal wird jeden Moment entschieden sein… In der Geschichte der revolutionären Bewegung kenne ich kein anderes Beispiel, in dem so riesige Massen beteiligt waren und das sich so blutlos entwickelt hat. Die Macht der von Kerenski angeführten Provisorischen Regierung war tot und wartete auf den Besenstrich der Geschichte, der sie hinwegfegen sollte… Die Bevölkerung schlief friedlich und wusste nicht, dass zu dieser Zeit eine Macht durch die andere ersetzt wurde.» (131)
Zu diesem Zeitpunkt trat Lenin, noch immer als Arbeiter verkleidet, die Halle. Mitten in seiner Rede hielt Trotzki inne und wandte sich an den Mann, mit dem er nun vollkommen als Kampfgenosse vereint war. Alle Differenzen der Vergangenheit waren in der Hitze des Kampfes vergessen. «Lang lebe Genosse Lenin, der wieder bei uns ist,» waren Trotzkis Worte, als er die Rednerbühne Lenin überliess, der sich nun erstmals an die Delegierten wandte. In seiner historischen Rede an den Sowjetkongress am 25. Oktober 1917 sagte er:
«Genossen! Die Arbeiter- und Bauernrevolution, von deren Notwendigkeit die Bolschewiki immer gesprochen haben, ist vollbracht.
Welche Bedeutung hat diese Arbeiter- und Bauernrevolution? Vor allem besteht die Bedeutung dieser Umwälzung darin, dass wir eine Sowjetregierung, unser eigenes Machtorgan haben werden, ohne jegliche Teilnahme der Bourgeoisie. Die unterdrückten Massen werden selbst die Staatsmacht schaffen. Der alte Staatsapparat wird von Grund auf zerschlagen und ein neuer Verwaltungsapparat in Gestalt der Sowjetorganisationen geschaffen werden.
Von nun an tritt Russland in eine neue Epoche seiner Geschichte ein, und diese, die dritte russische Revolution muss in ihrem Endergebnis zum Sieg des Sozialismus führen.
Eine unserer nächsten Aufgaben besteht darin, sofort den Krieg zu beenden. Um aber diesen Krieg zu beenden, der mit der gegenwärtigen kapitalistischen Ordnung eng verknüpft ist, muss man – das ist allen klar – das Kapital selbst niederringen.
Dabei wird uns die internationale Bewegung der Arbeiter helfen, die sich bereits in Italien, England und Deutschland zu entfalten beginnt.
Der gerechte, sofortige Frieden, den wir der internationalen Demokratie anbieten, wird überall unter den Massen des internationalen Proletariats leidenschaftlichen Widerhall finden. Um dieses Vertrauen des Proletariats zu festigen, müssen sofort alle Geheimverträge veröffentlicht werden.
Innerhalb Russlands hat ein gewaltiger Teil der Bauernschaft erklärt: Genug des Spiels mit den Kapitalisten, wir gehen mit den Arbeitern. Wir werden das Vertrauen der Bauern durch ein einziges Dekret erwirken, das das Eigentum der Gutsbesitzer aufhebt. Die Bauern werden verstehen, dass die Rettung für die Bauernschaft nur im Bündnis mit den Arbeitern liegt. Wir werden eine wirkliche Arbeiterkontrolle über die Produktion einführen.
Wir haben jetzt gelernt, einmütig zusammenzuarbeiten. Davon zeugt die soeben vollbrachte Revolution. Wir haben jene Kraft der Massenorganisation, die alles besiegen und das Proletariat zur Weltrevolution führen wird.
In Russland müssen wir jetzt den Aufbau des proletarischen sozialistischen Staates in Angriff nehmen. Es lebe die sozialistische Weltrevolution! (Stürmischer Beifall)» (132)
Im Grunde hatte der Aufstand triumphiert. Das einzige Ziel, das noch nicht erreicht worden war, war die Übernahme des Winterpalasts, der in den Händen von regierungstreuen Kräften verblieben war. Lenin, der gehofft hatte, dass der Aufstand vor der Eröffnung des Sowjetkongresses vorüber sein würde, zeigte seine Ungeduld wegen der Verzögerung, die der Unerfahrenheit der Aufständischen zuzuschreiben war. Die politischen Vorbereitungen für den Aufstand waren mit weit größerer Professionalität durchgeführt worden als die technischen, die von Perfektion weit entfernt waren. Es gab viele organisatorische Fehler. Truppen kamen zu spät, weil einer Lokomotive der Kessel gebrochen war, die Hülsen für die Sturmkanonen erwiesen sich als die falsche Größe, man konnte keine rote Laterne für das Startsignal des Angriffs auftreiben und so weiter.
Aber schlussendlich war nichts davon entscheidend. Solche Anekdoten gehören zur Kategorie historischer Zufälle. Was entscheidend war, war die Gewinnung der Massen, die die Provisorische Regierung im Moment der Wahrheit sich selbst ohne Verteidigung überließen. Obwohl ursprünglich 3.000 Verteidigungskräfte im Winterpalast waren, schmolzen sie im Laufe der Nacht dahin. Die reale Situation wurde von den befehlshabenden Offizieren drinnen verstanden. Ein Kriegsrat wurde einberufen, auf dem Admiral Werderewski die relevanteste Beobachtung machte: «Ich weiß nicht, warum diese Sitzung einberufen wurde,» sagte er, «wir haben keine nennenswerte militärische Kraft und sind folglich nicht imstande, eine wie auch immer geartete Aktion zu setzen.»
Die Übernahme des Winterpalasts war eine blutlose Angelegenheit, eher einer Polizeioperation gleichend. Als vom Kreuzer Aurora Warnschüsse abgegeben wurden, schmolz die Garnison in der Nacht dahin. Der rechts-sozialrevolutionäre Landwirtschaftsminister Semjon Maslow rief die Duma im Zustand der Verzweiflung zusammen: «Die Demokratie entsandte uns in die Provisorische Regierung; wir wollten die Vereinbarungen nicht, aber wir gingen. Und jetzt, wo die Tragödie hereingebrochen ist, wo wir erschossen werden sollen, haben wir von niemandem Unterstützung.» (133). Als der Angriff endlich losgebrochen war, gab es keinen Widerstand. Um etwa 2:00 Uhr morgens, während die müden und demoralisierten Mitglieder der Provisorischen Regierung am Tisch warteten, brach die Tür auf und mit den Worten eines dort Anwesenden: «Ein kleiner Mann flog in den Raum, wie ein von einer Welle geworfener Ball, unter dem Druck des Mobs, der hereinströmte und sich wie Wasser, das alle Ecken des Raumes ausfüllte, ergoss.» Der kleine Mann war Antonow-Owssejenko des Revolutionären Militärkomitees. «Die Provisorische Regierung ist hier – was wollen Sie?» fragte der Minister Konovalov. «Sie sind alle verhaftet,» lautete die gebieterische Antwort.
Der Beginn des Sowjetkongresses war für 14:00 Uhr angesetzt worden, wurde aber verschoben und öffnete schliesslich seine Pforten um 22:40, während die Belagerung des Winterpalasts noch in vollem Gange war. Die Debatten wurden gelegentlich vom Klang der Schiessereien untermalt. Im Kongress spielte sich eine dramatische Szene ab. «Es war eine bedeutsame Sitzung,» schrieb John Reed. «Im Namen des Revolutionären Militärkomitees hatte Trotzki erklärt, dass die Provisorische Regierung nicht länger existierte.
‚Das Charakteristikum der bürgerlichen Regierungen,’ sagte er, ‚ist, das Volk zu täuschen. Wir, die Sowjets der Arbeiter, Soldaten und Bauerndeputierten werden ein einzigartiges Experiment der Geschichte versuchen; wir werden eine Macht begründen, die kein anderes Ziel haben wird als die Bedürfnisse der Soldaten, Arbeitern und Bauern zu befriedigen.’»
Die Stimmstärke auf dem Kongress verlieh den Bolschewiki und ihren links-sozialrevolutionären Verbündeten eine klare Mehrheit. Von insgesamt 670 Abgeordneten gab es 300 Bolschewiki, 193 SozialrevolutionärInnen – von denen mehr als die Hälfte links waren – und 82 Menschewiki – von denen 14 InternationalistInnen waren. Wie wir gesehen haben, hielten die Bolschewiki in den Schlüsselregionen der Industrie im Norden und Westen eine vernichtende Dominanz. Und ihre Unterstützung wuchs noch. Der Kongress eröffnete mit der Wahl des Sowjetpräsidiums. Die Bolschewiki legten ein Gemeinschaftsbündnis mit den linken SozialrevolutionärInnen und menschewistischen InternationalistInnen vor. Das Ergebnis war: 14 Bolschewiki, sieben SozialrevolutionärInnen und vier Menschewiki. Letztere weigerten sich jedoch, die ihnen zugedachten Sitze einzunehmen. Die überwältigende Mehrheit des Kongresses stimmte für die Bildung einer Sowjetregierung.
Die Empörung der Menschewiki und SozialrevolutionärInnen kannte keine Grenzen. Als Trotzki verkündete, dass der Aufstand triumphiert hatte, dass regierungstreue Truppen gegen Petrograd marschierten und dass ihnen eine Abordnung entgegengesandt werden müsste, um ihnen die Wahrheit zu sagen, gab es Aufschreie wie «Ihr greift dem Willen des Gesamtrussischen Sowjetkongresses vor!» Doch die Zeit formeller Nettigkeiten war lang vorbei. Trotzki antwortete kühl: «Es ist der Aufstand der Petrograder Arbeiter und Soldaten, der dem Sowjetkongress vorgegriffen hat.» (134a)
Die Menschewiki und SozialrevolutionärInnen waren nicht allein in ihrer Opposition zum Aufstand. Sogar zu diesem späten Zeitpunkt waren die bolschewistischen VersöhnlerInnen gegen die Machtergreifung. John Reed berichtet von einer bedeutsamen Begegnung mit Rjazanow, dem Vize-Vorsitzenden der Gewerkschaften, «der finster blickend an seinem grauen Bart kaute. ‚Verrückt! Total verrückt!’ schrie er. ‚Die europäischen Arbeiter denken gar nicht daran zu marschieren. Das ganze Russland…’ Er hob den Arm zu einer zerstreuten Geste und rannte davon.» (134b) Martow, jetzt ein sehr kranker Mann, behielt seine Schwankungen bis zum Ende. Lenins Hoffnung, dass er letztlich den Weg ins revolutionäre Lager finden würde, erwies sich als vergeblich.
Martow bestand auf die Gründung einer Koalitionsregierung mit den Führenden des rechten Flügels der SozialistInnen «um den Bürgerkrieg zu verhindern». Dieser Vorschlag hätte praktisch den Aufstand zunichte gemacht und die Uhr in die Vergangenheit zurückgedreht. Solch ein Ergebnis war undenkbar. Lenin und Trotzki waren beide dagegen, doch die VersöhnlerInnen dafür. Im Namen des bolschewistischen Kontingents verkündete Lunatscharski, dass er nichts gegen den Vorschlag hätte, der tatsächlich angenommen wurde. Doch die Menschewiki enthüllten sofort die völlige Hohlheit des Vorschlags, indem sie den Sturz der Provisorischen Regierung denunzierten und den Kongress verliessen. Als sie hinausgingen, donnerte Trotzkis Stimme inmitten des Gejohles und der Pfiffe der Delegierten hinter ihnen: «Mögen sie gehen, die Sozialkompromissler, diese Menschewiki, Sozialrevolutionäre, diese Herrschaften vom ‚Bund’. Was sind sie anderes wert als auf den Kehrichthaufen der Geschichte gefegt zu werden!» (134c)
Der Sieg des Aufstands war nicht die letzte Episode der bolschewistischen Revolution. Die Kräfte der Reaktion versammelten sich und versuchten einen Gegenangriff, der niedergeschlagen wurde. Dann wurde ein blutiger Bürgerkrieg gegen die Bolschewiki begonnen, der vier Jahre dauerte. In diesem Konflikt war die Sowjetmacht mit der Kraft des Weltimperialismus in Form von 21 ausländischen Interventionsarmeen konfrontiert. Zu einer bestimmten Zeit war das Territorium, das in der Hand der Bolschewiki verblieb, das Gebiet um Moskau und Petrograd. Doch einer nach dem anderen wurden die GegnerInnen der Revolution zurückgedrängt. Aus den zerrütteten Überbleibseln der alten zaristischen Armee bildete Trotzki eine neue proletarische Kraft, die Rote Armee, die die Welt mit ihren Siegen überraschte. Das Heldentum, die Organisation und Disziplin der Roten Armee waren der Schlüssel zum Sieg, aber sie hätte nie Erfolg gehabt ohne den internationalistischen Aufruf der bolschewistischen Revolution.
Über das Medium der Kommunistischen Internationale gaben Lenin und Trotzki einen Aufruf an die ArbeiterInnen der Welt ab, der mit Enthusiasmus aufgenommen wurde. Die britischen HafenarbeiterInnen weigerten sich, Schiffe, die ins konterrevolutionäre Polen fahren sollten, mit Waffen zu beladen. Es gab Meutereien in einer der Armeen, die gegen die Bolschewiki entsendet worden waren. Entgegen aller Erwartungen überlebte die Sowjetmacht, um der Welt zum ersten Mal zu zeigen, dass es möglich ist, die Gesellschaft ohne private KapitalistInnen, Bankiers und Landbesitzende zu gestalten. Es ist wahr, dass unter den Bedingungen schrecklicher wirtschaftlicher und kultureller Rückständigkeit die Russische Revolution einen Prozess der bürokratischen Degeneration erlitt. Aber davor hatte es einen spektakulären Beweis des gewaltigen Potenzials einer verstaatlichten Planwirtschaft erbracht.
«Den historischen Aufstieg der Menschheit kann man, im ganzen genommen, resümieren als eine Kette von Siegen des Bewusstseins über die blinden Kräfte – in Natur, Gesellschaft und im Menschen selbst. Der kritische und schöpferische Gedanke konnte sich bis auf den heutigen Tag der grössten Erfolge rühmen im Kampfe mit der Natur. Die physikalisch-chemischen Wissenschaften sind bereits an dem Punkt angelangt, wo der Mensch sich offensichtlich anschickt, Herr der Materie zu werden. Die gesellschaftlichen Beziehungen jedoch gestalten sich noch immer in der Art von Koralleninseln. Der Parlamentarismus hat ein Licht nur auf die Oberfläche der Gesellschaft geworfen, und auch da nur ein recht künstliches Licht. Im Vergleich zur Monarchie und anderen Erbschaften von Menschenfresserei und wildem Höhlenzustand stellt die Demokratie gewiss eine grosse Errungenschaft dar. Doch lässt sie das blinde Spiel der Kräfte in den sozialen Wechselbeziehungen der Menschen unberührt. Gerade gegen dieses tiefste Gebiet des Unbewussten erhob zum ersten Mal die Hand die Oktoberumwälzung. Das Sowjetsystem will Ziel und Plan hineintragen in das Fundament der Gesellschaft, wo bis jetzt nur angehäufte Folgen herrschten.» (135)
Wir werden das Schlusswort einer grossen Revolutionärin überlassen, die zu oft falsch als unversöhnliche Gegnerin von Lenin und dem Bolschewismus dargestellt worden ist. Aus ihrer Gefängniszelle in Deutschland begrüsste Rosa Luxemburg die Oktoberrevolution mit folgenden Worten:
«Nur eine Partei, die zu führen, d.h. vorwärts zu treiben versteht, erwirbt sich im Sturm die Anhängerschaft. Die Entschlossenheit, mit der Lenin und Genossen im entscheidenden Moment die einzige vorwärtstreibende Losung ausgegeben haben: die ganze Macht in die Hände des Proletariats und der Bauern, hat sie fast über Nacht aus einer verfolgten, verleumdeten, illegalen Minderheit, deren Führer sich wie Marat in den Kellern verstecken mussten, zur absoluten Herrin der Situation gemacht.
Die Bolschewiki haben auch sofort als Zweck dieser Machtergreifung das ganze und weitgehendste revolutionäre Programm aufgestellt: nicht etwa Sicherung der bürgerlichen Demokratie, sondern Diktatur des Proletariats zum Zwecke der Verwirklichung des Sozialismus. Sie haben sich damit das unvergängliche geschichtliche Verdienst erworben, zum erstenmal die Endziele des Sozialismus als unmittelbares Programm der praktischen Politik zu proklamieren.
Was eine Partei in geschichtlicher Situation an Mut, Tatkraft, revolutionärem Weitblick und Konsequenz aufzubringen vermag, das haben Lenin, Trotzki und Genossen vollauf geleistet. Die ganze revolutionäre Ehre und Aktionsfähigkeit, die der Sozialdemokratie im Westen gebrach, war in den Bolschewiki vertreten. Ihr Oktober-Aufstand war nicht nur eine tatsächliche Rettung für die russische Revolution, sondern auch eine Ehrenrettung des internationalen Sozialismus.» (136a)
Rosa Luxemburgs endgültiges Urteil über die bolschewistische Partei kann als letztes Wort der Geschichte der grössten revolutionären Partei der Geschichte stehen:
«Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufälligen zu unterscheiden. In dieser letzten Periode, in der wir vor entscheidenden Endkämpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem des Sozialismus geradezu die brennende Zeitfrage: nicht diese oder jene Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt. In dieser Beziehung waren Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab’s gewagt!
Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben. In Russland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Russland gelöst werden. Und in diesem Sinn gehört die Zukunft überall dem ‚Bolschewismus’.» (136b)
Fussnoten:
(A) Die Opritschniki waren die private Leibwache Ivan des Schrecklichen, des blutigen Herrschers des 16. Jahrhunderts. Sie waren bekannt für ihre blutrünstigen Aktivitäten.
(B) Die «Istoriya», die den Februaraufstand ohne die geringste Grundlage als reine bolschewistische Angelegenheit beschreibt, kann nicht erklären, wie die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre zu Beginn in den Sowjets die Mehrheit stellen konnten!
( C ) Einige Autoren geben eine geringere Schätzung ab, wahrscheinlich unter Berufung auf Schljapnikow. Doch Schljapnikows Schätzung ist fragwürdig, da er eine nachtragende Haltung gegenüber den Mezhrayontsi einnahm, vermutlich wegen ihrer Widerwilligkeit, sich den Bolschewiki vor der Februarrevolution anzuschliessen. Die Zahl von 4.000, die von Trotzki in der Geschichte genannt wird, wird sowohl von E.H.Carr in The Bolshevik Revolution, Band 1, S. 102 als auch in einer Notiz zu Lenins Gesammelten Werken, Band 24, S.601 bestätigt.
( D ) Louis Cavaignac war der französische General, der als Kriegsminister der Provisorischen Regierung, die von der Französischen Revolution des Februars 1848 errichtet wurde, die Unterdrückung des Pariser ArbeiterInnenaufstands im Juni des selben Jahres unterdrückte.
( E ) Mai im neuen Kalender. Schapiro bezieht sich auf die Aprilkonferenz
(F) Liebman gibt diese Zahlen. Schapiro, der verschiedene Quellen zitiert, schätzt auf 200.000
(4) Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, S.80f
(5) Ebd., S.127
(6) Marcel Liebman, Leninismus under Lenin, S. 119f
(7) Zitiert nach Liebman, A.s.o., S. 121f
(10) Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, S. 244
(11) Zitiert nach Liebman, A.s.o., S. 117
(12) Trotzki, The Russian Revolution, in: The Essential Trotzki, S. 27f
(13) Trotzki, Writings, 1935-36, S. 167f
(14) Zitiert nach Liebman, A.s.o., S. 127
(15) Zitiert nach «Istoriya KPSS», Band 2, S. 674 und 688
(16) M. Liebman, A.s.o., S. 122
(17) Trotzki, Stalin, S.181 (engl. Fassung)
(18) Liebman, A.s.o., S. 123
(19) E.H.Carr, The Bolshevik Revolution, Band 1, S. 75
(20) Stalin, Works, Band 3, S. 8
(21) Zitiert nach Trotzki, The Stalin School of Falsification, S.239ff, 255f, 258, 274f, die das offizielle Transkript der Konferenz wiedergibt (Hervorhebung von A.Woods)
(22) Lenin-Werke, Telegramm an die nach Russland reisenden Bolschewiki», Band 23., S. 306; Lenin-Werke, Briefe aus der Ferne, 1. Brief, Band 23, S. 318ff (Hervorhebung im Original); 2. Brief, Band 23, S. 331.
(23) Lenin –Werke, Briefe über die Taktik, Band 24, S.32f.
(24) Trotzki, Leon Trotsky Speaks, S. 46f.
(25) Sinowjew, History of the Bolshevik Party, S. 177f.
(26) Krupskaya, Reminescences of Lenin, S. 338.
(27) Trotzki, Mein Leben, S.285f.
(28) siehe Liebman, A.s.o., S. 123.
(29) Krupskaja, Reminiscences of Lenin, S. 347f.
(30) F.F. Raskolnikow, Kronstadt and Petrograd in 1917, S. 71 und 76f.
(31) Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, S.276.
(32a) Lenin-Werke, Siebente Gesamtrussische Konferenz der SDAPR(B), Eröffnungsrede, Band 24, S.215 (Hervorhebung von A.Woods).
(32b) Lenin-Werke, Siebente Gesamtrussische Konferenz der SDAPR(B), Schlusswort zum Referat über die politische Lage, Band 24, S.234.
(32c) Lenin-Werke, Siebente Gesamtrussische Konferenz der SDAPR(B), Resolution über die gegenwärtige Lage, Band 24, S.304.
(33) Lenin-Werke, Briefe über die Taktik, Band 24, S.26.
(34) Lenin-Werke, Rede in der Versammlung bolschewistischer Delegierter, Band 36, S. 425.
(35) Lenin-Werke, Briefe über die Taktik, Band 24, S.27f und 33 (Hervorhebung von A.Woods).
(36) LCW, To Karl Radek, May 29 (June 11), 1917, Band 43, S. 632 und 634f
(37) Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, S.237.
(38) A.Rabinowitsch, The Bolsheviks Come to Power, S. xxxii
(39) Lenin-Werke, Die Lehren der Revolution, Band 25, S.242.
(40) A.Rabinowitsch, A.s.o., S. xxviii
(41) Trotsky, Writings, 1935-36, S. 166f
(42) Rabinowitsch, A.s.o., S. xxif
(43) Liebman, A.s.o., S. 134
(44) S.F.Cohen, Bukharin and the Bolshevik Revolution, S.50
(45) Lenin-Werke, Siebente Gesamtrussische Konferenz der SDAPR(B), Referat zur politischen Lage, Band 24, S.225 (Hervorhebung von A.Woods)
(46) Lenin-Werke, Eine schamlose Lüge der Kapitalisten, Band 24, S.96f (Hervorhebung im Original)
(47) Lenin-Werke, Resolution des Zentralkomitees der SDAPR(B), angenommen am 21. April (4. Mai) 1917, Band 24, S.189
(48) Lenin-Werke, Der Neugeborenen…, der «neuen» Regierung zum Angebinde, Band 24, S.359
(49) Lenin-Werke, Zu den Losungen, Band 25, S.182
(50) Lenin-Werke, Über Kompromisse, Band 25, S.315
(51) Lenin-Werke, Die russische Revolution und der Bürgerkrieg, Band 26, S.19f
(52) ebd., S.21f
(53) LCW, Band 21, Buch I, S. 257 und 263f
(54) Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, S.661f (Hervorhebung durch A. Woods)
(55) The Case of Leon Trotsky, S. 384
(56) Lenin-Werke, Eine verworrene Revolution, Band 25, S.123
(57) zitiert nach Keep, A.s.o., S. 91 und 95
(58) Lenin-Werke, 1. Gesamtrussischer Sowjetkongress, Rede über die Stellung zur Provisorischen Regierung, Band 25, S. 4
(59) Ebd., S. 8ff und 13f
(60) Lenin-Werke, Ein Bündnis, um die Revolution aufzuhalten, Band 25, S.41
(61) Trotzki, The Russian Revolution, in The Essential Trotzki, S. 35ff
(62) siehe Rabinowitsch, A.s.o.,, S. 117f und 121f
(63) zitiert nach Figes, A People’s Tragedy. The Russian Revolution 1891-1924, London, 1996., S. 424
(64) ebd., S. 38f und 431
(65) ebd., S. 433
(66) LCW, To the Bureau of the Central Executive Committee, Band 43, S. 636
(67) Krupskaya, Reminiscences of Lenin, S. 366
(68) A.Rabinowitsch, A.s.o., S. 34
(69) ebd., S. 41
(70) ebd., S. 36
(71) ebd., S. 45
(72) Nachdruck in The Age of the Permanent Revolution, S. 98f (Hervorhebung durch A. Woods)
(73) Rabinowitsch, A.s.o., S. 37
(74) Lenin-Werke, Notiz für L.B.Kamenew, Band 36, S.443
(75) Lenin-Werke, Die politische Lage, Band 25, S.175f
(76) Lenin-Werke, Thesen zum Referat in der Konferenz der Petersburger Organisation am 8. Oktober, Band 26, S.128
(77) Rabinowitsch, A.s.o., S. 77
(78) LCW, From the Theses for a Report at the October 8 Conference of the St. Petersburg Organisation, Band 41, S. 447
(79) zitiert nach Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, S. 660
(80) The Case of Leon Trotzki, S. 21
(81) siehe E.H.Carr, A.s.o., Band 1, S. 99
(82) Lenin-Werke, zur Frage der Vereinigung der Internationalisten, Band 24, S.430f
(83) E.H.Carr, A.s.o., Band 1, S. 89
(84) zitiert nach Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, S.658
(85) Istoriya KPSS, Band 2, S. 657f, Fussnote
(86) siehe LCW, From the Thesis for a Report at the October 8 Conference of the St. Petersburg Organisation, Band 41, S. 447
(87) Rabinowitsch, A.s.o., S. 62 und 59
(88) Lenin-Werke, Zu den Losungen, Band 25, S. 188
(89) zitiert nach Rabinowitsch, A.s.o., s. 68
(90) O.Figes, A.s.o. , S. 445f
(91) Lenin-Werke, An das Zentralkomitee der SDAPR, Band 25, S.292ff
(92) Lenin-Werke, An das Zentralkomitee der SDAPR, Band 25, S.295
(93) O.Figes, A.s.o. , S. 452
(94) siehe Keep, A.s.o., S. 142
(95) siehe Anweiler, Los Soviets en Rusia, 1905-1921, S. 189
(96) Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, S. 652f
(97) siehe Anweiler, A.s.o., S. 190f
(98) L.Kochan, Russia in Revolution, S. 269
(99) siehe Keep, A.s.o., S. 101
(100) Anweiler, A.s.o., S. 187 und 186
(101) L.Schapiro, The Communist Party of the Soviet Union, S. 171
(102) Lenin-Werke, Die Bolschewiki müssen die Macht ergreifen, Band 26, S.1
(103) zitiert nach M.Liebman, Leninism Under Lenin, S. 137, 69, 81f
(104) Lenin-Werke, Die Krise ist herangereift, Band 26, S.67
(105) LCW, Band 26, S. 530, Fussnote 4
(106) Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, S.679
(107) Lenin-Werke, Aus dem Tagebuch eines Publizisten, Band 26, S.40f
(108) Lenin-Werke, Sitzung des Zentralkomitees der SDAPF(B) am 10. (23.) Oktober 1917, Band 26, S.176
(109) Lenin-Werke, Brief an die Genossen Bolschewiki, die am Kongress der Sowjets des Nordgebiets teilnehmen, Band 26, S.169
(110) Lenin-Werke, Sitzung des Zentralkomitees der SDAPR(B) am 10. (23.) Oktober 1917
(111) Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, S.807
(112) Lenin-Werke, An einem Wendepunkt, Band 25, S.73
(113) Raskolnikow, A.s.o., S. 256f
(114) LCW, Band 26, S. 547, Fussnote
(115) Anweiler, A.s.o., S. 194
(116) Zitiert nach Rabinowitsch, A.s.o., S. 226
(117) Liebman, A.s.o., S. 158
(118) Lenin-Werke, Die russische Revolution und der Bürgerkrieg, Band 26, S.15
(119) Protokoly Tsentral’nogo Komiteta RSDRP b, S. 116
(120) s. Lenin-Werke, Brief an das Zentralkomitee der SDAPR(B), Band 26, S.211
(121) M.Liebman, Leninsm under Lenin, S. 179f
(122) ebd., S. 211f (Hervorhebung durch den A.Woods)
(123) Lenin-Werke, Marxismus und Aufstand, Band 26, S. 4
(124) zitiert nach J.Reed, Zehn Tage, die die Welt erschütterten, S. 429 (Hervorhebung durch A.Woods)
(125) Serge, Year One of the Russian Revolution, S. 87
(126) J.Reed., Zehn Tage, die die Welt erschütterten, S. 49f
(127) Raskolnikow, A.s.o., S. 266
(128) Lenin-Werke, Brief an die Mitglieder des ZK, Band 26, S. 223
(129) Kerenski, Memoirs, S. 437
(130) zitiert nach J.Reed, in: Zehn Tage, die die Welt erschütterten, S. 431
(131) zitiert nach A. Rabinowitsch, A.s.o., S. 278
(132) Lenin-Werke, Sitzung des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, 25. Oktober (7. November) 1917, Band 26, S. 228f
(133) Rabinowitsch, A.s.o., S. 284 und 290 (Hervorhebungen durch den A. Woods)
(134a) J.Reed, Zehn Tage die die Welt erschütterten, S. 135
(134b) ebd., S. 134
(134c) ebd., S. 143
(135) Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, S. 982
(136a) R. Luxemburg, Die russische Revolution, S. 54f
(136b) R. Luxemburg, ebd., S.80
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