Dieser Artikel ist die Fortsetzung von «Die gescheiterte Revolution in Italien – Gramsci und das Biennio Rosso 1919-1920». Beide wurden vor ein paar Jahren mit der Idee eines grösseren Projektes über die Ideen und das Wirken des Revolutionärs Antonio Gramsci geschrieben. Der nachfolgende Teil 2 zu den Jahren 1921-1926 wurde nie fertiggestellt und blieb bis jetzt unveröffentlicht. Wir denken jedoch, dass er, trotzt der teils ungeschliffenen Form, viel wertvolles Material über diese wichtige Periode enthält.

Die Kommunistische Internationale (Komintern) wurde 1919 gegründet. Sie war die «Schule der revolutionären Strategie und Taktik» (Trotzki). Viele ihrer wichtigsten Lektionen, lassen sich exemplarisch an der Entwicklung der 1921 gegründeten Kommunistischen Partei von Italien (PCd’I) mitverfolgen: Linksradikalismus, die Taktik der Einheitsfront, das Wesen des Faschismus und der Kampf dagegen, Bolschewismus versus die Stalinisierung der Komintern und die bürokratischen Methoden des Sinowjewismus, die Methoden des Übergangsprogramms.

Die Periode, in der wir leben, ähnelt derjenigen, in welcher die Komintern und die gegründet wurde. Es ist eine Periode der Instabilität, von Kriegen und der Revolution. Wir müssen uns bewaffnen mit den Lektionen vergangener Kämpfe. Denn wer nicht aus der Geschichte lernt, ist verdammt dazu, alte Fehler zu wiederholen.

Die Redaktion

«Die Tage des September 1920 waren nicht leicht; in jenen Tagen haben wir, wenn vielleicht auch etwas spät, die klare und entschiedene Überzeugung gewonnen, dass die Spaltung notwendig ist. Wie war es möglich, dass in ein und derselben Partei Männer zusammen sein konnten, die einander misstrauten, die gerade im Augenblick der Aktion merkten, dass sie sich vor den eigenen Parteigenossen in acht nehmen mussten? […] Wenn die Anarchisten[1] gut über die Ereignisse im September 1920 nachdenken, dann können sie nur zu einer Schlussfolgerung kommen: der Notwendigkeit einer stark organisierten und zentralisierten politischen Partei. Gerade weil die Sozialistische Partei durch ihre Unfähigkeit und ihre Unterordnung unter die Gewerkschaftsfunktionäre für die versäumte Revolution verantwortlich ist, gerade deshalb muss es eine Partei geben, die ihre nationale Organisation in den Dienst der proletarischen Revolution stellt, die durch Diskussionen und mit eiserner Disziplin fähige Menschen erzieht, die voraussehen können und die kein Zögern und kein Schwanken kennen.»[2]

Kurz nach dem Scheitern der Fabrikrätebewegung in Turin begannen die Kommunisten in der Sozialistischen Partei Italiens mit der Vorarbeit für die Gründung einer neuen kommunistischen Partei. Die Erfahrungen in Turin hatten auch Gramsci die Notwendigkeit einer revolutionären Partei klar vor Augen geführt. Die spontane Bewegung der Massen ist die Energie der Revolution. Doch sie verpufft ohne eine politische Führung von wahrhaften Revolutionären, zentralisiert organisiert, erfahren im Klassenkampf und gut geschult in den Ideen des Marxismus. Wäre eine solche Partei in Italien schon zu Beginn des Biennio Rosso vorhanden gewesen, hätten die Entwicklungen zweifellos einen anderen Verlauf genommen. Dieses Versäumnis nachzuholen, stellte sich den Kommunisten in Italien nun als die dringendste Aufgabe.

Sie waren damit nicht allein. Die stürmische, revolutionäre Stimmung nach der 1917er Revolution in Russland und nach Ende des Ersten Weltkrieges war keine italienische Eigenheit. Die «objektiven Bedingungen» für eine proletarische Revolution reiften in allen entscheidenden Länder Europas in hohem Tempo heran. Was fehlte war der «subjektive Faktor»: Klassenorganisation und Klassenbewusstsein der Arbeiter und dabei insbesondere eine revolutionäre Vorhut, die entschlossen vorangeht. Die sozialdemokratischen Parteien der Zweiten Internationale hatten die revolutionären Massen in einem Land nach dem anderen verraten. Die Bolschewiki in Russland waren die einzigen, die sich dem Prozess der nationalistischen Degeneration der Zweiten Internationale entzogen hatten. Und so war es nur ihnen gelungen in der Form der revolutionären Partei das Werkzeug zu schaffen, mit dem sich Bewusstsein und Organisation der Klasse entscheidend in Richtung Machtergreifung hatte vorwärtstreiben lassen. Das ist der Hintergrund, vor dem im Frühjahr 1919 auf Initiative der Bolschewiki die «Dritte Internationale», die Kommunistische Internationale (Komintern), gegründet worden war.

Die Gründung der Komintern war die Antwort der Revolutionäre auf die widersprüchliche Ausgangslage, die sich der internationalen Arbeiterklasse stellte: Auf der einen Seite hatte die Isolation der Revolution im ökonomisch und kulturell rückständigen Russland einen desaströsen Effekt auf das dortige Leben für die Arbeiter und Bauern. Die Situation verschlechterte sich beinahe täglich. Der junge Arbeiterstaat konnte nur unter der Bedingung eine Zukunft haben, dass die proletarische Revolution auch in Westeuropa siegen würde, wenigstens in einigen ökonomisch fortgeschrittenen Schlüsselländern. Auf der anderen Seite hatten sich die Revolutionäre, die sich an der Oktoberrevolution in Russland orientierten, in besagten Ländern Westeuropas erst kürzlich von der Sozialdemokratie zu lösen begonnen. So waren die jungen oder gar erst entstehenden Kommunistischen Parteien, mitten in einer revolutionären Periode, zu schwach für ihre historische Aufgabe. Sie konnten die arbeitenden Klassen nur unter der Bedingung zum Sieg führen, dass sie in kürzester Frist die politische Standfestigkeit und Qualität entwickeln würden, für die zu erlangen die Bolschewiki Jahre gebraucht hatten. Dort wo die Revolution bereits zur Machtergreifung des Proletariats und der armen Bauern geführt hatte, fehlten also die objektiven Bedingungen für den Aufbau des Sozialismus, und dort wo das Gewicht der materiellen Voraussetzungen für den internationalen Aufbau des Sozialismus grösser war, fehlte der subjektive Faktor für die Machtergreifung.

Die Komintern war gleichzeitig die Anerkennung dieses Widerspruchs im Prozess der Weltrevolution und das designierte Werkzeug zu dessen schnellstmöglicher Überwindung: In ihr wurden die kommunistischen Kräfte der verschiedenen Länder in einer wirklichen Weltpartei unter der gemeinsamen Führung der besten Revolutionäre aller Länder zusammengefasst. So sollte der Entwicklungsprozess der Kommunistischen Parteien der verschiedenen Länder beschleunigt werden, so sollte verhindert werden, dass die Kommunisten in jedem einzelnen Land, über eine lange Zeit, die sie nicht hatten, jede schmerzhafte Erfahrung selbst machen musste.

Es braucht nicht sonderlich grosse Geschichtskenntnisse, um zu wissen, dass dieser historische Widerspruch nicht in der Weise gelöst wurde, wie es die Revolutionäre beabsichtigt hatten. In den 1920er Jahren siegte nicht die Weltrevolution. In Italien siegte der Faschismus, in Russland der Stalinismus, der auch gleich die Komintern und mit ihr grossmehrheitlich den revolutionären Marxismus in die Degeneration stürzte. Was wir über die folgenden Seiten mitverfolgen werden, ist in vielerlei Hinsicht die nicht weniger tragische Fortsetzung dieser Geschichte der Niederlage des Proletariats während des Biennio Rosso. Und wiederum war der Ausgang dieser Geschichte nicht durch einen blinden historischen Gang vorbestimmt. Der Sieg des Faschismus, aber auch der Sieg des Stalinismus, sind eine Tragödie des subjektiven Faktors. Sie sind Resultat einer ganzen Reihe von Fehlern der proletarischen Führung im Klassenkampf. Aus ihnen gilt es zu lernen. Zu lehren hat die betreffende Periode umso mehr, weil die frühe Komintern, wie Trotzki erklärte, «die hohe Schule der revolutionären Strategie» war.[3]

1. FASCHISMUS UND EINHEITSFRONT: DIE ANFÄNGE DER PCd’I (1921-23)

Die Bestrebungen der Kommunisten in Italien zur Gründung einer neuen Partei reihen sich ein in den grösseren internationalen Prozess der Spaltung in der Arbeiterbewegung zwischen den Revolutionären und der Opportunisten (Reformisten). Die revolutionären Kommunisten brauchten organisatorische und politische Unabhängigkeit. Nur so konnten sie geeint für ein revolutionäres Programm kämpfen und den Einfluss des Opportunismus in der Arbeiterbewegung zurückdrängen, der die Arbeiterklasse überall in die Niederlage führte.

Der II. Kongress der Kommunistischen Internationale, im Juli-August 1920, verabschiedete die berühmten 21 Bedingungen zur Aufnahme in die Komintern. Ihr Zweck war es, eine klare Bruchlinie zum Opportunismus und der sozialdemokratischen Vergangenheit zu ziehen, um die Komintern und ihre Sektionen auf der politischen und organisatorischen Basis von eindeutigen marxistischen Positionen aufzubauen. Dies war umso notwendiger, da die Komintern ein Jahr nach ihrer Gründung gewissermassen «zur Mode» geworden war.[4]  Sie war für die Massen zu einer anziehenden Kraft geworden und erhielt auch Unterstützung von Gruppen, «die noch keine wirklich kommunistischen Organisationen geworden sind». [5]

Das traf in exemplarischer Weise auf Italien zu. Im ersten Teil haben wir beschrieben, wie die Sozialistischen Partei Italiens (PSI) unter der maximalistischen Führung von Serrati weiter links stand als die Sozialdemokratie in anderen Ländern. Und so wollte 1919 die Partei als Ganze der kommunistischen Dritten Internationale beitreten, während sie gleichzeitig jedoch nicht mit der Praxis der sozialdemokratischen Zweiten Internationale gebrochen hatte. Serrati und seine Maximalisten gehörten damit zu den «Zentristen», die zwischen der Zweiten und der Dritten Internationale, zwischen Reformismus und Marxismus, standen. Die Aufnahmebedingungen der Komintern forderten von solchen zentristischen Gruppen ein klares Bekenntnis zur Komintern und zu marxistischen Positionen. Das beinhaltete den Bruch mit dem Opportunismus und entsprechend den Ausschluss der Reformisten wie Turati, die in der Arbeiterklasse direkt die Interessen der Bourgeoisie vertraten und sich offen gegen die Dritte Internationale stellten.

Im November 1920, nach den heissen Septembertagen, traf sich die Kommunistische Fraktion der PSI unter Amadeo Bordigas Führung in Imola, um die Spaltung vorzubereiten. Auch Gramsci war dabei. Bordiga vertrat gegenüber Serratis Maximalisten eine kompromisslose Haltung. Er war überzeugt, dass Serrati und seine Anhänger in einer neuen, reinen kommunistischen Partei keinen Platz haben könnten. Lenin, wie auch Gramsci, hatte Serrati lange Zeit für die Komintern gewinnen wollen – nicht wegen Serrati, sondern wegen dessen Zehntausenden Anhängern, die sich als Mitglieder der Kommunistischen Internationalen sahen. Doch auch Lenin kam mehr und mehr zum Schluss, dass Serrati in absehbarer Zeit nicht bereit sei, mit Turatis Reformisten zu brechen und die 21 Bedingungen der Komintern umzusetzen.

Am 15. Januar 1921 fand in Livorno der Parteitag der PSI statt. Es wurde der Tag der Spaltung der Sozialistischen Partei. Die Delegierten, die von der Komintern nach Livorno gesandt wurden, reisten mit dem imperativen Mandat an, sich auch ohne Serrati abzuspalten. Der Komintern-Delegierte Rakosi, später einer der brutalsten Stalinisten und selbsternannter bester Schüler Stalins, versuchte auf dem Kongress nicht einmal, einen möglichst grossen Teil der Serrati-Anhänger für die kommunistische Position zu gewinnen und von der Notwendigkeit des Ausschlusses Turatis zu überzeugen.[6] Seine aggressive Rede auf dem Kongress war vor allem gegen Serrati selbst gerichtet, wie der marxistische Historiker Pierre Broué kritisiert. Auch Gramsci bedauerte später den Fehler der Kommunisten, alleine die formale Frage der Umsetzung der 21 Aufnahme-Bedingungen der Komintern in den Mittelpunkt gesetzt zu haben, statt im Vorfeld des Kongresses eine systematische politische Kampagne durchgeführt zu haben, die auch die Mitglieder an der Basis der Sozialistischen Partei hätte erreichen und von der Notwendigkeit einer kommunistischen Partei überzeugen können.[7] Tatsache ist jedenfalls, dass die Kommunisten in Livorno nicht die Zustimmung erhielten, die sie sich erhofft hatten. Die Mehrheit der Basis stand noch immer hinter Serrati, Lazzari und der maximalistischen Parteileitung, die 98’028 Stimmen auf sich vereinigten. Die «reinen Kommunisten» erhielten 58’783 Stimmen. Turatis Reformisten, die gegen einen Beitritt zur Kommunistischen Internationale waren, blieben mit 14’695 Stimmen in der Minderheit. Mit dem Votum stellten sich die Maximalisten und Reformisten, also der Grossteil der Sozialistischen Partei, ausserhalb der Dritten Internationalen. Als einzige offizielle Sektion der Dritten Internationale wurde die Kommunistische Partei von Italien (PCd’I) gegründet.

Die Art und Weise, wie die Spaltung in Livorno verlaufen ist, mag nicht optimal gewesen sein. Aber in jedem Fall war sie ein notwendiger und lägst überfälliger Schritt, um die Basis zu schaffen, auf der sich eine revolutionäre Partei überhaupt entwickeln konnte. Die einfache Gründung einer Kommunistischen Partei ist allerdings keine Garantie für eine richtige kommunistische Politik. Dafür liefert die PCd’I den besten Beweis. Die wirklich entscheidenden Fehler geschahen nicht bei ihrer Geburt, sondern bei den ersten Gehversuchen der jungen Partei unter der Führung Bordigas.

Der «linke Radikalismus», die Kinderkrankheit im Kommunismus

Amadeo Bordiga war der unbestrittene Führer der neuen PCd’I. Er hatte bereits lange zuvor in Italien seine kommunistische Gruppe und sein Netzwerk aufgebaut und war somit gut unter den Kommunisten verankert. Er war es auch, der am konsequentesten für die Gründung einer authentischen Kommunistischen Partei gekämpft hatte. Gramsci und die Ordinovisten hingegen waren kaum über Turin hinaus bekannt. Sie hatten es verpasst, eine Fraktion aufzubauen und hatten die Führung der Sozialistischen Partei nicht früh genug vehement bekämpft. Drei Jahre später bedauerte Gramsci in zwei sehr selbstkritischen Briefen diese «äusserst ernsthaften Fehler, für die wir letztlich heute zahlen.»[8] Denn Gramsci kam auf Grund seiner fehlenden Verankerung in der neu gegründeten PCd’I nur eine zweitrangige Rolle zu. Im Zentralkomitee und im Exekutivkomitee, in das von der ehemaligen Ordine Nuovo-Gruppe nicht Gramsci, sondern Terracini gewählt wurde, hatten die Bordigisten die klare Mehrheit. Und diese drückten der Partei eine Linie auf, die ihr verhinderte, der grossen Verantwortung gerecht werden zu können, die die Situation für sie gestellt hatte.

In ihren Anfängen litt die Kommunistische Partei Italiens an dem, was Lenin die «Kinderkrankheit im Kommunismus» nannte: dem «Linksradikalismus». Die kommunistischen Gruppen und Parteien entstanden in sehr kurzer Zeit und in einer Periode, in der die bürgerliche Gesellschaft sich in hohem Tempo dem Zerfall entgegenbewegte. Das provozierte in Teilen der kommunistischen Bewegung Ungeduld und eine Art revolutionären Übereifer. Bordiga war nicht der einzige im internationalen Kommunismus, der leninistischer sein wollte als Lenin. In verschiedenen Ländern hatten Sektionen oder Teile der kommunistischen Gruppen ihre korrekte Ablehnung des Opportunismus und des bürgerlichen Staates bis zu einem Punkt gesteigert, an dem sie jeden Inhalt verlor. In ihrer Herangehensweise reduzierte sich das Verhältnis der Kommunisten zum bürgerlichen Staat und zu opportunistischen Organisationen auf die simple kategorische Zurückweisung. Feine analytische und taktische Fragen, wie man sich in welcher Situation zu ihnen verhalten muss, um die Massen für die kommunistischen Ideen zu gewinnen, stellen sich auf diese Weise nicht mehr. Man ist aus Prinzip gegen sie und will – ausser ihrer Zerstörung –nichts mit ihnen zu tun haben. So ging bei den «Linkskommunisten» jeder Sinn für Unterschiede in bürgerlichen Regimes verloren. Und mit diesen war auch die reformistische Arbeiterbewegung unterschiedslos als bürgerlich abzulehnen und in ihrer Gesamtheit zu bekämpfen. Die kommunistische Partei sollte neben und im Gegensatz zu den Massen der Arbeiterbewegung, die noch den Ideen der Führungen anderer Organisationen und Parteien folgten, aufgebaut werden. Diese sektiererische Herangehensweise, die sich unter Hochhaltung der Reinheit der eigenen Ideen nicht durch den Kontakt mit anderen beschmutzen will, musste dazu führen, sich von den Massen zu isolieren, statt geduldig darauf hinzuarbeiten, sie für die eigenen Ideen zu gewinnen.

Dieser dem Anarchismus ähnelnde Linksradikalismus war eine nachvollziehbare Überreaktion auf den opportunistischen Verrat der Sozialdemokratie, von der sich diese kommunistischen Gruppen eben erst losgelöst hatten. Doch ist Nachvollziehbarkeitkein Indiz für Richtigkeit. Lenin erklärte: «Der Anarchismus war nicht selten eine Art Strafe für die opportunistischen Sünden der Arbeiterbewegung. Beide Auswüchse ergänzten einander.»[9] Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist voller Beispiele von solchen abstrakten Negationen, wie man sie in der Sprache der hegelschen Dialektik bezeichnen könnte, bei denen in unkritischer Ablehnung einer falschen Praxis nur die Vorzeichen umgedreht werden. Aus schwarz wird weiss, aus ja wird nein. Als infantile Trotzreaktion auf den Opportunismus war der Linksradikalismus verständlich, und entsprechend pädagogisch ging Lenin in seiner Kritik vor. Aber es war eine «Kinderkrankheit», die schnellstmöglich überwunden werden musste, um der Arbeiterbewegung keine Langzeitschäden zuzufügen.

Gramsci hatte während der Turiner Rätebewegung bewiesen, dass er eine korrektere, dialektischere und weniger dogmatische und formalistische Herangehensweise an die Politik hatte als Bordiga. Aber wie wir sehen werden, war auch er nicht gänzlich immun gegen diese Kinderkrankheit. So fehlte ihm die Sicherheit und politische Standfestigkeit, um in der PCd’I gegen Bordigas Linksradikalismus anzukämpfen, der desaströse Konsequenzen haben sollte. Er wird der Arbeiterklasse verunmöglichen, dem Faschismus in einer gemeinsamen Front der Arbeiterorganisationen, einer proletarischen Einheitsfront, entgegentreten zu können.

Was ist Faschismus?

Nach der Niederlage im September 1920 ebbten die Mobilisierung der Arbeiterklasse in Italien ab. Aber das Proletariat war nicht unmittelbar geschlagen. Die Kämpfe während des Biennio Rosso hatten auch auf dem Land zu grossen Errungenschaften der Landarbeiter geführt. Sie hatten sich in «roten Ligen» zusammengeschlossen, die sich auf den Sozialismus beriefen. Durch diese gewerkschaftsähnlichen Ligen hatten sie in verschiedenen Regionen, vor allem in der Poebene und in Zentralitalien, den Grundbesitzern regelrecht die Kontrolle über den Boden und den Arbeitsmarkt entrissen und diktieren ihnen die Anstellungsbedingungen. In den Lokalwahlen im Oktober und November 1920 gewann die PSI vor allem dort bedeutende Mehrheiten, wo die Agrarkämpfe besonders intensiv waren.[10] Dort kontrollierte die Arbeiterbewegung die lokale Macht, sehr zum Unmut der Grundbesitzer. Und dort, auf dem Land, setzte die faschistische Zerstörung zuerst ein. Die faschistischen «Strafexpeditionen» waren ein Rachefeldzug gegen die Arbeitermacht. Es ist essenziell, diesen Klassencharakter des Faschismus zu verstehen.

Bis im Frühjahr 1921 war es den bewaffneten faschistischen Truppen, den squadre, gelungen, die meisten dieser Ligen und Produktionsgenossenschaften zu zerschlagen und die besetzten Landgüter wiederherzustellen. Die Grossgrundbesitzer und staatlichen Behörden unterstützten die faschistische Gewalt. Die Angriffe auf die Arbeiterbewegung hatten einen militärischen Charakter. Die faschistischen Trupps bildeten eine Kolonne, um ein Dorf zu überfallen, zerstörten die Einrichtungen der Arbeiterbewegung und entführen, erniedrigen oder töten deren Führungsfiguren. Dann zogen sie weiter.[11] Später wurden auch grössere Städte im Sturm erobert. In den 6 Monaten vom Winter 1920 bis im Sommer 1921 hatten die Faschisten 59 Volkshäuser, 119 Gewerkschaftshäuser, 107 Genossenschaften, 83 Ligen der Landarbeiter, 141 sozialistische und kommunistische Ortsgruppen, 100 kulturelle Gruppen und 28 Gewerkschaften geplündert oder niedergebrannt.[12] Mit ihrem erfolgreichen Vorstossen wuchs die faschistische Bewegung in hohem Tempo. Am 31. März 1921 gab es 317 faschistische Sektionen und 80’476 Mitglieder, bis zum 31. August 1921 waren es bereits 1001 faschistische Sektionen und 187’098 Mitglieder.[13]

Die Arbeiterbewegung stand diesen Angriffen völlig ohnmächtig gegenüber. Ihre falsche Analyse, ihr völliges Unverständnis des Charakters des Faschismus, verunmöglichte den Kampf gegen den Faschismus. Während sie militärisch angegriffen wurden, reagierten die Reformisten mit einer pazifistischen und defätistischen Haltung. Sie hielten jeden Willen der Arbeiterklasse zum Widerstand nieder. Der Faschismus könne nur auf legalem Weg besiegt werden, erklärten die sozialistischen und gewerkschaftlichen Führer. Der reformistische PSI-Abgeordnete Matteotti wies die die Arbeiter an: «Bleibt zuhause; reagiert nicht auf ihre Provokationen. Selbst Schweigen, sogar Feigheit ist manchmal heldenhaft.»[14] Dabei hätten die Sozialisten durch ihre Verbindungen zu Teilen des Staatsapparates mehrmals Waffen angeboten bekommen, um sich gegen die Faschisten zu verteidigen. Sie lehnten ab, weil es die Aufgabe des Staates sei, die Bürger gegen bewaffnete Gruppen zu schützen.[15] Im August 1921 unterzeichneten die Sozialisten einen Friedenspakt mit Mussolini, im Glauben, die Faschisten würden durch diese Initiative des Ministerpräsidenten Bonomi ihre paramilitärischen Truppen tatsächlich auflösen. Mussolini rieb sich die Hände. Während die Sozialisten sich zu ausschliesslich legalen Mitteln verpflichteten, dachte Mussolini natürlich nicht eine Sekunde daran, die Waffen niederzulegen.

Diese fatale naive Haltung der Reformisten verkannte gleichermassen die Grundlage des Faschismus wie des bürgerlichen Staates. Die Arbeiterklasse darf zu ihrer Verteidigung niemals auf den bürgerlichen Staat vertrauen. Die liberalen Teile der Bourgeoisie mögen den Methoden des Faschismus misstrauen, sie gar hassen. Aber es sind doch Methoden im Kampf ihrer Klasse gegen die Macht einer Arbeiterklasse, auf deren Machtlosigkeit und Ausbeutung ihre ganze bürgerliche Existenz gründet. Der Faschismus konnte überhaupt nur erstarken, weil die Autorität des bürgerlichen Staates eingebrochen war und die Bourgeoisie andere, härtere Methoden brauchte, um die die Macht der Arbeiterklasse zu brechen und ihre Ordnung wiederherzustellen. So genossen die faschistischen Angriffe die oft ganz direkte Unterstützung der entscheidenden Organe des bürgerlichen Staates (Armee, Polizei, Justiz).

Die Linkskommunisten um Bordiga lagen in ihrer Analyse und der daraus folgenden Politik kaum weniger weit daneben. Sie unterschätzten massiv die Gefahr, welche der Faschismus für die Arbeiterklasse darstellte. Ihre Perspektive war die einer «sozialdemokratischen Phase», in der die Reformisten die bürgerlichen Parteien in eine nationale Einheitsregierung führen würden, um die Kommunisten zu bekämpfen. Einen Putsch von rechts durch die Faschisten schlossen sie aus. Ohnehin gab es für die Bordigisten keinen Unterschied zwischen Faschismus und bürgerlich-demokratischer Ordnung, ja noch nicht einmal zwischen Sozialdemokratie und Faschismus. Beide seien gleichermassen Werkzeuge der Bourgeoisie zur Verhinderung der kommunistischen Revolution. Was Bordiga und seine Gefolgschaft hier vertraten war die gleiche verbrecherische sektiererische Position, die ab 1928 unter Stalin zur offiziellen Politik der Dritten Internationale wurde und Hitlers Aufstieg in Deutschland erheblich begünstigt hatte: Der Hauptfeind war nicht der Faschismus, nicht die Bourgeoisie, sondern die Sozialdemokratie, die es zu bekämpfen gelte, weil sie den «linken Flügel des Faschismus» darstellte! Eine Einheitsfront mit den Sozialisten, die die einzig korrekte Taktik gewesen wäre, konnte mit dieser Perspektive offensichtlich nicht infrage kommen.

Wie Trotzki später würdigte, war Gramsci der Einzige in Italien, der das Wesen des Faschismus begriff und die Bedrohung durch diesen ernst nahm.[16] Er erkannte schon früh, dass der Faschismus mehr war als «nur» die Reaktion des Kapitals. Er war eine Reaktion auf die grundsätzliche Zersetzung der gesellschaftlichen Ordnung und der staatlichen Autorität, die ihre Grundlage in der tiefen Krise des Kapitalismus hatte. In dieser Situation versuchte das Kleinbürgertum, die wirtschaftlichen Probleme mit militärischer Gewalt aus dem Weg zu schaffen. Es war der «Versuch, die Probleme der Produktion und des Austauschs mit Maschinengewehren und Pistolenschüssen zu lösen.»[17] Gramsci sah, dass es sich um das erstmalige Phänomen handelte, in dem das Kleinbürgertum – eine Klasse, die sonst organisch unfähig ist, sich zu organisieren – in der militärischen Organisation einen organisierten Ausdruck fand. Bemerkenswerterweise hatte er bereits Ende 1919 beschrieben, dass die Angriffe aufs Proletariat durch wütige kleinbürgerliche Nationalisten indirekt verbunden waren mit dem «höheren Klassenkampf zwischen den Kapitalisten und den Arbeitern»: «Das Klein- und Mittelbürgertum», stellte er fest, «ist tatsächlich die Mauer aus korrupter, ungezügelter, verfaulender Menschheit, mit der der Kapitalismus seine wirtschaftliche und politische Macht verteidigt.»[18] Zum kleinen und mittleren Bürgertum, um gleich Gramscis Aufzählung zu benützen, gehörten Schichten von Intellektuellen, Staatsfunktionären, Geschäftsinhabern, industriellen und landwirtschaftlichen Kleinunternehmern, Händlern in der Stadt und Wucherer auf dem Land.[19] Sie wurden durch die Krise des Kapitalismus hart getroffen. Ihre materielle und psychologische Existenzkrise radikalisierte sie gegen die bestehenden Verhältnisse. Das Kleinbürgertum ist eine Klasse, die durch ihre Zwischenstellung in der Gesellschaft dazu tendiert, sich auf die Seite jener der zwei grossen Hauptklassen zu stellen, die im Klassenkampf gerade die Überhand gewinnt. Dieselben kleinbürgerlichen Schichten, die Ende 1919 noch zu grossen Teilen die Lösung ihrer Probleme von einer sozialistischen Regierung erhofften, wandten sich nun, beflügelt durch die faschistische Euphorie, gegen das Proletariat und den Sozialismus.[20] Es war eine militärische Kaste aus dem Ersten Weltkrieg, die, finanziert durch den Grossgrundbesitz und das Finanzkapital, den Kern des Faschismus bildeten. Aber es war die Mobilisierung des wütenden, radikalisierten Kleinbürgertums die den Faschismus zu einer militarisierten Massenbewegung machte, ohne die der Faschismus nicht Faschismus wäre.

Heute wird der Faschismus meist auf das Phänomen einer menschenfeindlichen Ideologie reduziert, die hinter jeder Ecke zu lauern scheint. Aber es ist entscheidend, die Grundlage des Faschismus in den Klassenverhältnissen und deren Entwicklung zu verstehen. Sonst werden wir niemals fähig sein, die Unterschiede in den politischen Formen der Herrschaft des Kapitals zu begreifen, wir werden niemals fähig sein, effektive Methoden des Klassenkampfes zu wählen. Der Faschismus ist eine Massenbewegung des radikalisierten Kleinbürgertums auf die sich das Kapital stützt, wenn es seine Profitbedingungen nur noch dadurch widerherstellen kann, dass die Organisationen der Arbeiterklasse zerschlagen werden. Das ist die Funktion des Faschismus: die Arbeiter in einen desorganisierten und passiven Zustand zu versetzen, in dem sie der Ausbeutung des Kapitals verteidigungslos ausgeliefert sind.[21]

Die Erkenntnis der Zentralität des Kleinbürgertums unterschied Gramsci in seinem Faschismus-Verständnis wesentlich von den Bordigisten und auch von den meisten «marxistischen» Analysen des Faschismus, die in der Komintern dominant wurden. Für Gramsci war somit auch klar, und er wies in einer Vielzahl von Artikeln darauf hin, dass diese Krise der bestehenden Ordnung nur gelöst werden kann durch eine proletarische Revolution. Schafft die Arbeiterklasse es nicht, sich für diesen Schritt zu mobilisieren und den anti-faschistischen Widerstand bis zum revolutionären Ende zu treiben, so müsse das Resultat ein faschistischer Putsch sein. Gramsci erklärte, dass der Faschismus im Begriff war, unter dem Schutz der Staatsfunktionäre eine Armee von einer halben Million Mann aufzubauen. Und er war, ganz im Gegensatz zu Bordiga, überzeugt, dass der Faschismus diese militärische Kraft im gegebenen Moment auch für die Ergreifung der politischen Macht benützen würde.[22]

Aber auch Gramsci, der mit seiner scharfsinnigen Analyse tatsächlich ein Pionier in der marxistischen Analyse des Faschismus war, schwankte. Einerseits hat er nichts unternommen, um Bordigas gefährliche Position in der PCd’I herauszufordern. Andererseits schwenkte er zeitweise selbst auf die bordigistische Perspektive. Getäuscht von momentanen  Schwankungen des Faschismus, erklärte auch er im Sommer 1921, dass eine «sozialdemokratische Phase» bevorstehe, in der die Reaktion gegen den Kommunismus auf legalem Weg durch eine Koalition aller reaktionären Elemente – von den Faschisten über die Popolari zu den Sozialisten – organisiert würde.[23] Vor allem aber fehlte ihm ohne das Verständnis der Taktik der Einheitsfront auch das praktische Werkzeug im Widerstand gegen den Faschismus, selbst wenn seine Intuition, ihn in die richtige Richtung treiben wollte.

Antifaschistischer Widerstand: Die Arditi del popolo

Die passivierende Haltung der Führungen der Arbeiterorganisationen führte dazu, dass sich der proletarische Wille zum Widerstand gegen die faschistische Verwüstung im Sommer 1921 in einer halb-spontanen Volkserhebung äusserte. In Rom fand im Juli eine antifaschistische Demonstration mit rund 50’000 Teilnehmenden statt.[24] Unter ihnen zeigten auch rund 3’000 Mitglieder der sogenannten Arditi del popolo ihre militärische Stärke. Die Arditi del popolo waren antifaschistischen Milizen, die zu dieser Zeit rund 55’000 Mitglieder in ganz Italien vereinten. Die Führung der Arditi war nicht direkt politisch. Die Arditi waren eine sehr heterogen zusammengesetzte proletarische Organisation, die sozialistische, kommunistische, anarchistische und andere Mitglieder unter dem Banner der Selbstverteidigung der Arbeiterklasse gegen die faschistische Gewalt vereinte. Überall wo sie, und oft sehr erfolgreich, gegen die faschistischen Schwarzhemden kämpften, hatten sie die Unterstützung der lokalen arbeitenden Bevölkerung.

Doch die Haltung der Führungen der Arbeiterorganisationen gegenüber diesem antifaschistischen Widerstand von unten war nicht weniger als ein Skandal. Turati erklärte, die PSI distanziere sich von jeglicher Form der organisierten Selbstverteidigung der Arbeiter. Er verurteile die Arditi del Popolo als Organisation, die der Arbeiterklasse feindlich gesinnt sei! Der bereits erwähnte Friedenspakt der Sozialisten mit Mussolini im August 1921 wurde während (!) der Mobilisierung der Arditi geschlossen und verlangte von ihnen, die Waffen niederzulegen. Nicht weniger verbrecherisch war Bordigas sektiererische Haltung. Auch für Bordiga konnte es keine Frage sein, sich den Arditi anzuschliessen. Natürlich nicht, weil er wie die Reformisten gegen den bewaffneten Widerstand war, sondern weil die Führung der Arditi politisch eine diffuse Haltung hätten und ebenso wie die Reformisten in erster Linie für eine Rückkehr zur «demokratischen Ordnung» stünden! Das ist Sektierertum par excellence. In seiner Zeitung Il Comunista erklärte er offen, die militärische Organisierung müsse innerhalb der PCd’I und damit auch in direkter Konkurrenz zu den Arditi stattfinden. Kein Mitglied könne gleichzeitig der PCd’I und anderen Organisationen, wie den Arditi,angehören!

Gramsci begegnete den Arditi hingegen mit Sympathie. In der Ordine Nuovo druckte ein Interview mit einem Initianten und Führer der Arditi del popolo auf der ersten Seite ab.[25] Wenig später erklärte er selbst in einem Artikel, dass die Kommunisten nicht nur nicht gegen die Arditi seien, «im Gegenteil: sie wollen die Bewaffnung des Proletariats, die Schaffung einer bewaffneten proletarischen Kraft, die fähig ist, die Bourgeoisie zu besiegen und die Organisierung und Entwicklung der vom Kapitalismus geschaffenen neuen Produktivkräfte zu übernehmen.»[26] Aber auch Gramsci lenkte ein und akzeptierte die offizielle Linie der PCd’I.

Ohne Unterstützung, ja gar mit dem Widerstand der Massenorganisationen der Arbeiterklasse, konnten die Arditi keinen Erfolg haben. Die Arditi waren faktisch eine proletarische Einheitsfront von unten. Sie stellte über die Organisationszugehörigkeit hinweg eine Einheit im Kampf her. Es wäre die Pflicht jedes Kommunisten gewesen, sich nicht von den Arditi zu isolieren. Es wäre die Pflicht jedes Kommunisten gewesen, mit ihnen in ihrem ehrlichen Kampf mitzugehen und gleichzeitig stets zu erklären, dass der Kampf gegen den Faschismus nur als revolutionärer Kampf gegen den Kapitalismus wird siegen können. Ohne Zweifel wären die Erfolgsaussichten des anti-faschistischen Kampfes auf diese Weise ein Vielfaches grösser gewesen. Und die Kommunistische Partei hätte durch diesen Einsatz allen Arbeitern aufgezeigt, dass sie im Gegensatz zu den Reformisten bereit ist, bedingungslos für die Verteidigung der Arbeiterklasse einzustehen. Mit Sicherheit hätte das zu einer erheblichen Stärkung der kommunistischen Kräfte geführt. Stattdessen nahmen die Kommunisten ebenso wie die reformistischen Organisationen den Arditi den Wind aus den Segeln und verloren selbst an Mitglieder!

Einmal mehr kann den Massen kein Vorwurf gemacht werden. Sie waren präsent und zur Selbstverteidigung auch bereit, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Es ist und bleibt eine Frage der Führung. Ein Jahr nachdem die Arbeiterklasse in der Revolution in Italien von ihrer eigenen Führung in die Niederlage geführt worden war, die dem Faschismus überhaupt erst den Kopf zu erheben erlaubte, ein Jahr nach diesem schrecklichen Verrat führte der verbrecherische Defätismus der Reformisten und das linksradikale Sektierertum der Kommunisten die Arbeiterklasse in die völlige Ohnmacht, den Widerstand gegen den Faschismus zu organisieren.

Einheitsfront: «Zu den Massen!»

Zur gleichen Zeit, im Sommer 1921 hatte Lenin der PCd’I vorgeschlagen, ein Bündnis mit Serratis Maximalisten von der PSI zu suchen. Eine solche Einheitsfront sei nötig, um sich gegen die reaktionäre Offensive des Kapitals zu verteidigen. Wenige Monate nach ihrer Gründung stand die Führung der PCd’I damit in einem gespannten Verhältnis zum Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) und ihren Führungsfiguren der russischen Bolschewiki. Für Bordiga und Co. war diese Empfehlung unannehmbar. Wieso hatten sie sich von der verräterischen PSI abgespalten, um eine «reine» Kommunistische Partei zu gründen, wenn sie sich gleich darauf doch wieder mit ebendieser PSI verbünden sollten? Wie die linksradikalen Strömungen in den Kommunistischen Parteien anderer Länder, sahen sie ihre Hauptaufgabe in der aktiven Bekämpfung der Sozialdemokratie. Immerhin hatte diese gezeigt, dass sie eine bürgerliche Kraft und ein Hindernis auf dem Weg der kommunistischen Revolution sei. Das war nicht ganz falsch, aber sehr einseitig.

Für Lenin und Trotzki war deutlich geworden, dass in der Phase nach den Fabrikbesetzungen in Italien im Herbst 1920 die erste revolutionäre Welle auf internationaler Stufenleiter abzuebben begann. Einerseits hatten die Kapitalisten ihre Kräfte geordnet und gingen zum Gegenangriff über, um die Errungenschaften rückgängig zu machen, die während der Offensive der Arbeiterklasse in allen Ländern erkämpft wurden. Andererseits, und eng damit verbunden, zeigte sich, dass die Sozialdemokraten und reformistischen Gewerkschaften bei bedeutenden Schichten der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern noch immer grosse Unterstützung genossen. Das traf auch auf Italien zu. Der Verrat der Reformisten im Jahre 1920 mochte für Bordiga, Gramsci und die Kommunisten offensichtlich sein, weit weniger jedoch für die grossen Teile der Arbeiterklasse.

Die Linksradikalen unter den Kommunisten unterschätzten die noch immer vorhandene Anziehungskraft der Sozialdemokratie und entsprechend mussten sie ihre eigenen Möglichkeiten überschätzen. Sie waren überzeugt, dass das Proletariat in einer revolutionären Periode wie dieser keine taktischen Rückzüge, sondern nur noch die permanente Offensive kennen darf. Basierend auf dieser «Offensivstrategie», wagte die damals linksradikal geführte Kommunistische Partei Deutschlands im März 1921 einen Aufstand in einer Phase, in der sich der deutsche Kapitalismus gerade zu stabilisieren begann. Der Aufstand scheiterte. Das Proletariat regte sich in seiner grossen Mehrheit nicht einmal. Diese bittere Niederlage war einer der Anstösse für eine taktische Neuorientierung der Kommunistischen Internationale auf dem III. Kongress der Komintern im Sommer 1921. Nur gegen den heftigen Widerstand einer linksradikalen Mehrheit setzten sich Lenin und Trotzki durch. Sie verurteilten die überhastete und permanente revolutionäre Offensive, die der spezifischen Situation und den Kräfteverhältnissen wenig Beachtung schenkte. Ihrer Ansicht nach musste die Revolution langfristiger vorbereitet werden. Eine siegreiche Revolution ist undenkbar, wenn die Massen nicht hinter den Kommunisten stehen. In Westeuropa mit seiner noch immer starken Sozialdemokratie konnte nicht die direkte Eroberung der Macht durch das Proletariat auf der Tagesordnung stehen. Vielmehr ging es darum, die Mehrheit der proletarischen Massen selbst zu «erobern». Die neue Parole lautete «zu den Massen!», die neue Taktik hiess «Einheitsfront der Arbeiter».

Die Einheitsfront bedeutete, dass die Kommunistischen Parteien in den täglichen Kämpfen der Arbeiter mit den reformistischen Organisationen, aber auch mit den anarchistischen und syndikalistischen Elementen der Arbeiterbewegung, punktuell zusammenspannen sollten. Damit sollte nicht die organisatorische und politische Unabhängigkeit der beteiligten Kräfte in Frage gestellt werden: «Getrennt marschieren, vereint schlagen!» lautet das Motto der Einheitsfront. Die Arbeiterklasse strebt nach Einheit, weil sie weiss, dass sie nur so siegen kann. Die Spaltung in verschiedene organisierte Strömungen musste den breiteren Arbeitermassen umso unverständlicher sein, als sie die Unterschiede zwischen ihnen nicht deutlich sahen. So lag der Taktik der Einheitsfront ein doppelter Gedanke zu Grunde: Einerseits sollte die Einheitsfront der Arbeiterklasse ermöglichen, sich mit geeinter und damit verstärkter Schlagkraft gegen die Offensive des Kapitals zu verteidigen und für unmittelbare Verbesserungen zu kämpfen; andererseits beabsichtigten die Kommunisten dadurch auch die Unterschiede zwischen den Organisationen klarzumachen, oder genauer: sie beabsichtigten die Massen in diesen gemeinsamen Kämpfen vom Bankrott ihrer eigenen reformistischen Führungen und von der Überlegenheit der revolutionären kommunistischen Politik zu überzeugen.

Man mag einwenden: «die Kommunisten wollen also den Einfluss des Reformismus in der Arbeiterbewegung zerstören… indem sie dem Reformismus die Einheit in der Aktion anbieten?!» Das scheint entweder ein unmöglich zu meisternder Spagat zu sein, weil zwei einander zuwiderlaufende Ziele verwirklicht werden sollen (Einheit mit und Zerstörung des Reformismus), oder ein verschwörerisches Manöver von Kommunisten, die die Einheitsfront gegenüber den Reformisten nur als Vorwand für ihr alleiniges Ziel brauchen, den Reformismus zu zerstören. In Wahrheit ist es weder noch und der Widerspruch löst sich, wenn wir die Dynamik des Klassenkampfes sowie das Wesen des Reformismus auf der einen und des Marxismus auf der anderen Seite verstehen.

Der Reformismus ist Reformismus, weil er nicht bereit ist, mit dem Kapital zu brechen. Nur deshalb muss er den Kompromiss mit der herrschenden Klasse suchen, der letztlich immer zur Unterordnung der Interessen der Arbeiter unter jene des Kapitals führt. So bremsen die reformistischen Führungen früher oder später immer die Kämpfe und die Bewusstseinsentwicklung der Arbeiterklasse aus. Es ist deshalb absolut richtig zu sagen, dass der reformistische Einfluss in der Arbeiterbewegung zerstört werden muss, wenn die Arbeiterklasse ihre Unterdrückung abwerfen können soll. Nun könnte man meinen, der Reformismus sei dem Marxismus wenigstens auf «seinem» Terrain, jenem der Reformen, überlegen. Doch auch im Kampf für unmittelbare Verbesserungen wird die zögerliche, inkonsequente Kompromiss-Haltung des Reformismus die Arbeiterklasse zurückhalten. Und dennoch haben Marxisten ein reales und vollkommen ehrliches Interesse an einer Einheit im aktiven Kampf für Verbesserungen, schliesslich vertreten sie keine Eigeninteressen, sondern stets nur die Interessen der Arbeiterklasse in ihrer allgemeinsten und konsequentesten Form.

Gerade weil die Marxisten eine wirkliche Einheit anstreben, geht es bei der Taktik der Einheitsfront nicht darum, mit unmöglichen Forderungen an die Führung einer reformistischen Organisation heranzutreten, sondern mit Forderungen, die für die Mitglieder an der Basis dieser Organisation als Notwendigkeit erkannt werden.

Falls die reformistische Führung mitmacht, dann wird die Arbeiterklasse in den Kampf gezogen und objektiv gestärkt. Passivität, Zersplitterung und das damit verbundene Gefühl der Ohnmacht der Arbeiter ist eine der wichtigsten Stützen des Reformismus. Doch im aktiven Kampf spüren die Massen ihre eigene Kraft, steigern ihr Selbstvertrauen und Klassenbewusstsein. Das treibt die Klasse vorwärts, die schnell über die ursprünglichen, moderateren Forderungen hinausgehen kann. Die objektive Stärkung der Arbeiterklasse ist also gleichzeitig die Stärkung der Revolutionäre gegenüber den Reformisten.

Falls die Führung der reformistischen Organisation das Angebot der Einheitsfront hingegen ablehnt oder an einem späteren Punkt einbricht, wenn die Massen sich zu bewegen beginnen, so wird sie als diejenige erkannt, die gegenüber dem Kapital einknickt, eine mögliche Einheit der Arbeiterklasse zerstört und nicht bereit ist zu kämpfen. Sie wird an politischer Autorität und Vertrauen in der eigenen Basis verlieren, während die Kommunisten als diejenigen erkannt werden, die den Kampf vereinen und vorwärts bringen wollen. In beiden Fällen wird die politische Autorität der Kommunisten unter den arbeitenden Massen durch die Einheitsfronttaktik gestärkt.

Die Tatsache, dass der grösste Teil der Arbeiterklasse noch Illusionen in die Reformierbarkeit des Kapitalismus hat, darf von klassenbewussten Revolutionären nicht einfach ignoriert werden. Eine kleine Gruppe von Revolutionären macht keine Revolution. Die Masse der Arbeiterklasse selbst muss in Bewegung kommen. Die reformistischen Illusionen werden nicht dadurch zerbrochen, dass die Kommunisten einfach an der Seite stehen, ihre eigenen Ideen hochhalten, gegen alle andern polemisieren und warten, bis die Massen endlich die Korrektheit ihrer Ideen erkennen. Eine solche sektiererische Haltung, die sich von den arbeitenden Massen und alltäglichen Kämpfen abtrennt, wird niemals fähig sein, die Arbeiterklasse hinter einem revolutionären Programm zu vereinen. Die Massen lernen aus ihrer Erfahrung, und genau hier setzt die Taktik der Einheitsfront an. In den alltäglichen Kämpfen um Reformen werden die breiten Arbeiterschichten durch ihre eigene Erfahrung lernen, dass die Reformisten in der Praxis nicht bereit sind, konsequent die Interessen der Arbeiterklasse zu verteidigen und stattdessen zu Kompromissen mit der herrschenden Klasse neigen. Die Reformisten entblössen sich in der Praxis selbst, wenn von ihnen nur ein konsequentes Einstehen für die Interessen der Arbeiter eingefordert wird.

Ablehnung der Einheitsfront

Die Einheitsfront wäre in Italien eine riesige Notwendigkeit gewesen, wo die Arbeiterklasse dem aufkommenden Faschismus nun gespaltenen gegenüberstand. Aber bei den italienischen Kommunisten, darunter zunächst auch bei Gramsci, stiess die Taktik der Einheitsfront auf taube Ohren. Die italienischen Delegierten machten bei den Diskussionen im Erweiterten Exekutivkomitee der Komintern im Februar 1922 deutlich, dass sie nicht einverstanden waren mit der Direktive der Arbeitereinheitsfront. Für sie kam eine Zusammenarbeit mit den Sozialisten nicht in Frage. Der sektiererische Linksradikalismus sah in dieser Taktik eine Rückkehr zum Opportunismus der Zweiten Internationale. In ihren Augen war es eine Anpassung der kommunistischen Ideen an den Reformismus.

In Wahrheit liegt die Essenz der politischen Methode des Marxismus in der dialektischen Überwindung des Opportunismus, der eine breite Einheit der Massen durch das Aufgeben des Standpunktes des revolutionären Proletariats zu erreichen sucht, und dessen Gegenstück, dem Sektierertum, das sich in der Hochhaltung eines abstrakten Revolutionarismus von den Massen isoliert. Die Komintern-Taktik der Arbeitereinheitsfront war nur die Anwendung der marxistischen Methode, die bis auf das Kommunistische Manifest zurückgeht, auf die spezifische Situation. Sie war das Eingeständnis der Kommunisten, dass die Mehrheit der Massen der Arbeiterklasse noch nicht hinter ihnen stand und daher für die revolutionären Ideen gewonnen werden mussten, damit die Machtergreifung auf dem Programm stehen konnte. Aber «vergesst nicht», mahnte Lenin, «dass es sich hierbei nur um einen guten Anlauf zum revolutionären Sprung handelt. Der Kampf um die Massen ist der Kampf um die Macht.»[27]

Ende März 1922 fand der 2. Parteitag der PCd’I in Rom statt. Die Thesen von Rom, die Bordiga und Terracini dem Parteitag vorlegten, waren durch und durch geprägt von der Ablehnung der Einheitsfronttaktik.[28] Nach der Spaltung von Livorno hätte einer Hauptaufgabe noch immer darin bestanden, Teile der Basis der PSI für die Komintern zu gewinnen. Die Rom-Thesen schlugen hingegen jenem wichtigen Teil in der Sozialistischen Partei die Tür vor der Nase zu, der sich auch nach der Spaltung von Livorno als Kommunisten und Mitglieder der Dritten Internationale sah. Trotzki und das Exekutivkomitee der Komintern antworteten mit einer ausführlichen Kritik auf die Rom-Thesen. Sie erklärten, die Rom-Thesen entsprächen der abenteuerlichen Offensivtheorie, die glaubte, unabhängig von der Situation und dem Rückhalt der Kommunisten unter den Massen von Machteroberung sprechen zu können. Sie ignorierten die Einsicht des III. Weltkongresses, dass die Hauptaufhabe der Komintern darin bestehe, einen entscheidenden Einfluss auf die Mehrheit der Arbeiterklasse zu gewinnen, indem sie die fortgeschrittensten Teile der Arbeiterklasse in den Kampf zieht. Das Exekutivkomitee der Komintern war der Meinung, dass die Kommunisten in Italien nicht nur die Einheitsfront mit den Sozialisten suchen müssten, sondern sie zur Bildung einer gemeinsamen Arbeiterregierung auffordern müssten:

«Indem sie ein Minimalprogrammes an Forderungen aufstellen, die durch die Arbeiterregierung umzusetzen sind, müssen sich die Kommunisten bereit erklären, mit der Sozialdemokratischen Partei einen Block zu bilden und sie zu unterstützen, soweit diese die Interessen der Arbeiterklasse verteidigt. Wenn die PSI akzeptiert, werden die Kämpfe beginnen, und sie werden vom parlamentarischen Terrain auf andere Ebenen getragen. […] Wenn die PSI unseren Vorschlag ablehnt, werden die Massen davon überzeugt, dass wir ihnen einen konkreten Weg aufgezeigt haben und die PSI nicht weiss, was sie tun soll.»[29]

Die Forderung der Arbeiterregierung, die Clara Zetkin die «Krönung der Taktik der Einheitsfront» nannte, bedeutete nicht die Machtergreifung und Bildung eines Arbeiterstaates (Diktatur des Proletariats), sondern die Bildung einer Regierung der Arbeiterparteien im bürgerlichen Staat. Es kann nicht erstaunen, dass Bordiga mit seiner prinzipiellen Verweigerung der Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie von dieser «Krönung» erst recht nicht angetan war. Die Thesen von Rom verwarfen die Forderung und da konnte auch die Komintern-Kritik die PCd’I nicht von ihrem Kurs abbringen.

Die Thesen wurden mit rund 90% der Voten angenommen. Gramsci hat auf dem Kongress nicht gegen Bordiga, sondern nur gegen die Parteirechte von Tasca und Graziadei gesprochen. Wie Bordiga akzeptierte er zwar die «ökonomische» Einheitsfront für die Gewerkschaften, sah hingegen keinen Grund, diese Einheitsfront auf den «politischen» Bereich und notabene auf die PSI auszuweiten. Die Unterschiede in seiner Methode und seinen Analysen zu Bordiga haben wir schon erwähnt. Dennoch hatte Gramsci in dieser Zeit keinen Versuch unternommen, auf die falschen politischen Positionen der Partei Einfluss zu nehmen. Obwohl er mit seinem Aufruf zur Unterstützung der Arditi im Sommer 1921 eine Position einnahm, die faktisch einer Einheitsfront entsprach, unterstützte er die linksradikale und sektiererische Linie von Bordigas Führung zumindest passiv. Seine Kritik an den Romthesen machte er erst rund zwei Jahre später in einer Serie von privaten Briefen deutlich.[30] Ein Grund dafür lag darin, dass er durch eine Kritik an Bordiga den rechten Parteiflügel um Tasca nicht stärken wollte. Aber ein anderer, vielleicht wichtigerer Grund war weniger taktischer Natur. Gramsci empfand für Bordiga immer grossen Respekt und aufrichtige Wertschätzung. Die bittere Erfahrung des sozialdemokratischen Verrats an der Turiner Rätebewegung drängte sicher auch Gramsci in Bordigas Richtung einer linksradikale Überreaktion. Dennoch ist schwer vorstellbar, wie der feine Dialektiker Gramsci mit Bordigas sektiererischer Herangehensweise völlig im Reinen hätte sein können. Doch Gramsci hatte nicht den Charakter eines Bordiga, er hatte nicht dessen Durchsetzungskraft und Entschiedenheit. Gramsci war analytischer, zurückhaltender und erwog seine Positionen länger, bis er sie mit Sicherheit verteidigte. Das kann eine Stärke sein, aber es war auch eine Schwäche. Der Keim von Differenzen mit Bordiga werden ihm nicht ausgereicht haben für eine standfeste Kritik an Bordiga, die doch so notwendig gewesen wäre.

Gramsci in Moskau: Übernahme der Komintern-Linie

Auf dem Parteitag von Rom wurde Gramsci zum Vertreter der italienischen Sektion beim Exekutivkomitee der Komintern in Moskau ernannt. In diesen zwei entscheidenden Jahren in Moskau wurde er von der Einheitsfront und der Notwendigkeit überzeugt, die PCd’I von ihrer sektiererischen Linie abzubringen.

Nachdem Gramsci am 26. Mai 1922 nach Moskau abreiste, erlitt die Arbeiterbewegung in Italien entscheidende Niederlagen. Die Angriffe auf ihre Organisationen und auf demokratische Zeitungen verschärften sich. Nach einer schweren Wirtschaftskrise und dem Sturz einer weiteren Regierung im Frühjahr 1922 intensivierten die Faschisten im Laufe des Jahres die Gewalt in den Strassen und die militärische Besetzung der Städte, völlig toleriert von Justiz und bürgerlicher Presse. Die politische Krise spitze sich zu. Mussolini hatte ein militärisches Kräfteverhältnis aufgebaut und drohte mit dem Aufstand. Beauftragt vom König, unterstützt vom Unternehmertum, bildete Mussolini eine rechte Koalitionsregierung. Mit dem Marsch auf Rom Ende Oktober 1922 bestätigten die Faschisten ihre Machtergreifung. Es war geschehen, was die die PCd’I-Führung als Möglichkeit immer ausgeschlossen hatten. Aber auch das hatte die Führung der PCd’I noch nicht von der Falschheit ihrer Position überzeugen können. Für sie handelte es sich um einen einfachen «Regierungswechsel» innerhalb der bürgerlichen Institutionen. Mussolini ging zwar nicht unmittelbar zum Aufbau eines faschistischen Staates über, der die bürgerliche Demokratie ganz ausschaltete und die Staatsmacht mit der Macht der faschistischen Partei gleichsetzte. Aber er erhielt fast unbeschränkte Machtbefugnisse, während die squadre als «Sicherheitspolizei» offizialisiert wurden und ihren Terror gegen die Arbeiterbewegung weiterführten. Der Faschismus an der Macht bedeutete aggressivste Wirtschaftspolitik für die Industrie und Banken, in engster Zusammenarbeit mit dem Unternehmerverband.

Kurz nach dem Marsch auf Rom, im November und Dezember, fand in Moskau der IV. Weltkongress der Komintern statt. Er muss als der letzte authentisch kommunistische Kongress bezeichnet werden, bevor die Degenerierung und Stalinisierung im Sowjetrussland auch die Internationale erfasste. Auf Gramsci hatte die Teilnahme an diesem Kongress einen prägenden Einfluss. Hier wurde Gramsci in verschiedenen Gesprächen von der Richtigkeit der Einheitsfront und der Linie der Komintern überzeugt. Das war durchaus kein einfaches Unterfangen. Trotzki erinnerte sich später, dass sie grossen Druck auf Gramsci ausüben mussten, damit dieser eine kämpferische Haltung gegen Bordiga einnehme.[31] Gramsci schwankte und verteidigte in Moskau zunächst Bordigas Ablehnung der Einheitsfront, auch wenn er das später verneinen würde.[32] Die Taktik der Einheitsfront, die auf dem vierten Kongress gefestigt und weiter ausgearbeitet wurde, und viele andere Einsichten auf diesem Kongress wurden später zu den wichtigsten Ansatzpunkten für seine Arbeiten im Gefängnis. Tatsächlich sind die Gefängnishefte unverständlich, wenn man diese Phase und mit ihren Diskussionen in der Komintern ausser Acht lässt.

In der Kominternführung wuchs die Ungeduld gegenüber der italienischen Führung um Bordiga mit ihrem sektiererischen Kurs. Sie erkannten, dass Gramsci wohl im Bann der Autorität Bordigas stand, jedoch nicht mit dessen Linie zufrieden war. Rakosi, den wir bereits erwähnt haben, machte Gramsci das unzweideutige Angebot, Amadeo Bordiga aus der Führung zu eliminieren, weil er nicht auf der Kominternlinie sei. Stattdessen sollte Gramsci an die Spitze der Partei gestellt werden. Aber Gramsci lehnte ab: «Ich sagte, ich würde mein Bestes tun, um der Internationalen Exekutive in der Lösung der italienischen Frage zu helfen, aber dass ich nicht glaubte, man könne Amadeo einfach ersetzen (und erst recht nicht mit meiner Person), ohne eine vorausgehende Arbeit, um die Partei neu auszurichten.»[33] Aber es wurde klar, dass Gramsci begann, gerade diese Notwendigkeit, die Partei neu auszurichten, immer deutlicher zu erkennen. Aus diesem Grund trat er wieder in Kontakt mit Mitgliedern seiner früheren Ordine-Nuovo Gruppe (Togliatti, Scoccimarro etc.).

In Italien wurden im Februar 1923 Bordiga und Grieco, Mitglieder des Exekutivkomitees der PCd’I, sowie eine Vielzahl lokaler kommunistischer Führungsfiguren, verhaftet. In Moskau blieb man im allgemeinen Unwissen über den Zustand der Organisation. In ihren spärlichen Briefen hat die Führung der PCd’I die Komintern nicht darüber informiert, bis zu welchem Punkt die Partei von den Faschisten zerschlagen wurde und noch über einen funktionsfähigen Apparat besass. Stattessen richtete Bordiga vom Gefängnis aus ein Manifest an seine kommunistischen Mitstreiter in Italien. Darin erklärte er die Linie der Komintern in Bezug auf die PSI für falsch. Sie würde es der Kommunistischen Partei Italiens verunmöglichen, ihre historische Aufgabe wahrzunehmen, die pseudo-revolutionäre PSI zu zerstören.[34] Die Spannung zwischen Bordigas PCd’I-Linie und der Kommunistischen Internationale hatte damit einen Höhepunkt erreicht. Gramsci war nicht einverstanden mit Bordiga. Er kritisierte, die Partei isoliere sich von den Massen. Seine Ausführungen zeigen, dass er den Sinn der Einheitsfront verstanden hatte und sie mit grosser Überzeugung verteidigte:

«Drei Jahre Erfahrung haben uns – nicht nur in Italien – gelehrt», erklärte er Togliatti, «wie tief verankert sozialdemokratische Traditionen sind und wie schwierig es ist, die Überreste der Vergangenheit durch einfache ideologische Polemik zu zerstören. Es braucht eine immense und zugleich minutiöse politische Aktion, die diese Tradition zerstören kann, Tag für Tag, indem sie den Organismus, der sie verkörpert, zerstört. Die Taktik der Internationalen ist für diesen Zweck angemessen.»[35]

Man dürfe nicht die gesamte sozialistische Bewegung en bloc in einen unüberwindbaren Gegensatz zur kommunistischen Partei stellen. Man müsse vielmehr unterscheiden zwischen der Führung der Sozialistischen Partei und ihrer Massenbasis. Gramsci hatte hier eine wichtige Lektion der marxistischen politischen Methode gelernt. Die reformistischen Führer sind kaum für revolutionäre Politik zu gewinnen, sie folgen ihrer eigenen Agenda und ihre Positionen sind mehr oder weniger gefestigt. Aber es wäre ein grosser Fehler, es wäre Sektierertum, wenn man die Arbeiter an der Basis und im weiteren Umfeld der reformistischen Organisationen einfach als unverbesserliche Reformisten den Kommunisten gegenüberstellen würde, nur weil sie ihre Illusionen in die Reformierbarkeit des Kapitalismus noch nicht aufgegeben hätten. Im Gegenteil, gerade sie müssen in einer gemeinsamen Aktion mit den Kommunisten vom Bankrott des Reformismus und von der Notwendigkeit eines revolutionären Bruchs mit der bestehenden Ordnung überzeugt werden.

Bei der Konferenz des EKKI im Juni 1923, an dem auch Gramsci teilnahm, wurde Bordigas Gefängnisaufenthalt ausgenützt und beschlossen, eine neue Führung der PCd’I einzusetzen. Bordiga und Grieco, die vier Monate später bereits wieder auf freiem Fuss standen, traten daraufhin aus Protest aus dem Zentralkomitee zurück. Gramsci seinerseits sollte ab Dezember nach Wien versetzt werden, um näher an der italienischen Sektion zu sein und den Aufbau der neuen Führung besser begleiten zu können. In dieser Zeit verschärfte auch er seine Kritik gegenüber Bordiga. Die Frage des Manifests, mit dem Bordiga vom Gefängnis aus gegen die Exekutive der Komintern schoss, war noch immer offen. Zu Beginn des Jahres 1924 erklärte Gramsci in einer Reihe von Briefen an seine unschlüssige neue Führungsgruppe, dass er – und er war der Einzige – nicht bereit sei, Bordigas Manifest zu unterzeichnen. Einerseits weil das Manifest de facto bedeutete, sich selbst ausserhalb der Internationale zu stellen und damit wohl einen Ausschluss nach sich gezogen hätte. Aber andererseits auch, weil Gramsci politisch nicht mit der Ablehnung der Einheitsfront einverstanden war: «Ich glaube absolut nicht, dass die Taktik, die beim Treffen des Erweiterten Exekutivkomitees und beim vierten Kongress entwickelt wurden, falsch ist. Weder in ihrem allgemeinen Ansatz noch in wesentlichen Details.»[36] So deklarierte Gramsci, er werde den Kampf innerhalb der Partei sowohl gegen Bordigas linken wie auch gegen Tascas rechten «Extremismus» aufnehmen, selbst wenn er dabei wahrscheinlich alleine bliebe.

Gramsci hatte die richtigen Ideen und nun auch die korrekte taktische Linie. Aber so falsch Bordigas Linksradikalismus war, so schwierig und undurchschaubar die Situation von Moskau aus, weil die Führung der PCd’I nicht informierte und den Eindruck erweckte, die Partei sei in der Auflösung begriffen, war die Ausschaltung von Bordigas Mehrheit in der Exekutive durch die Komintern doch ein autoritärer bürokratischer Akt, der nichts gemein hat mit den demokratischen Methoden einer gesunden kommunistischen Partei. Egal wie falsch die Linie, wie gross die gemachten Fehler, es hilft nichts, die Führungsfiguren einfach von oben zu ersetzen. Politische Konflikte können niemals mit organisatorischen Mitteln gelöst werden. Der neuen Führung wird die politische Autorität in der Basis fehlen, die notwendig ist, um eine funktionierende Partei aufzubauen. Keine Abkürzung kann daran vorbeiführen, sich diese durch geduldige Überzeugungsarbeit in demokratischen Diskussionen und der Praxis zu erarbeiten. Lenin und Trotzki waren sich dessen immer bewusst. Ihnen lagen solche bürokratischen Manöver fern. Und auch Gramsci hatte dies wenige Monate zuvor noch gewusst, als er Rakosis Angebot zur Ersetzung Bordigas dankend ausschlug. Aber bis zu welchem Punkt konnte die Kommunistische Internationale zu dieser Zeit überhaupt noch als eine «gesunde» Partei beschrieben werden?

2. STALINISMUS: ABSCHIED VON DER WELTREVOLUTION

In der beschriebenen Phase stand der internationale Kommunismus an einem Wendepunkt. Das, was in seiner späteren systematischen Ausprägung Stalinismus genannt werden sollte, begann langsam Form anzunehmen. Die bürgerliche Propaganda sucht die Erklärung für den Stalinismus in der Ideologie und dem Handeln der Bolschewiki. Dabei wird der Blick alleine auf Russland und die Sowjetunion gerückt. Aber der Stalinismus war nicht in erster Linie eine «russische» Erscheinung. Er ist ein Ergebnis des Scheiterns des Proletariats im Prozess der Weltrevolution und ist nur verständlich, wenn wir die Wechselwirkung zwischen den russischen und den internationalen Entwicklungen in den Fokus rücken. Im Folgenden werden wir sehen, wie die Degeneration der Sowjetunion bedingt wurde durch die Verzögerung der Revolution im Westen. Aber sie bewirkte ihrerseits wiederum die Degeneration der Komintern, die auch den politischen Niedergang der Kommunistischen Parteien ausserhalb Russlands nach sich zog und dort die Aussichten auf eine siegreiche Revolution nur weiter beeinträchtigte. Nur mit diesem Verständnis werden wir in der Lage sein, in einem nächsten Schritt die Entwicklungen der PCd’I unter der neuen Gramsci-Führung zu verstehen, die sich diesem Prozess nicht entziehen konnte.

Verschiedene Faktoren machten die zweite Hälfte des Jahres 1923 zu einem Wendepunkt in dieser Entwicklung. In Deutschland war im Herbst 1923 ein weiterer Versuch der revolutionären Erhebung gescheitert; in Russland ging das Widererstarken von kleinbürgerlichen und pro-kapitalistischen Elementen einher mit einer wachsenden Bürokratisierung von Staat und Partei; und als wäre das nicht schon genug lag Lenin nach mehreren Schlaganfällen im Sterben und es eröffnete sich in Russland ein Kampf um seine Nachfolge. Innerhalb der Kommunistischen Partei Russlands intensivierten sich die Flügelkämpfe. Leo Trotzki begann immer offener auf die Fehlentwicklungen hinzuweisen und bildete ab 1923 die Linke Opposition. Trotzki kritisierte die wachsende Bürokratisierung und damit die Untergrabung der Demokratie und wies darauf hin, dass die Wirtschaftspolitik der Kommunistischen Partei eine Kluft zwischen Stadt und Land provozierte, die im Begriff war, das Fundament der Revolution zu untergraben. Gegen ihn verbündeten sich Stalin, Sinowjew und Kamenew zum Triumvirat, das gemeinsam das Politbüro kontrollierte.

Greifen wir der Geschichte bis zu ihrem allgemein bekannten Punkt vor: Stalin ging siegreich aus dieser Konfrontation hervor. Die Bürokratie festigte ihre Macht. Die Demokratie und alle kritischen und oppositionellen Elemente wurden schrittweise vernichtet, sowohl im Sowjetstaat als auch in den Kommunistischen Parteien auf nationaler und internationaler Ebene. Das war, in Taten und nicht in Worten, der Abschied von der revolutionären Politik und vom Marxismus, das war der Abschied von der Weltrevolution.

Der Stalinismus wurde mit seinem überaus widersprüchlichen Charakter zum mitunter prägendsten Faktor der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Auf Grundlage des Gemeineigentums an Produktionsmittel hatte die Sowjetunion auch unter der diktatorischen Alleinherrschaft der stalinistischen Bürokratie soziale und ökonomische Fortschritte herbeigeführt, welche die Überlegenheit der Planwirtschaft gegenüber dem Kapitalismus bewiesen. Das musste schon damals aus proletarischer Sicht verteidigt werden und muss auch heute anerkannt werden. Aber entgegen der bürgerlichen Lügen ist der Stalinismus nicht die Weiterführung des Marxismus – noch des Leninismus. Die Tatsache, dass die gesamte alte Garde der Bolschewiki, die das russische Proletariat 1917 zum Sieg geführt hatte, in den «Säuberungen» der Moskauer Prozessen 1936-38 ausgeschaltet und umgebracht wurde, reicht als Beweis, dass der Stalinismus der Totengräber des Bolschewismus und des authentischen revolutionären Marxismus ist.

Lenin hatte an seinem Lebensabend die wachsende Bürokratisierung als Gefahr erkannt und kritisiert. Er prangerte auch Stalins Persönlichkeit an und wies in seinem «Testament» darauf hin, dass er dessen «Grobheit» als einen Mangel betrachte, der durchaus keine Kleinigkeit sei. So forderte er seine Genossen auf, «sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte, und jemand anderen an diese Stelle zu setzen»[37]. Aber er wusste auch, dass es wenig Abhilfe geschaffen hätte, Stalin nur zu ersetzen. Die Grundlage des aufkommenden Stalinismus war nicht Stalins Persönlichkeit. Hätte es Stalin nicht gegeben, wäre das Phänomen Stalinismus unter anderem Namen in die Geschichte eingegangen. Und umgekehrt verschärfte zwar Lenins Tod im Januar 1924 den Kampf um die Nachfolge, spitzte die innerparteilichen Konflikte zu und beschleunigte dessen Ausgang. Doch war es sicherlich nicht der entscheidende Faktor, der den Aufstieg des Stalinismus ermöglicht hätte. Lenins Witwe Krupskaja gab sich schon zwei Jahre nach Lenins Tod überzeugt, dieser «sässe bestimmt schon im Gefängnis», würde er noch leben.[38]

Aufstieg der Bürokratie und der «Sozialismus in einem Land»

Die Bolschewiki wussten genau, das kann nicht oft genug wiederholt werden, dass die Revolution in Russland von der Ausbreitung auf den Westen abhing. Im rückständigen Russland waren die objektiven Bedingungen für den Aufbau des Sozialismus nicht vorhanden. Insbesondere die Revolution in Deutschland hätte es Sowjetrussland ermöglicht, Technologie und Fachkräfte zu importieren, um zu den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern aufzuschliessen und die Bedingungen zum Aufbau des Sozialismus zu schaffen.

Jede Niederlage der Bourgeoisie ausserhalb Russlands, jeder Sieg des Proletariats, hätte im Sowjetrussland die Perspektive der arbeitenden Klasse auf den Sozialismus verbessert und ihre Lage gestärkt. Das wiederum hätte die Erfolgsaussichten der Revolution in den übrigen Ländern vergrössert: Jede Erhebung und jeder Sieg der Arbeiterklasse haben einen ansteckenden und elektrifizierenden Effekt auf den Klassenkampf der übrigen Länder. Die Komintern sollte diesen Prozess beschleunigen, in dem sie die Kommunisten in den verschiedenen Ländern schnellstmöglich in die Lage bringen sollte, das Proletariat zum Sieg zu führen. Aber die gleiche Dialektik der Weltrevolution kann sich auch verkehren. Was sich gegenseitig bestärken sollte, beginnt sich gegenseitig zu behindern und zu blockieren.

Die Revolution war in Deutschland 1918/19 in noch tragischerer Weise am Verrat der sozialdemokratischen Führung gescheitert als in Italien 1919/20. In den anderen Ländern des Westens sah es nicht besser aus. Die Isolation der Russischen Revolution hatte katastrophale Auswirkungen auf den jungen Arbeiterstaat. Zu Ende des gewonnenen Bürgerkrieges war das Land am Boden. Die Verzögerung der Revolution im Westen zwang die Bolschewiki bald zu unliebsamen Kompromissen. Im März 1921 setzten sich Lenin und Trotzki auf dem 10. Parteikongress durch mit der Neuen Ökonomischen Politik (NEP), um die schlimmsten Missverhältnisse zu korrigieren. Die NEP beinhaltete die Wiedereinführung einiger marktwirtschaftlicher Elemente auf dem Land. Sie war ein Zugeständnis an eine Bauernschaft, die sich auf Grundlage ihrer eigenen Klasseninteressen von der Revolution zu entfernen begann. Unter den Bedingungen der Isolation des rückständigen Landes war das ein unausweichlicher Schritt. Aber er hatte seinen Preis. Die Öffnung der Landwirtschaft für privatwirtschaftliche Elemente führte zum Erstarken der Kulaken, der reichen Bauern, und der sogenannten NEP-Männer, die Vorzüge aus dem liberalisierten Handel zogen. Die sozialen Gegensätze vergrösserten sich und mit ihnen die Macht einer privilegierten bürokratischen Schicht, die auf diese NEP-Männer und kleinbürgerlichen Schichten stützte.

Letztlich war das Erstarken der Bürokratie das Resultat der kulturellen und ökonomischen Rückständigkeit Russlands, die durch die Isolation nicht überwunden werden konnte. Die ökonomische Rückständigkeit, die tiefe Produktivität, ermöglichte Russland nicht den Überfluss, der die notwendige Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus ist:

«Grundlage des bürokratischen Kommandos», erklärt Trotzki, «ist die Armut der Gesellschaft an Konsumgütern mit dem daraus entstehenden Kampf aller gegen alle. Wenn genug Waren im Lande sind, können die Käufer kommen, wann sie wollen. Wenn die Waren knapp sind, müssen die Käufer Schlange stehen. Wenn die Schlange sehr lang wird, muss ein Polizist für Ordnung sorgen. Das ist der Ausgangspunkt für die Macht der Sowjetbürokratie.»[39]

An den Schalthebeln der Verteilung zu stehen, ist auch der Ausgangspunkt für die materiellen Privilegien der Sowjetbürokratie: «Wer Güter verteilt, ist noch nie zu kurz gekommen».[40]

Das tiefe kulturelle Niveau in einem Land, in dem die grosse Mehrheit der arbeitenden Klassen weder lesen noch schreiben konnte, zwang den Arbeiterstaat, in der Verwaltung auf Funktionäre des alten Zarenstaates und auf Kleinbürger zurückzugreifen. Diese anti-sozialistischen Elemente begannen umso mehr an Selbstvertrauen zu gewinnen, wie die arbeitenden Massen müde und desillusioniert waren von den zehrenden Jahren des Bürgerkrieges, des Hungers und der Niederlagen des internationalen Proletariats. Das ist die soziale Grundlage, auf der sich eine bürokratische Schicht in Partei und Staat emporschwang und immer stärkere Eigeninteresse entwickelte. Wachstum der Bürokratie ist in jedem Fall gleichbedeutend mit Erstickung der Demokratie. In der Sowjetunion verkörperte sie den Druck der stärker werdenden kleinbürgerlichen Schichten in der Gesellschaft und im Apparat gegen das Proletariat, das auf Grund der kulturellen Rückständigkeit, der Desillusionierung und den Härten des Alltagslebens aus der aktiven politischen Teilhabe zurückgedrängt wurde.

Im Verlauf des gesamten Jahres 1923 forderten Trotzki und die linke Opposition, diesen Entwicklungen mit verschiedenen Massnahmen entgegenzuhalten, selbst wenn entscheidende Abhilfe nur in der Ausbreitung der Revolution zu finden war. So war es Trotzki zufolge notwendig, einerseits das kulturelle Niveau der Arbeiterklasse zu heben und andererseits eine geplante Industrialisierung voranzutreiben. Das hätte nicht nur das Missverhältnis zwischen den industriellen Produkten für das Land und Agrarprodukten für die Städte korrigieren sollen. Es hätte durch eine Proletarisierung auch eine Veränderung der sozialen Struktur mit sich gebracht, die die proletarischen Kräfte gegenüber den kleinbürgerlichen gestärkt hätte. Das wiederum hätte der Demokratisierung und dem Kampf gegen die Bürokratie eine materielle Grundlage geben können, indem die Massen zu neuem Leben erweckt geworden wären und die Möglichkeit erhielten, selbst stärker in die Planung und Lenkung von Staat und Gesellschaft einzugreifen.

Es ist essenziell, zu verstehen, dass die Flügelkämpfe, die sich im Innern der Partei zu entwickeln begannen, keine Frage der Persönlichkeiten waren. Sie waren Ausdruck des Konfliktes zwischen immer weiter auseinanderklaffenden gesellschaftlichen Kräften: Stalin war eine zweitklassige Figur in der Generation der Oktoberrevolution, aber er verkörperte die Mentalität des Apparats, der sich auch auf die kleinbürgerlichen Schichten stützte. Sein Machtzuwachs entsprach der Erstarkung des Apparats, während Trotzkis Niederlagen den Niederlagen des internationalen Proletariats entsprachen, dessen Standpunkt er weiterhin konsequent vertrat.

Das erneute Scheitern der Revolution in Deutschland im Herbst 1923 wirkte sich entscheidend auf diese Entwicklungen aus. Im Januar besetzten französische Truppen das Ruhrgebiet, um von Deutschland Reparationszahlungen für den Ersten Weltkrieg zu erzwingen. Gleichzeitig wurde das Land in ein wirtschaftliches Desaster mit Hyperinflation getaucht, das soziale Proteste und Hungerrevolten nach sich zog. Plötzlich stand die deutsche Bourgeoisie noch näher am Abgrund als in den Jahren 1918/19. Das eröffnete eine revolutionäre Periode der Massenmobilisierung. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) erhielt regen Zulauf von den Massen, die sich von den Sozialdemokraten abwandten. Doch im entscheidenden Moment versagte die kommunistische Führung. Erneut. In der Märzaktion 1921 war sie den Verhältnissen vorausgeeilt und griff zur Macht, als die Massen nicht bereit waren. Nun, im Oktober 1923, beging sie den umgekehrten Fehler: Die Massen waren bereit und warteten auf die Direktive, aber die Führung blieb hinter ihnen zurück. Fast kampflos setzte sich die Reichswehr gegen die Arbeiterbewegung durch. Brandler von der Parteileitung der KPD wurde von der Komintern-Führung um Sinowjew und Stalin zum alleinschuldigen Sündenbock erkoren. Die beiden verschwiegen, dass sie selbst es waren, die zögerten und die deutschen Kommunisten ausgebremst hatten. Sie waren der Überzeugung, ein Aufstand sei ohnehin aussichtslos.

Die Niederlage in Deutschland war eine Katastrophe für die internationale Arbeiterklasse. Sie setzte der revolutionären Phase zwischen den Jahren 1917 und 1923 ein Ende, führte zur relativen Stabilisierung des deutschen und internationalen Kapitalismus. Die kurzfristige Aussicht auf die proletarische Revolution war begraben, die Isolation der Sowjetunion weiter gefestigt. Aber ein Rückschlag für die internationale Arbeiterklasse und die Kräfte der Weltrevolution, hiess im Umkehrschluss die Festigung der Sowjetbürokratie, die sich auf der Grundlage der Isolation und dem daraus folgenden Wachstum der sozialen Gegensätze herausgebildet hatte.

Während Trotzki die Bürokratie und die Linie der Parteiführung vehement kritisierte, wurden er und seine oppositionellen Mitstreiter nach der Niederlage in Deutschland ab Dezember 1923 zur Zielscheibe härtester Attacken durch das Triumvirat. Stalin und Sinowjew etablierten einen regelrechten Kult des «Leninismus». Dieser hatte nichts mit Lenin und dessen Methoden zu tun. Ihr Leninismus war das Mittel, das fast grenzenlose Ansehen des verstorbenen Revolutionsführers auszunützen und mit Verleumdungskampagnen alle Elemente als «anti-leninistisch» zu diffamieren, die noch selbst zu denken wagten. So ging der «Leninismus» einher mit seinem gleichermassen von Sinowjew und Stalin ins Leben gerufenen Gegensatz: dem «Trotzkismus». Mit diesem Begriff wurde alles als «kleinbürgerliche Abweichung» vom Leninismus gebrandmarkt, was den Kurs der Führung kritisierte. Im Vorfeld des Parteikongresses vom Mai 1924 wurde mit bürokratischen Methoden erfolgreich dafür gesorgt, dass kaum oppositionelle Delegierten auf dem Kongress waren. Dort attackierte Sinowjew, der wenig später selbst schon in der Opposition zu Stalin stand, Trotzki in härtester Weise, forderte seinen Ausschluss und gar seine Verhaftung. Die linke Opposition erlitt die erste erhebliche Niederlage. Das war nur der Beginn der progressiven Ausschaltung der Opposition. 1925 wurde Trotzki von seiner Position an der Spitze der roten Armee abgesetzt, 1926 aus dem Politbüro ausgeschlossen, 1927 zusammen mit der Opposition aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, 1928 innerhalb der Sowjetunion abgeschoben und 1929 in die Türkei verbannt, 1940 von einem stalinistischen Agenten im mexikanischen Exil ermordet.

Die bürokratische Ausschaltung der Opposition ging einher mit den lügengetränkten Angriffen auf Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution. Stalin erklärte im Herbst 1924 erstmals, gestützt auf eine These Bucharins, man könne den Sozialismus auch in einem Land aufbauen. Und das obendrein noch in einem so rückständigen wie Russland! Diese «Theorie des Sozialismus in einem Land» steht in unvereinbarem Gegensatz zur gesamten marxistischen Theorie. Aber von einer wirklichen Theorie konnte ohnehin nicht die Rede sein. Mit der Begründung, dass der Kapitalismus sich stabilisierte und die Revolution im Westen damit in eine ungewisse Zukunft rücke, legitimierten sie nur ihren Abschied von der Weltrevolution.

Das widerspiegelte den Willen der Sowjetbürokratie, sich von den lästigen revolutionären Verpflichtungen loszusagen. Die gesamte sowjetische Aussenpolitik hatte zuvor auf die Weltrevolution abgezielt, selbst da, wo Kompromisse mit kapitalistischen Regierungen geschlossen werden mussten. Nun wurde die Koexistenz der Sowjetunion mit den kapitalistischen Staaten mehr und mehr zum Ziel der sowjetischen Aussenpolitik. Die Bürokratie konnte sich nur an der Macht halten, wenn die bestehenden Kräfteverhältnisse auch international aufrechterhalten blieben. Eine proletarische Revolution, die der Arbeiterklasse in Russland neue Lebenskraft gegeben hätte, war zu einer Gefahr für eine Sowjetbürokratie geworden, die ihre autoritäre Macht auf die Passivität und die Schwäche der Arbeiterklasse gründete.

«Bolschewisierung» der Komintern

Die Ausschaltung der linken Opposition und der Abschied von der Weltrevolution in Russland wurden begleitet von einem entsprechenden Prozess in der Kommunistischen Internationale. Die Komintern wurde von der kommunistischen Weltpartei zum wichtigsten Werkzeug der sowjetischen Aussenpolitik umgebaut, einzig geleitet von den Interessen der Sowjetbürokratie.

Bereits ab dem Herbst 1923 begann Sinowjew als Präsident der Komintern, unliebsame Führungen in verschiedenen Sektionen mit rein organisatorischen Mitteln einfach von oben her zu eliminieren und durch loyalere zu ersetzen. Genosse John Peterson von den Kommunisten in den USA erklärt diese desaströsen Methoden, die man als «Sinowjewismus» verallgemeinern kann:

«Sinowjewismus ist, wenn man nach künstlichen Abkürzungen zur Lösung politischer oder organisatorischer Probleme sucht, indem man administrative Massnahmen ergreift, anstatt geduldig zu erklären. Es ist, wenn man Drohungen, Einschüchterungen, Suspendierungen und Ausschlüsse einsetzt, um blinden politischen Gehorsam und Unterordnung zu erzwingen. Es ist, wenn persönliches Prestige und Loyalität gegenüber einem Individuum oder einer Clique Vorrang vor politischen und organisatorischen Prinzipien erhalten. Es ist, wenn von oben ‘im Namen’ dieses oder jenes Gremiums Befehle erteilt werden, als ob dies automatisch Autorität geben würde. Kurz gesagt: Sinowjewismus ist, wenn man politische Differenzen mit Hilfe organisatorischer Methoden angeht. Als solcher ist er dem echten Bolschewismus diametral entgegengesetzt – das genaue Gegenteil davon, wie Lenin und Trotzki die Komintern überhaupt aufgebaut hatten.»[41]

Im Juni und Juli 1924 fand der V. Weltkongress der Komintern statt. Es war der erste Weltkongress nach Lenins Tod und auch der erste, der nicht mehr in der gesunden revolutionären und demokratisch-zentralistischen Tradition der ersten vier Kongresse stand. Sinowjew schuf sich hier eine völlig moskauhörige und unkritische Komintern. Das war noch nicht ein stalinistischer Kongress. Diese Bedeutung sollte erst dem VI. Weltkongress im Jahre 1928 zukommen, der die Degeneration der Komintern auf eine qualitativ neue Stufe hob und den Stalinismus konsolidierte.[42] Der V. Kongress führte in verschiedenen Punkten noch die Traditionen der beiden vorherigen Kongresse weiter. Aber zweifellos bereiteten dieser Kongress und die sinowjewistischen Methoden dem Stalinismus in der Komintern den Boden. Hier wurde die sogenannte Bolschewisierung der kommunistischen Parteien lanciert. Die Thesen zur Bolschewisierung forderten die Sektionen auf, die sozialdemokratischen Überbleibsel der Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen und die kommunistischen Parteien auf die solide Basis der bolschewistischen Methoden und Ideen zu stellen.

Das wäre tatsächlich eine Notwendigkeit gewesen und in den Thesen finden sich einige Punkte, die die wertvollen Lektionen der beiden vorherigen Weltkongresse wiederholten. Aber hinter dem wohlklingenden Begriff versteckte sich der davon ganz verschiedene wirkliche Inhalt der Kampagne: Die Eliminierung des «Trotzkismus» und des «Luxemburgismus» sowie aller anderen linken wie rechten «Abweichungen» vom «Leninismus», lies: von der Linie der Moskauer Bürokratie. Ihrerseits wurde die Kommunistische Partei der Sowjetunion zur einzig wirklich bolschewistischen Partei erklärt, zur Hüterin der revolutionären Bewegungen aller Länder. Alle Sektionen mussten auf die Linie der Führung der russischen Sektion gebracht werden, waren dieser untergeordnet und hatten sich der Verteidigung des «einzigen sozialistischen Landes» zu verschreiben. Die Komintern müsse «monolithisch» sein, hiess es: Fraktionen und ideologische Abweichungen konnten nicht toleriert werden. Loyalität und Disziplin gegenüber der Komintern wurden zu heiligen Prinzipien, der «Marxismus-Leninismus» zu einem System von dogmatischen Schemen und abgedroschenen Phrasen.

Im Namen der Bolschewisierung wurden unliebsame Führungen von verschiedenen Sektionen ausgeschaltet, insbesondere auch jene in Frankreich, Deutschland und Polen, die in den Flügelkämpfen mit Trotzki sympathisiert hatten. Die Kommunistischen Parteien wurden «gesäubert», die parteiinterne Demokratie wich bürokratisch-autoritären Kommandos. Man darf sich von diesen Etiketten nicht täuschen lassen. Die «Bolschewisierung» lief den Ideen und Methoden des Bolschewismus ebenso diametral zuwider wie der «Marxismus-Leninismus» der Theorie und Praxis von Marx und Lenin.

Rekapitulieren wir: Die internationalen Niederlagen und das Ausbleiben der Weltrevolution hatten in Russland zum Aufstieg einer bürokratischen Schicht und zur Untergrabung der Demokratie geführt. Aber mit der Unterordnung der Komintern unter die Interessen dieser Bürokratie wurden umgekehrt auch die internationalen proletarischen Kräfte immer stärker untergraben. Die Sowjetbürokratie begann bald zu einer aktiven Bremse der Weltrevolution zu werden und das internationale Proletariat in verheerende Niederlagen zu führen, die einzig ihre eigene Position stärkten. Es war Trotzki, der das in seinem Meisterwerk Verratene Revolution in aller Klarheit benannte:

«Die Sowjetbürokratie wurde umso selbstsicherer, je heftigere Schläge die Weltarbeiterklasse trafen. Zwischen diesen Tatsachen besteht nicht nur ein chronologischer, sondern auch ein ursächlicher Zusammenhang, und zwar in beiderlei Richtung: Die Bürokratie trug durch ihre Führung zu den Niederlagen bei, und die Niederlagen erleichterten den Aufstieg der Bürokratie.»[43]

Nach der Niederlage in Deutschland fand die «menschewistische» Etappen-Politik, gegen die die Bolschewiki gekämpft hatten, Eingang in die ach so «bolschewisierte» Komintern. Während der Chinesischen Revolution 1925-27 unterstützte die Komintern die bürgerlich-nationalistische Kuomintang, die 1926 sogar als sympathisierende Partei in die Komintern aufgenommen wurde. Die Kommunistische Partei sollte sich der Kuomintang unterordnen. Als die kommunistischen Arbeiter im März 1926 Shanghai erobert hatten, forderte Stalin sie – mit der ganzen Autorität, die er im Namen der Komintern genoss – auf, die Macht der Kuomintang und deren General Tschaing Kaischek zu übergeben, der prompt zum blutigen Massaker an zehntausenden Kommunisten überging. Die stalinistische Politik der Sabotage an der Weltrevolution wurde immer wie bewusster, je grösser ihr Interesse wurde, das Kräfteverhältnis in den internationalen Beziehungen nicht zu verändern und je mehr sie ihre eigene Macht der Bürokratie durch proletarische Revolutionen bedroht sah. Die Liste der Beispiele dieser verbrecherischen Politik ist lang und soll hier nicht weiter aufgeführt werden.

Das Ausbleiben und Scheitern der proletarischen Revolutionen hatte dramatische Konsequenzen für die Menschheit. Wenn es in einigen Ländern in den Aufstieg und Sieg des Faschismus führte, so hat der Aufstieg des Stalinismus und dessen Terror seinen Grund in der gleichen Ursache:

«Letzten Endes verdankt der Sowjetbonapartismus [Stalinismus] seine Entstehung der Verspätung der Weltrevolution. Dieselbe Ursache aber erzeugte in den kapitalistischen Ländern den Faschismus. Wir gelangen zu einer auf den ersten Blick überraschenden, doch in Wirklichkeit unabweisbaren Schlussfolgerung. Die Erstickung der Sowjetdemokratie durch die allmächtige Bürokratie geht auf ein und dieselbe Ursache zurück wie die Zerschlagung der bürgerlichen Demokratie durch den Faschismus: die Verspätung des Weltproletariats bei der Lösung der ihm von der Geschichte gestellten Aufgabe. Stalinismus und Faschismus stellen trotz der tiefen Verschiedenheit ihrer sozialen Grundlage symmetrische Erscheinungen dar. In vielen Zügen sind sie einander erschreckend ähnlich.»[44]

Diese Einsicht in die historische Dialektik birgt die ernüchternde Erkenntnis, dass die Verantwortung für Faschismus wie für Stalinismus auch auf den Schultern der Arbeiterklasse und insbesondere ihrer Führungen lastete; sie birgt allerdings auch die ermächtigende Erkenntnis, dass der Ball nicht in erster Linie bei der herrschenden Klasse, sondern in unserem eigenen Feld lag. Das ist auch heute nicht anders. Antonio Gramsci hatte zurecht darauf hingewiesen, dass der Sieg des Faschismus in Italien 1922 nicht als Sieg des Faschismus über die Revolution gesehen werden dürfe, der auf dessen eigener Kraft beruhte. Er war vielmehr «das Resultat der Niederlage, die die revolutionären Kräfte durch ihre eigene intrinsische Schwäche erlitten».[45] Diese intrinsische Schwäche beruhte nicht etwa auf dem Unwillen oder der fehlenden Radikalität der proletarischen Massen, wie die reformistischen Spiessbürger zu behaupten pflegen. Nein, sie gründete in der Unfähigkeit oder dem offenen Verrat der Führungen der eigenen Bewegung.

Der Opportunismus der Sozialdemokratie würde im Leben nie auf die Idee kommen, er habe irgendetwas mit dem Aufstieg von Faschismus oder Stalinismus zu tun. Aber beide sind die Resultate einer längeren Kette von Fehlern und Verrat im Klassenkampf und den vielen revolutionären Möglichkeiten, die sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg geboten hätten. Wir sollten nicht davor zurückschrecken, die Hauptverantwortlichen für den Faschismus so klar zu benennen.

Eine falsche Einschätzung der Situation führt zu einer falschen Politik und es ist eine Illusion, zu glauben, politische Fehler und Niederlagen bedeuteten lediglich, dass die Situation sich nicht verbessert. Sie werfen die eigenen Kräfte zurück und vermindern die Stärke, mit der man in die nächsten Schlachten tritt. Der Unwille oder die Unfähigkeit, die eigenen Fehler zu begreifen und zu korrigieren, ist der sichere Weg in eine Negativspirale, in der es mit jedem Schritt schwieriger wird, bedeutende Siege zu erringen.

Heute dominieret in der Linken, nicht zuletzt bei selbsternannten «Gramscianern», die Vorstellung eines ideologischen Pluralismus. Alle Ideen seien gleichermassen korrekt und müssten akzeptiert werden. Man könne wohl davon überzeugt sein, die eigenen politischen Ansichten seien den Zielen der Linken förderlicher, aber doch trügen alle etwas zur Verbesserung der Welt bei – und überhaupt, wer soll schon beurteilen, was richtig und was falsch ist? Aber was richtig und was falsch ist, zeigt sich in der Praxis und von vergangener Praxis gilt es zu lernen.  Dieser «Pluralismus in der Linken» hilft uns nicht weiter. Der Kampf der Arbeiterklasse gegen das Kapital ist auch der Kampf gegen die Ideen innerhalb der Arbeiterbewegung, die ein Hindernis für die Befreiung der Arbeiterklasse sind. Es ist der Kampf um die richtige Führung der Arbeiterklasse mit der richtigen Strategie. Genau das war nicht nur der theoretische und praktische Kampf von Marx, Engels, Lenin, Trotzki oder Luxemburg. Es war auch jener von Gramsci und bildet den Kern des vielleicht wichtigsten Aspekts seiner späteren Auffassung der Hegemonie.

3. GRAMSCIS ZWIESPÄLTIGE BOLSCHEWISIERUNG DER PCD’I (1924-26)

Die Zeit, in der Gramsci an der Spitze der PCd’I stand, fällt zusammen mit der Periode der Bolschewisierung der Kommunistischen Parteien. In Italien hatte diese Bolschewisierung einen widersprüchlichen Charakter, der nicht dadurch zu verstehen wäre, dass man die allgemeine Entwicklung der Komintern unvermittelt auf das italienische Beispiel projizierte. Unter Gramscis Führung wurde die PCd’I im guten wie im schlechten Sinne des Wortes bolschewisiert: Im Gefolge des wirklichen Lenin wurde die Kinderkrankheit des Linksradikalismus überwunden, die Wichtigkeit der Kaderbildung und der konkreten Analyse der Situationen für die taktische Herangehensweise wurden in den Mittelpunkt gerückt. Aber im Gefolge Sinowjews gelang der Sieg über Bordigas Linke nicht alleine auf politischem Weg. Organisatorische Abkürzungen, bürokratische Manöver und anti-trotzkistische Verleumdungskampagnen waren auch in der Bolschewisierungs-Kampagne der Gramsci-Führung zentral.

Gramscis neue Führung der PCd’I

Ab Ende 1923 bereitete Gramsci von Wien aus den Aufbau einer neuen Führungsgruppe auf seiner Linie sowie den Kampf gegen Bordigas linken und Tascas rechten Flügel vor. Die Partei war weitgehend desorganisiert. Nach dem ersten systematischen Schlag der Faschisten gegen die Kommunistische Partei, hatte die PCd’I im April 1923 kaum mehr als 5’000 aktive Mitglieder – gegenüber rund 60’000 bei der Gründung in Livorno 1921. Bis im November 1923 waren es immerhin wieder 8613.[46] Die Partei war zwar noch nicht verboten, musste aber grösstenteils im Untergrund reorganisiert werden, um sich bestmöglich der faschistischen Verfolgung zu entziehen.

Unter Gramsci wurde die neue politische Linie schnell deutlich. In Vorbereitung der Parlamentswahlen im April 1924 beabsichtigte das neue Exekutivkomitee die Bildung einer Arbeitereinheitsfront, um der faschistischen Diktatur eine Regierung der Arbeiter und Bauern entgegenzusetzen.[47] Sie schlugen den proletarischen Parteien eine gemeinsame Liste der proletarischen Einheit vor, für die die Wahlen nur der Auftakt sein sollten. Die Kommunisten knüpften die programmatische Vereinbarung an die Bedingung, dass ein Bündnis mit Gruppen anderer Klassen ausgeschlossen und anerkennt werde, dass «das Problem der Widerherstellung einer Situation auch nur relativer Demokratie in Italien das Problem des Sturzes des faschistischen Staates ist.»[48] Die Reformisten um Turati und Matteotti (sie waren 1922 von den Maximalisten aus der PSI ausgeschlossen worden und organisierten sich seither in der PSU) schlugen das Bündnis schnell aus. Die Maximalisten der PSI wankten einmal mehr, traten aber auch nicht auf den Vorschlag ein. Einerseits glaubten sie weiterhin, der Faschismus sei keine Klassendiktatur, sondern eine persönliche Diktatur Mussolinis, andererseits fanden sie es übertrieben, den Reformisten vorzuschreiben, keine Allianz mit bürgerlichen Kräften zu machen! Immerhin, die Einheitsfronttaktik der Kommunisten hatte den durchaus beabsichtigten Effekt die Terzini näher an sich zu ziehen, jene Fraktion in der PSI, die sich an der Dritten Internationale orientierte. Am 12. Februar lancierte Gramsci eine neue Tageszeitung, die mit den Terziniherausgegeben wurde und deren Fusion mit der PCd’I vorbereiten sollten. Sinnbildlich für die Abkehr vom sektiererischen Kurs gab er der Zeitung den Namen L’Unità, die Einheit. Mit ihrer gemeinsamen Liste (Unità proletaria) hatten die PCd’I und die Terzini durchaus Erfolg. Die Reformisten und Maximalisten hatten noch immer eine grössere Massenunterstützung als die Kommunisten. Aber von allen proletarischen Parteien hatten die Kommunisten gegenüber den Wahlen 1921, die noch unter ganz anderen Umständen stattfanden, am wenigsten verloren.[49]

Gramsci wurde in Veneto ins Parlament gewählt. Unter der parlamentarischen Immunität wagte er sich zurück nach Italien. Im gleichen Monat konnte er das ZK von der Ablehnung des Bordiga-Manifests überzeugen und wusste in besagtem Gremium nun eine hauchdünne Mehrheit auf seiner Seite. Nur wenige Tage nach seiner Rückkehr fand in der Nähe von Como eine Parteikonferenz statt. Den repressiven Umständen entsprechend musste sie geheim abgehalten werden. Für Gramsci war es der Generaltest, der die neue Führung und ihre Linie sanktionieren sollte. Aber in Como zeigte sich in aller Klarheit, dass er ausserhalb des ZK, aus dem sich die Parteilinke ohnehin selbst zurückgezogen hatte, überhaupt keinen Rückhalt in der Partei genoss. Bordiga hingegen war mit seinen Ideen offensichtlich auch ohne Präsenz in den Führungsgremien noch immer sehr stark verankert. Die Resolution der Linken stand ganz in der Kontinuität der Thesen von Rom und ihrer Ablehnung der Einheitsfront. Zählt man die ZK-Mitglieder nicht mit, so vereinigten die Thesen der Linken zehnmal so viele Stimmen auf sich wie jene von Gramscis Zentrum!Sogar die Resolution von Tascas Rechten erhielt zwei Stimmen mehr als diejenige von Gramscis Gruppe.[50] Für die an der Konferenz teilnehmenden mittleren und oberen regionalen Kader war kaum ersichtlich, worin die Differenzen zwischen diesem scheinbar aus dem Nichts aufgetauchten «Zentrum» und der «Linken» Bordigas liegen sollten. Für sie blieb Bordiga, und nicht etwa das ZK, die politische Autorität; ein schlagender Beweis für die Unbrauchbarkeit der sinowjew’schen Methoden des bürokratischen Austauschens der Führungen.

Gramscis Argumentation in Como gegenüber den Bordigisten war schwach. Er hatte es nicht geschafft, aufzuzeigen, dass die Ablehnung der Einheitsfront ein schwerwiegender politischer Fehler war. Die Parteilinke wurde ganz einfach dazu aufgefordert, sich loyal der Taktik der Komintern unterzuordnen und ihrer Pflicht nachzukommen, in der Führung der Partei mit der ZK-Mehrheit zusammenzuarbeiten. In Como war es auch, wo Gramsci im Klima der anti-trotzkistischen Hetze erstmals Bordigas Haltung mit jener von Trotzki verglich. Beide hätten mit ihrer «passiven Opposition» einen Zustand des «Unbehagen» in der Partei provoziert, was aufzeige, dass «Opposition von aussergewöhnlichen Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung – selbst wenn sie innerhalb der Grenzen der formalen Disziplin bleibt – nicht nur die Entwicklung einer revolutionären Situation behindern, sondern auch die Errungenschaften der Revolution selbst in Gefahr bringen kann.»[51] Also lieber keine Opposition und sich mit blindem Gehorsam der Führung fügen, das war die gar nicht so versteckte Botschaft.

Ihre klare Niederlage in Como bewegte Gramsci und seine Gruppe denn auch nicht dazu, ihren Führungsanspruch zu überdenken. Das sind jene schädlichen Methoden, die wir weiter oben als Sinowjewismus benannt haben. Der demokratische Zentralismus, die wirkliche bolschewistische Organisationsform, basiert darauf, dass die Mitglieder der Organisation mit maximaler Freiheit in der Diskussion demokratisch ihre Position beschliessen, diese dann aber auch als Einheit geschlossen nach aussen vertreten und in die Praxis umsetzen. Wer in der Minderheit blieb trägt die gefassten Positionen voll mit. Das setzt aber voraus, dass erstens die gesamte Organisation die gleichen Ziele teilt und zweitens die Positionen in einer fairen Auseinandersetzung zustande gekommen sind. Wie hingegen sollte die aktive Basis einer Partei die Linie «ihrer» Führung umsetzen, wenn sie diese weder teilt noch überhaupt als legitime Linie ihrer Partei erkennt? Gramsci war jedoch überzeugt, dass er die Basis der Partei bald auf seiner Seite haben wird. Schliesslich entsprach seine Linie der Einheitsfront, im Kontext der faschistischen Repression, dem Streben der Arbeiter nach Einheit der Klasse.

Ohnehin verweigerte Bordiga ja die Mitarbeit, auf die Gramsci eigentlich noch immer zählte. Im Juni-Juli, auf dem V. Weltkongress, an dem Gramsci nicht teilnahm, hatte sich Bordiga als einer der wenigen gegen die Bolschewisierung gestellt. Hier, in der Führung der Komintern in Moskau und nicht etwa in einem demokratischen Prozess in der italienischen Sektion, wurde die Zusammensetzung des neuen ZKs der PCd’I beschlossen. Bordigas Parteilinke fand darin keinen Platz mehr. Es ist dieses ZK, Produkt der sinowjewistischen Methoden, das Gramsci im August 1924 zum Generalsekretär der PCd’I ernannte – just in einem Moment, in dem der italienische Faschismus plötzlich in seiner tiefsten Krise stand.

Die Matteotti-Krise

Durch ihre Wirtschaftspolitik im Dienst des Kapitals und ihre Repression der Arbeiterbewegung hatten die Faschisten immer mehr Unterstützung der Bourgeoisie erhalten. Aber das war nicht der einzige Grund, weshalb die Faschisten die Wahlen im April 1924 mit einer deutlichen Mehrheit von 66.9% gewonnen hatten. Mit einem neuen Wahlgesetz und einer Einschüchterungskampagne hatten sie ihrem demokratischen Glück nachgeholfen.[52] Gleich nach den Wahlen hielt der PSU-Abgeordnete Giacomo Matteotti, ein sehr gemässigter Reformist, der den Liberalen deutlich näher stand als den Kommunisten, eine mutige Rede im Parlament. Er verurteilte die faschistische Gewalt, Wahlbetrug und die Einschüchterung und forderte, die Wahlen für ungültig zu erklären. Kurz darauf, am 10. Juni 1924, war Matteotti verschwunden. Mussolini war in Erklärungsnot. Die Gerüchte, dass Matteotti gekidnappt und von Mussolinis squadre ermordet wurde (und die sich zwei Monate später als wahr erwiesen), stürzten die Faschisten in eine tiefe Legitimitätskrise. Die Emotionen der breitesten Teile der Bevölkerung kochten. Für die Opposition, darunter die Kommunisten, öffnete sich ein Handlungsfenster. Gramsci forderte, direkt in die Offensive zu gehen. Er wies die Kommunistische Presse an, für den Fall der Regierung und die Auflösung der faschistischen Milizen zu agitieren, die Massen zum Kampf zu ermutigen und sich an die Spitze der Bewegung zu stellen.

Vier Tage nach dem Verschwinden von Matteotti hatten die nicht-faschistischen bürgerlichen Parteien aus Protest das Parlament verlassen. Auch die Kommunisten und die reformistischen Sozialisten der PSI und PSU schlossen sich den Republikanern, christdemokratischen Popolari, liberalen Demokraten an. In einer symbolischen Aktion traf sich diese demokratische Opposition auf dem Hügel des Aventin in Rom. Gramscis Ziel war es, den Massen, die noch «demokratische» Illusionen hegten und noch daran glaubten, dass die Krise ohne proletarische Revolution gelöste werden könnte, aufzuzeigen, dass die anderen Aventin-Parteien völlig passiv waren und tatsächlich nichts für den Sturz des Faschismus tun würden, der nur durch eine Aktion des Proletariats herbeigeführt werden könne. Mit der Losung «Nieder die Regierung der Mörder!» forderte er auf dem Aventin die Ausrufung eines Generalstreiks, der die faschistische Regierung zu Fall bringen sollte. Der Vorschlag der Kommunisten wurde von der demokratischen Opposition zurückgewiesen. Sie alle, auch die Reformisten der PSU und die Maximalisten der PSI, waren nicht bereit, über den konstitutionellen Rahmen hinauszugehen. Einmal mehr appellierten sie an den König und die Justiz, die Regierung Mussolini abzusetzen. Einmal mehr waren König und Justiz nicht bereit, einen Finger für eine solche Intervention zu krümmen. Dieses skandalöse Verhalten der Aventin-Opposition war nicht in erster Linie ihrer Naivität geschuldet. Es war vor allem Resultat der Tatsache, dass die «demokratischen» bürgerlichen Oppositionsparteien unter keinen Umständen die Massen mobilisieren wollten.[53] Sie hatten deutlich mehr Angst vor einer Arbeiterklasse in Bewegung als vor der faschistischen Regierung. Das Gespenst der revolutionären Welle 1919-1920 war noch allzu präsent in ihren Köpfen. So bremsten sie jede Initiative.

Auch die CGL-Führung mahnte die Organisationen und Massen zur Ruhe. Auch die CGL war vom Faschismus und vom Rückgang der Arbeiterbewegung stark geschwächt. Sie hatte noch um die 100’000 Mitglieder. Aber sie wäre die einzige mit der Macht gewesen einen Generalstreik auf breiter Basis durchzuführen. Während die PCd’I, in vollem Wissen über ihre fehlende Kraft, selbst einen Generalstreik ausrief, konnte sich die CGL-Führung gerade mal dazu durchringen, eine Arbeitsniederlegung von 10 Minuten zu organisieren! Eine Massnahme so lächerlich symbolisch und kraftlos, dass selbst die faschistischen Gewerkschaften mitmachten![54] Die Angst der Aventin-Opposition und der reformistischen Gewerkschaften vor den Massen paralysierte die gesamte Opposition und stürzte sie über Monate in die Inaktion. Das verhinderte, nach zwei Jahren Faschismus an der Macht, die Massen aus ihrem Zustand der Desillusionierung und Passivität, herauszureissen. Ohne Zweifel ist es diese Haltung, die Mussolinis Regime rettete.

Alleine die PCd’I hatte das richtige Verständnis, dass nur eine Bewegung auf Klassenbasis, dass nur der Kampf der Arbeiter und Bauern den Faschismus stürzen könne. Mit ihrem umfangreichen Aktivismus während dieser Periode konnten sich die Kommunisten in einigen Schichten als die einzige Kraft präsentieren, die tatsächlich gewillt war, diesen Kampf aufzunehmen. Das führte zu einem schnellen und erheblichen Mitgliederwachstum. Im Herbst 1924 hatte die PCd’I rund 25’000 Mitglieder.[55] Auch die Leserschaft der Parteizeitung L’Unità wurde in diesen Monaten verdoppelt und erreichte während der Matteotti-Krise sogar eine maximale Auflage von 60-70’000 Exemplaren.[56] Aber die Partei war zu schwach in diese Situation getreten, um die arbeitenden Klassen alleine, ohne die anderen Arbeiterparteien und Gewerkschaften, in den Kampf führen zu können. Ihr fehlte die Verankerung in der Klasse. Das Erbe der linksradikalen Kindheit der Partei wog schwer.

Dazu kommt, dass die PCd’I in dieser hitzigen Phase selbst nicht die beste Figur machte. Das lag auch daran, dass die sektiererischen Gefühle der Bordiga-Anhänger in der Partei durch das skandalöse Verweigerungshaltung der PSI und PSU zusätzlichen Auftrieb erhielten. Aber es lag auch an der Linie sowohl von Seiten der Gramsci-Führung wie von Seiten der Komintern-Führung. Nachdem die Aventin-Parteien nicht auf die Forderung des Generalstreiks eingetreten waren, hatten die Kommunisten den Aventin wieder verlassen. Stattdessen appellierten sie von aussen an die Oppositionsparteien, den Aventin in ein «Gegenparlament» zu verwandeln und forderten eine «Arbeiter und Bauernregierung». Der korrekten Forderung einer Arbeiter- und Bauernregierung folgte allerdings kein konkreter Aufruf an die PSI und PSU, für die Bildung einer solchen gemeinsamen Regierung zu kämpfen. Es blieb eine leere Formel, die sie zusammen mit jener des «Gegenparlaments» an den gesamten Aventin richteten – die bürgerlichen Parteien inbegriffen.

Die Arbeitereinheitsfront, wie sie von Lenin und Trotzki auf dem III. und IV. Weltkongress verteidigt wurde, hatte niemals bürgerliche Parteien eingeschlossen. Schliesslich geht es um die Schaffung der Einheit der Klasse in der Aktion. Es ist wichtig, dass wir uns in Erinnerung halten, dass die Einheitsfront nicht als blosses Manöver zur Entlarvung des Opportunismus der Sozialdemokraten konzipiert war. Beides – die Notwendigkeit der Einheit der Klasse in der Aktion und die Zerstörung des Einflusses opportunistischer Führungen auf die Klasse – geht Hand in Hand. Wenn sich die Führungen anderer Arbeiterorganisationen vor ihrer eigenen Basis delegitimieren sollen, dann tun sie das auch, ja dann tun sie das insbesondere, wenn sie einer ernstgemeinten und realisierbaren Forderung nach Einheit der Klasse nicht nachkommen.

Dass die PCd’I-Führung ihren Appell an alle Oppositionsparteien richtete, hatte ihren Beweggrund nicht in einer opportunistischen Anpassung oder Illusionen in die bürgerlichen Parteien, wie man zunächst vermuten könnte. Es hatte seinen Beweggrund umgekehrt darin, dass die Kommunisten dazu tendierten, die Einheitsfront vor allem als Manöver zur Entlarvung der Feigheit der Opposition aufzufassen.[57] Und da in dieser Feigheit tatsächlich kein Unterschied zwischen den Führungen der reformistischen Arbeiterparteien und den bürgerlichen Parteien bestand, konnten sie sich unterschiedslos an alle richten. In der Konsequenz ist der Beweggrund egal, einerlei werden die Klassenlinien verschleiert, statt geschärft. Diese schwammige Anwendung der Taktik der Einheitsfront entsprach ganz der linksradikalen Schlagseite, die Sinowjew der Bedeutung der Einheitsfront auf dem V. Weltkongress der Komintern gab und die sicherlich keinen positiven Effekt auf den Versuch zur Überwindung der sektiererischen Vergangenheit der PCd’I hatte.

Bordigas Linke kritisierte richtig, dass es ein Fehler war, Vorschläge an die bürgerlichen Parteien zu richten und mit der Forderung eines Gegenparlaments bei den Massen die Illusion eines parlamentarischen Gegenstaates zum traditionellen Staatsapparat zu schüren.[58] Natürlich hätte Bordiga selbst keine bessere Alternative anzubieten gehabt. Auf dem V. Weltkongress der Komintern, der gleichzeitig stattfand, polterte er weiterhin, dass Mussolinis Sieg in Italien keine Veränderung im Programm der Bourgeoisie darstellen würde. Als Antwort auf die Matteotti-Krise forderte er, die Kommunistische Partei müsste «den Slogan der Auflösung aller antifaschistischen Oppositionen annehmen und sie durch eine offene und direkte Aktion der kommunistischen Bewegung ersetzen.»[59] Und mit dieser sektiererischen Herangehensweise hätten die Massen gewonnen werden sollen, die sich noch Illusionen in die bürgerliche Demokratie machten? Wohl kaum. Bordigas Linksradikalismus war schon lange keine «Kinderkrankheit» mehr, nur noch pure Realitätsverweigerung, unverbesserlicher Dogmatismus.

Die Krise des Faschismus dauerte noch das gesamte restliche Jahr 1924 an und wurde Ende Jahr durch weitere Enthüllungen zur Verantwortung der Faschisten bei der politischen Gewalt befeuert.[60] Aber mit der völligen Verweigerung der demokratischen Opposition, die Empörung der Massen zu kanalisieren und gegen das faschistische Regime zu mobilisieren, schwang das politische Momentum von der Opposition wieder auf den Faschismus zurück. Mussolinis Doppelzüngigkeit fand ein Ende. Am 3. Januar 1925 erklärte er, dass er ganz alleine die «politische, moralische und historische Verantwortung» übernehme, für alles, was vorgefallen sei: «Wenn der Faschismus eine Verbrecherbande ist, so bin ich eben der Anführer!». Das war der Startschuss zum Aufbau des totalitären faschistischen Staates. Mussolini sicherte seine Herrschaft, wurde nun zum «Duce», zum Führer. In kürzester Zeit verschärfte sich die Repression. Alle anderen Organisationen sollten zerschlagen werden. In nur drei Tagen wurden 95 politisch «verdächtige» Organisationen verboten, über hundert Organisationen per Dekret aufgelöst, 655 Hausdurchsuchungen durchgeführt und über 100 «subversive» Personen verhaftet.[61] Die Faschisten regierten nun per Dekret, es herrschte ein Klima der politischen Verfolgung.

Der Lyon-Kongress und die Ausschaltung der Linken

Die faschistische Repression zwang die Kommunistischen Partei von Italien, ihren dritten Parteitag jenseits der Alpen im französischen Lyon abzuhalten. Im Herbst 1925 verfasste Gramsci zusammen mit Togliatti die Thesen, die im kommenden Januar auf dem Parteitag verabschiedet werden sollte. Bordiga, der die Thesen des Zentrums nicht akzeptieren konnte, stellte im Namen der Linken seine eigenen Thesen zur Abstimmung.

Die Thesen von Lyon von Gramsci und Togliatti stellten die Arbeit der PCd’I auf ein ganz neues Fundament. Erstmals lieferten sie der Partei eine konkrete, historisch fundierte Analyse der gesellschaftlichen Struktur Italiens, die sie bis auf die Einigung Italiens 1870 und die unvollständige italienische Staatsbildung zurückverfolgten. Sie analysierten die Grundlage der Herrschaft der Bourgeoisie und den Charakter des Faschismus, um zu einer Analyse der Klassenverhältnisse zu kommen. Das sollte der Partei eine Taktik ermöglichen, die die Schwächen der herrschenden Klassen und des instabilen Faschismus ausnutzte, indem sie unter bürgerlichem Einfluss stehende mögliche verbündete unterdrückte Klassen identifizierte. Sie brachten die Partei nun erstmals durch ein offizielles Kongressdokument auf die korrekte Linie der Einheitsfront. Zwar blieben gewisse Vagheiten unter dem sinowjewistischen Einfluss der Komintern, die wir bereits in der Phase der Matteotti-Krise gesehen hatten.[62] Aber die Thesen bedeuteten einen deutlichen Fortschritt in der Entwicklung der PCd’I. Sie rückten die Partei so nahe an authentisch leninistische Positionen und Methoden heran wie nie zuvor oder danach. Auf einige der besten Elemente der Thesen werden wir weiter unten noch eingehen.

Gramsci hatte richtig erkannt, dass «demokratische» Forderungen zur Wiederherstellung der demokratischen Rechte und Freiheiten in dieser Situation eine zentrale Rolle spielten. Im Gegensatz zum Linksradikalismus folgte er der Logik der demokratischen «Übergangsforderungen» aus der frühen Komintern. Mit solchen Forderungen sollten jene Schichten der Massen erreicht werden, die noch Illusionen in den bürgerlichen Staat hatten, um auf diese Weise eine Brücke zu spannen zu den eigentlichen Losungen der Kommunistischen Partei. Ziel war es, eine breitere anti-faschistische oder anti-monarchistische Mobilisierung der Massen anzuspornen, die unter den Umständen des Faschismus erstmals demokratischen Charakter hatte, dann jedoch in eine sozialistische Richtung weitergetrieben würde. Aber in der Frage, wie das in die Praxis übersetzt werden sollte, blieb die Sache widersprüchlich.

Die Thesen stellten die richtige Forderung einer Arbeiter- und Bauernregierung auf. Gleichzeitig stellten die Thesen aber auch die Losung einer Republikanischen Versammlung auf der Grundlage von Arbeiter- und Bauernkomitees auf.[63] Eine «Republikanische Versammlung» konnte nur eine Institution des bürgerlichen Staates meinen (genauso wie 1924 das «Gegenparlament»), während die «Arbeiter- und Bauernkomitees» nur ein anderer Name für die Sowjets waren. Mit anderen Worten: Organe der Arbeiterklasse und der armen Bauern, die gerade deren Organisationsformen des Kampfes gegen den bürgerlichen Staat darstellen und zur Basis des Arbeiterstaates werden sollten. Die Republikanische Versammlung, die höchste Form des bürgerlichen Staates, auf Grundlage der Organe des Arbeiterstaates errichten zu wollen, bedeutete das unmögliche Unterfangen, die Staatsformen von zwei unversöhnlich einander entgegengesetzte Klassen unter einen Deckel zu bringen.[64]

Dennoch ist bemerkenswert, dass Gramsci weder in den Linksradikalismus noch in das menschewistische, reformistische Etappendenken zurückfiel, das die Komintern unter Stalin und Bucharin nun zu dominieren begann. Demokratische Forderungen aufzustellen bedeutete für ihn nicht, bei der Wiederherstellung der bürgerlichen Demokratie erstmal halt zu machen und die sozialistische Revolution auf später zu verschieben. Gramsci war sich vielmehr bewusst, dass die demokratischen Freiheiten und Rechte ohnehin nur von einem kämpferischen Proletariat zurückerkämpft werden konnten, das in Mobilisierung die Kraft entwickeln würden, die Macht zu ergreifen.

Die Thesen von Gramsci und Togliatti erhielten in Lyon die Zustimmung von 90.8 Prozent der Delegierten. Die restlichen Stimmen fielen auf die Thesen von Amadeo Bordiga. Damit wurde die Linie des Zentrums konsolidiert und setzte sich endgültig gegen die Parteilinke durch. In Gramscis Augen war es der Sieg seiner korrekten Linie und die Überwindung der linksradikalen Kindheit der PCd’I unter Bordiga. Das ist nicht falsch. Aber der Lyon-Kongress zeigt auch, dass Gramscis Bolschewisierung der PCd’I durchaus noch eine andere Seite hatte, eine Seite, die überhaupt nicht im echten Sinne «leninistisch» war: Der Sieg des Zentrums kam nicht allein durch eine politische Überzeugungsleistung zu stande. Er war auch das Resultat einer bürokratischen Sabotage und der Methoden der degenerierten Komintern.

Das Exekutivkomitee hatte schon im Vorfeld des Kongresses dafür gesorgt, dass die Delegierten in Lyon dem Zentrum eine Mehrheit sichern würden. Das Reglement zur Wahl der Delegierten schrieb vor, dass alle Stimmen von denjenigen Genossen, die nicht an den lokalen und regionalen Kongressen teilnehmen konnten, dem Zentrum zufallen würden, sofern sie ihr Votum für die Linken Thesen nicht brieflich kundgetan hatten.[65] Natürlich musste unter den Bedingungen der faschistischen Repression die Zahl derjenigen, die an der Teilnahme verhindert wurden, ganz beträchtlich sein. Auf diese Weise hätten die Thesen von Gramsci und Togliatti selbst bei einer klaren Ablehnung in der Basis der Partei noch eine Mehrheit in Lyon erhalten. Wenig erstaunlich haben die Vertreter der Linken diese Regeln auf allen Kongressen als illegal verurteilt. Auch anderthalb Jahre nach der Niederlage in Como schien sich Gramscis Zentrum seines politischen Sieges und Rückhalts in der Parteibasis also nicht genug sicher, um die Basis in demokratischen Diskussionen von der Korrektheit ihrer Ideen zu überzeugen.

Bordigas Kritik an der Bolschewisierung, sowohl der PCd’I als der Komintern, war in dieser Hinsicht richtig. In den Jahren 1924-1926, als Gramsci an der Spitze der Partei stand, hat die Führung eine autoritäre und unsaubere Kampagne zur Ausschaltung der Linken unternommen. Bordiga war auch in dieser Zeit noch in wichtigen Sektionen der Partei die unbestrittene politische Autorität. Am 22. März 1925 organisierte die Linke in Mailand eine Rede von Bordiga, bei der dieser von rund 3’000 Kommunisten stürmisch empfangen wurde.[66] Die nationale Parteiführung reagierte mit der Absetzung der Mailander Führung und des Gebietssekretärs Fortichiari.[67] Als Antwort auf diesen autoritären Akt schlossen sich verschiedene Vertreter der Linken, die von ihren regionalen Führungsposten eliminiert  wurden, in einem «Verständigungsausschuss» zusammen. Dieses Comitato d’Intesa stellte Forderungen zur Vorbereitung des Parteikongresses von Lyon.[68] Das Comitato war die Reaktion auf das Vorgehen der Parteiführung. Aber für die Parteiführung wurde es zum Anstoss für eine aggressive Pressekampagne gegen die Parteilinke, die als spalterisch und fraktionalistisch dargestellt wurde, die Disziplin nicht respektiere und die Einheit der Partei bedrohe. Das italienische Zentralkomitee stützte sich auf Sinowjews und Bucharins Propaganda, um Bordiga und die Linke in den Dreck zu ziehen. Dagegen erhielt die Linke kaum Platz in der Parteizeitung, um ihre Positionen zu verteidigen.[69] Im Juli 1925 wurde das Comitato auf Befehl der Internationale aufgelöst. Bordiga seinerseits wurde in Neapel aus der Führung entfernt, unter dem albernen Argument, dieser könne auf Grund der starken Überwachung durch die Polizei seine Verantwortung nicht wahrnehmen. Zwei Monate vor dem Kongress in Lyon wurde die neapolitanische Sektion aufgelöst und neu organisiert.[70]

Es wäre falsch zu glauben, dass Gramsci, der weniger bekannt ist für undemokratische Methoden als der spätere Musterstalinist Togliatti, in der Kampagne der Parteiführung zur Ausschaltung der Linken «nur» Mitläufer gewesen wäre. Im Januar 1926, in der Politischen Kommission zur Vorbereitung des Lyon Kongresses, hatte Gramsci gegen den Protest des neapolitanischen Genossen über die Art und Weise, wie die Kampagne gegen die Linke geführt wurde, erklärt, dass die «Kampagne völlig gerechtfertigt» gewesen sei. Er selbst sei es gewesen, der die Bildung einer Fraktion in dieser Situation verurteilte und noch immer verurteile, weil dies der Polizei die Möglichkeit eröffne, revolutionäre Parteien zu zerstören, indem «künstlich» Opposition in der Partei geschürt würde.[71] Aber an dieser Opposition war gar nichts «künstlich», das waren wirkliche politische Differenzen, die seit Jahren in der Partei bestanden.

Es ist offensichtlich, dass eine solche Kampagne und ein solches undemokratisches Klima in der Organisation auf die vielen nach der Matteotti-Krise neugewonnenen Mitglieder und auf die Basis einen unglaublich desillusionierenden Effekt haben mussten. Eine gesunde demokratisch-zentralistische Organisation funktioniert nur mit einem lebendigen Körper von Mitgliedern, die in politischen Diskussionen von den besten Ideen überzeugt werden. Nur so werden sie sich als aktiven Teil der Organisation verstehen und bereit sein, Beschlüsse auch umzusetzen und nach aussen zu tragen. Vor diesem Hintergrund ist es fraglich, was wohl den nachhaltigen Parteiaufbau mehr behinderte: Bordigas Parteiauffassung und seine sektiererischen Methoden, die Gramsci zufolge in die politische Passivität drängten, oder das Zerfetzen der Partei von oben.

Gramsci und Togliatti erklärten in den Lyon-Thesen, der Linksradikalismus müsse bekämpft werden, «wenn nötig mit organisatorischen Massnahmen».[72] Und die Existenz von Fraktionen sei «gegen die Essenz der proletarischen Partei».[73] In Wahrheit war die gesamte Geschichte des Bolschewismus eine Geschichte von Fraktionskämpfen: «Freiheit der Kritik und Ideenkampf bilden den unverrückbaren Inhalt der Parteidemokratie» schrieb Trotzki in Verratene Revolution.[74] Das erklärte Bordiga in seiner Verurteilung der Kampagne gegen die Linke so gut wie Trotzki: Die Frage des Fraktionalismus könne nicht organisatorisch und disziplinarisch gelöst werden, sondern nur politisch.[75] In den Thesen der Linken heisst es ganz richtig, dass es eine Illusion sei, die Bildung von Fraktionen mit der Methode der autoritären Repression zu bekämpfen:

«Einer der negativen Aspekte der sogenannten Bolschewisierung besteht darin, die vollständige und bewusste politische Ausarbeitung innerhalb der Partei, die einem effektiven Fortschritt in Richtung auf den kompaktesten Zentralismus entspricht, durch eine äusserliche und donnernde Agitation der mechanischen Formeln der Einheit um der Einheit willen und der Disziplin um der Disziplin willen zu ersetzen.»[76]

Eine Partei wird nur in der Einheit wirkliche Schlagkraft entfalten können. Aber wenn Differenzen aufkommen, müssen sie politisch gelöst werden. Man kann Differenzen nicht organisatorisch, Kraft der formellen Autorität, lösen. Solche Methoden sind immer ein Ausdruck der eigenen Schwäche oder der Ungeduld. Sie sind die Suche nach einer scheinbaren Abkürzung. Der einzige Weg zur Lösung von Differenzen besteht darin, geduldig mit politischen Argumenten eine Mehrheit von der Richtigkeit der eigenen Position zu überzeugen.

Niemand kann bestreiten, dass eine Organisation, die sich aufgrund der Repression durch den Faschismus im Untergrund organisieren muss, nicht das gleich blühende demokratische Innenleben haben kann wie eine Organisation, die sich in politischer Freiheit bewegt. Niemand kann bestreiten, dass der Kampf gegen den Faschismus Einheit erfordert. Aber auch unter schwierigsten Bedingungen, auch wenn die Zeit noch so drängt, führt nichts am geduldigen Aufbau der Partei durch politische Überzeugungsarbeit vorbei! Die scheinbar verlockende organisatorische Abkürzung wird sich als Weg ins Dickicht und Dornen herausstellen, auf dem es bald keinen Schritt mehr vorwärts gibt. Die Einheit der Partei wird nicht gestärkt, sondern auf die Dauer zerstört werden. Die Partei wird nicht geeinter, wenn ihre Mitglieder nicht überzeugt wurden. Das Innenleben der Partei wird absterben, wenn für alle an der Basis ersichtlich wird, dass ihre Beteiligung ohnehin nicht zählt. Direktiven von oben, deren einzige Legitimität offenbar darin bestehen soll, dass sie von oben kommen, werden nicht zur gemeinsamen Aktion inspirieren, sondern die Moral der Partei schwächen. In einer revolutionären Partei, wo die Teilnahme freiwillig ist und auf eigener Überzeugung basiert, kann Disziplin nicht als blinder Gehorsam von oben aufgezwungen werden, sie kann nur Resultat der wirklichen Überzeugung sein.

Gramscis Bericht nach dem Lyon Kongress ist vielleicht das traurigste Zeugnis der dunklen Seiten seiner Bolschewisierung der PCd’I. Der Bericht ist nicht nur eine Beschönigung des vergangenen Kongresses, er ist ein Zeugnis des zunehmend vergifteten Klimas im internationalen Kommunismus. Er fordert auf zum blinden Gehorsam und erklärt die Notwendigkeit, «mit unerbittlicher Strenge gegen jegliche Initiative vorzugehen, die praktisch die Autorität des Parteitags und die Wirksamkeit seiner Beschlüsse in Zweifel ziehen sollte».[77]

Die Methoden in und vor Lyon waren Sinowjews bürokratisch-autoritären Methoden, politische Differenzen durch organisatorische Massnahmen zu lösen. Es waren die Methoden, die im Namen einer vermeintlichen «Bolschewisierung» in der Komintern direkt dem Aufstieg des Stalinismus den Boden bereiteten. Hätte Gramsci in anderem Kontext anders agiert? Es ist zu vermuten. Gramscis Aktionen zur Bolschewisierung widersprechen seiner grossen Wertschätzung der Organisationsdemokratie, seiner Auffassung, dass Einheit nur in der Reibung der gemeinsamen Diskussion entstehen kann, die den Geist der Ordine Nuovo ebenso auszeichnen wie jenen der späteren Gefängnishefte. Aber das schafft die Fehler dieser Periode nicht aus dem Raum.

Die Kritik von Bordiga und seiner Linken in Bezug auf die organisatorischen Methoden der nationalen und internationalen Führung war vollkommen gerechtfertigt, so falsch seine politische Linie auch gewesen sein mag. Bordiga hatte sich früh gegen die Methoden der Bolschewisierung ausgesprochen und seine Solidarität mit Trotzki bekundet. Bordigas Thesen von Lyon sprachen gar schon von der «revolutionären Notwendigkeit», gegen den «latenten Opportunismus» der Komintern eine internationale Opposition zu bilden, sollte die ungünstige Entwicklung weiter andauern.

Aber vergessen wir nicht, dass Bordiga bereits in der Linie der Komintern auf dem III. und IV. Weltkongress eine opportunistische Abweichung sah. Es ist kein Zufall, dass zwischen Bordiga und Trotzki niemals eine stabile Allianz zustande kam, trotzt ihrer gleichermassen klaren Opposition zu dem, was Stalinismus werden sollte. Zwischen dem sektiererischen Dogmatismus Bordigas und Trotzkis revolutionärem Marxismus standen Welten. Bordigas Linksradikalismus in der PCd’I musste überwunden werden. Er wurde es – mit den falschen Methoden.

4. DER MARXISMUS DER THESEN VON LYON: HEGEMONIE, KLASSE, PARTEI

Werfen wir einen Blick zurück. Nach der gescheiterten Revolution 1919-20 war die Kommunistische Partei von Italien seit ihrer Gründung in Livorno im Januar 1921 dominiert von Linksradikalismus und Sektierertum. Ihre Ablehnung der Einheitsfront, zusammen mit dem schändlichen Defätismus der Reformisten und Maximalisten, paralysierte den Widerstand der Arbeiterklasse und der Bauernschaft gegen einen Faschismus, dessen Sieg in der Periode nach dem Bienno Rosso durchaus noch nicht gesichert war. Mit der Abkehr von dieser linksradikalen Linie zog Gramsci die richtigen Schlussfolgerungen. Aber er hatte sich zu spät von Bordiga gelöst und war in der Partei in einer schwachen Position. In einem Klima in der Komintern, in dem bürokratische Methoden und Verleumdungskampagnen zur Durchsetzung von politischen Positionen die Überhand über demokratische Auseinandersetzungen gewannen, suchte auch Gramsci die Fehler der Vergangenheit, auch seine eigenen, durch unpolitische, bürokratische Abkürzungen zu korrigieren.

Das ist, wie wir gesehen haben, der grosse Widerspruch in der Entwicklung der PCd’I. Unter Gramscis Führung machte die PCd’I einen riesigen Schritt vorwärts auf die authentisch marxistischen Positionen der ersten vier Weltkongresse der Komintern. Mit der Überwindung des Linksradikalismus und der Taktik der Einheitsfront hätte die Kommunistische Partei ihren Kampf zur Gewinnung der Mehrheit der Massen aufnehmen und den arbeitenden Klassen eine vielversprechende Perspektive des Widerstands gegen den Faschismus aufzeigen können. Aber dieser Schritt vorwärts fiel in die Phase, in der die bürokratische Degeneration der Komintern die Kommunistischen Parteien in die andere Richtung zu ziehen begann. Dies wirkte sich auf die Gramsci-Führung PCd’I aus. Die autoritäre Ausschaltung der Linken konnte die Partei nur schädigen. Es sind diese beiden einander entgegenlaufenden Tendenzen, die der «Bolschewisierung» PCd’I unter Gramsci ihren zwiespältigen, widersprüchlichen Charakter gaben.

Das Erbe der frühen Komintern

Dennoch wollen wir hier noch auf einige Punkte aus Thesen von Lyon eingehen, die uns wertvolle theoretische Lektionen des Marxismus näherbringen können. Die Thesen von Lyon sind, zusammen mit Schriften aus dem Jahr 1926 wie der Frage des Südens, ein Knotenpunkt in Gramscis intellektueller Entwicklung. Ein knappes Jahr vor seiner Verhaftung geschrieben, finden sich hier bereits einige der wichtigsten Motive aus Gramscis späteren Gefängnisheften.

Die Ausführungen zur Hegemonie in den Gefängnisheften waren nicht ein Bruch mit dem revolutionären Marxismus zugunsten einer reformistischen Vorstellung eines graduellen Hineinwachsens in den Sozialismus, wie heute mehrheitlich nahegelegt wird. Die Lyon-Thesen zeigen deutlich die Kontinuität in Gramscis Entwicklung. Tatsächlich enthalten sie die noch nicht ausgereifte, dafür viel klarer formulierte Vorwegnahme seiner Hegemonietheorie.

Sie widerlegen all jene, die Gramscis Gefängnishefte in einen Gegensatz zu seinen Auffassungen vor seiner Verhaftung stellen wollen. Man kann nicht genug betonen, wie entscheidend Gramscis Erfahrungen und Auseinandersetzungen in den Monaten seines Aufenthalts in Moskau (von Mai 1922 bis Dezember 1923) für diese Entwicklung seiner Ideen waren. Der Schlüssel zum Verständnis dieser so oft verzerrten und falsch verstandenen Ideen rund um die Hegemonie liegt in den Diskussionen des III. und insbesondere des IV. Weltkongresses der Komintern. Die politische Theorie der Gefängnishefte sind eine Reflektion der Lektionen dieser beiden Kongresse, die das Beste darstellen, was die organisierte Arbeiterklasse an Strategie und Taktik hervorgebracht hatte.

Die Hegemonietheorie ist in jeder Hinsicht eine leninistische Theorie, die sich auf den subjektiven Faktor bezieht. Hegemonie bedeutet Führung. Die beiden Begriffe sind synonym. In den Thesen von Lyon heisst es, die Frage der Entwicklung und der Geschwindigkeit des revolutionären Prozesses sei auch die Frage der subjektiven Elemente:

«d.h. (1) das Ausmass , in dem es der Arbeiterklasse gelingt, ein eigenes politisches Profil, ein präzises Klassenbewusstsein und eine Unabhängigkeit von allen anderen Klassen zu erlangen; und (2) das Ausmass, in dem es ihr gelingt, ihre eigenen Kräfte zu organisieren, d.h. de facto die Führung über die anderen Elemente auszuüben und vor allem ihr Bündnis mit der Bauernschaft politisch zu konkretisieren.»[78]

Diese beiden «subjektiven» Seiten bilden die Grundlage von Gramscis Verständnis der Hegemonie, die beide ganz direkt bei Lenin ansetzen. Die Entwicklung des Klassenbewusstseins und der Unabhängigkeit der Arbeiterklasse (1) ist untrennbar verbunden mit der Frage der Führung der Arbeiterklasse. Wir haben die Zentralität der Führung am lebendigen Beispiel des italienischen Klassenkampfes gesehen, wir haben die Notwendigkeit der Führung durch den bewusstesten Teil der Arbeiterklasse, organisiert in einer revolutionären Partei der Arbeiterklasse, gesehen. Dagegen werden in den Thesen von Lyon – das mag die heutigen reformistischen Gramsci-Anhänger schockieren – die reformistischen und zentristischen (oder auch anarchistischen) Führungen der Parteien und Gewerkschaften der Arbeiterklasse als Stützen der bürgerlichen Hegemonie erkannt. Sie sind «Vehikel eines zersetzenden Einflusses anderer Klassen auf die Arbeiter».[79] Statt das unabhängige revolutionäre Profil der Arbeiterklasse zu schärfen, bremsen sie die Arbeiterklasse in der Ausbildung ihres eigenen, unabhängigen Klassenbewusstseins und bilden damit ein Hindernis für die Entwicklung des Klassenkampfes und der Revolution. Der Kampf um die Hegemonie, der Kampf um die Führung des Proletariats ist entsprechend der Kampf zur Zurückdrängung dieses «zersetzenden» bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Einflusses», der über die reformistischen oder andere nicht-marxistische Führungen auf die Massen der Arbeiterklasse ausgeübt wird, indem die Massen aus dem Bann der reformistischen Führungen für den revolutionären Kampf gewonnen werden.

In diesem Sinne ist das Ziel der Erlangung der Hegemonie nichts anderes als das Ziel der «Gewinnung der Massen», wie es von der Komintern in einer Phase auf die Tagesordnung gesetzt wurde, in der klar wurde, dass die Mehrheit der Arbeiterklasse noch nicht hinter den Kommunisten stand. Diese Problematik liess Gramscis Denken ab seiner Annahme der Linie der Komintern 1923 nicht mehr los. Die Taktik zur Erreichung dieses Ziels war, wie gesehen, die Einheitsfront. Davon weichen die Thesen von Lyon nicht ab.

Die Einheitsfront sei in all jenen Fällen anzuwenden, «in denen, auf Grund der Massenunterstützung für die Gruppen, die wir bekämpfen, ein Frontalangriff gegen sie nicht ausreichend ist, um weitreichende Resultate zu erlangen.»[80] In Italien, wo die Partei noch weit davon entfernt sei, den entscheidenden Einfluss über die Mehrheit der Arbeiterklasse und der arbeitenden Bevölkerung zu gewinnen, sei diese Taktik der Einheitsfront deshalb angebracht. Sie grenzen sich ab von den linksradikalen und sektiererischen Methoden der puren revolutionären Propaganda.

Die andere Seite der Hegemonieauffassung bezieht sich auf die Notwendigkeit, «de facto die Führung über die anderen Elemente auszuüben und vor allem ihr Bündnis mit der Bauernschaft politisch zu konkretisieren» (2). Es ist diese Führungdes Proletariats über die verbündeten Klassen, die in den Debatten in der Sozialdemokratie Russlands und bei den Bolschewiki Hegemonie genannt wurde. Lenin hatte erklärt, dass man die armen Bauern dem ideologischen Einfluss der Bourgeoisie entreissen musste, um sie für eine gesellschaftliche Umwälzung zu gewinnen, in der nur die Arbeiterklasse als wirklich revolutionäre Klasse die führende Rolle spielen konnte.

In Anbetracht all der Verzerrungen, die der Hegemoniebegriff mit vermeintlicher Stützung auf Gramsci erleiden musste, ist es unabdingbar zu sagen: Ein solches Klassenbündnis hat nichts mit der Kollaboration mit herrschenden Klassen zu tun und ebensowenig mit ideologischem Pluralismus. Gramsci ist hier nicht weniger eindeutig als Lenin, wie wir in obigem Zitat sehen. In keinem späteren Moment wurde diese Auffassung der Hegemonie in Frage gestellt. Die Arbeiterklasse braucht ein klares Klassenbewusstsein, ein Bewusstsein über die eigene gesellschaftliche Stellung und Funktion in der Produktion und Veränderung der Gesellschaft. Das setzt die grösste Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von allen anderen Klassen und ihren ideologischen Einflüssen voraus – auch den verbündeten wie den Bauern. Aber wenn die Arbeiterklasse, wie im damaligen Italien oder Russland, noch eine Minderheit darstellt, dann ist sie für ihren Sieg auf andere Klassen angewiesen, die aus ihren eigenen Gründen ebenfalls ein Interesse an einem Sturz der herrschenden Klasse haben können.

Die Machtergreifung war in Gramscis Augen nur möglich, insofern es dem Proletariat gelinge, ein System von Klassenbündnissen zu schaffen, welches ihm erlaube, die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung gegen den Kapitalismus und den bürgerlichen Staat zu gewinnen. In der italienischen Situation hiess das insbesondere, den Konsens (die Zustimmung)der armen Bauern des Südens zu gewinnen, indem das nördliche Proletariat aufzeigte, dass es, indem es sich von der kapitalistischen Sklaverei befreit, auch die Bauernmassen des Südens befreien wird, die «von den Banken und der parasitären Industrie des Nordens versklavt werden».[81]  Gramsci hatte dies bereits während des Biennio Rosso klar gesehen. Sein Kampf galt immer dem «Korporatismus» (gewissermassen der Gegenbegriff zu Hegemonie), der sich nur auf die engen Interessen des Proletariats fixierte, statt den Kampf aller Unterdrückten gegen die alte Ordnung anzuführen.

Partei und Massen

Auch sonst sind die Thesen von Lyon ein Zeugnis der marxistischen Einheit von Theorie und Praxis und der richtigen Meisterung des Balanceaktes über den Abgründen von Opportunismus und Sektierertum. Gegenüber der «sektiererischen» Herangehensweise an die Politik, die in der Praxis dazu tendiert, sich von allen zu isolieren, die nicht bereits die eigenen «reinen» kommunistischen (oder anarchistischen) Ideen teilen, stellten sie die Notwendigkeit ins Zentrum, dorthin zu gehen, wo die arbeitenden Massen stehen, dort wo sie «physisch» und in ihrem Bewusstsein stehen, um dieses Bewusstsein zu heben und in Richtung kommunistischem Bewusstsein weiterzutreiben. Mit dieser dialektischen Auffassung des Verhältnisses zwischen der revolutionären Führung durch die Avantgarde der Klasse und den Massen der Arbeiterklasse reihen sich die Thesen von Lyon in die beste marxistische Tradition ein:

«Die Partei führt die Klasse an, indem sie in alle Organisationen eindringt, in denen die arbeitenden Massen versammelt sind; und indem sie in und durch diese eine systematische Mobilisierung der Energien entsprechend dem Programm des Klassenkampfes durchführt, und eine Aktivität, die darauf abzielt, die Mehrheit für kommunistische Direktiven zu gewinnen.

Die Organisationen, in denen die Partei arbeitet und die von Natur aus dazu tendieren, die gesamte Masse der Arbeiter zu umfassen, können niemals die Kommunistische Partei ersetzen, die die politische Organisation der Revolutionäre ist, also die Avantgarde des Proletariats. […] Die Kommunisten organisieren sich in Fraktionen in den Gewerkschaften und in allen Massenformationen und nehmen an der vordersten Reihe am Leben dieser Formationen und an den Kämpfen teil, die sie führen, indem sie das Programm und die Parolen ihrer Partei verteidigen. Jede Neigung, sich vom Leben dieser Organisationen, was auch immer sie sein mögen, zu isolieren, in denen es möglich ist, mit den arbeitenden Massen in Kontakt zu treten, ist als gefährliche Abweichung zu bekämpfen, die auf Pessimismus hinweist und Passivität erzeugt.

[…] Die Partei, die auf den Kampf verzichtet, um ihren Einfluss in den Gewerkschaften auszuüben und ihre Führung zu gewinnen, verzichtet de facto darauf, die Masse der Arbeiter zu gewinnen, und verzichtet auf den revolutionären Kampf um die Macht.»[82]

Fast wörtlich widerhallen hier die unverzichtbaren Lektionen in der revolutionären Methode, die Lenin den Führungen der jungen kommunistischen Parteien in seiner Broschüre zur Überwindung des Linksradikalismus erteilt hatte. Dort hämmerte er: «Nicht in den reaktionären Gewerkschaften arbeiten heisst die ungenügend entwickelten oder rückständigen Arbeitermassen dem Einfluss der reaktionären Führer, der Agenten der Bourgeoisie, der Arbeiteraristokraten oder der verbürgerten Arbeiter überlassen.»[83]

Wir hatten bereits an früherer Stelle geschrieben, dass in der sozialdemokratischen Tradition Minimal- und ein Maximalprogramm einander gegenübergestellt wurden. Das Minimalprogramm kümmerte sich um die einzelnen Tageskämpfe zur Verbesserung der Situation der Lohnabhängigen im Hier und Jetzt. Das Maximalprogramm forderte demgegenüber die sozialistische Revolution, blieb aber völlig abstrakt und utopisch, eben weil keine Verbindung zu den Tageskämpfen hergestellt wurde Der Reformismus und Minimalismus verabsolutiert die Teilkämpfe im Hier und Jetzt, führt zu Kompromissen mit der herrschenden Klasse und zur opportunistischenAnpassung an das bestehende System; der linksradikale oder maximalistische Verbal-Radikalismus schreit «Revolution!» und baut sich utopische Luftschlösser, zu denen vom Boden her kein Weg führt. Das sind zwei Seiten derselben Medaille. Beide sind auf die umgekehrte Weise gleichermassen einseitig und gleichermassen unfähig, die unterdrückten Massen im Kampf zu ihrer Befreiung zu führen.

Revolutionäre Marxisten hatten seit dem Kommunistischen Manifest eine andere, dialektische Methode, welche Tageskämpfe und Machteroberung, Minimal- und Maximalprogramm, Reform und Revolution, nicht als unvermittelte, voneinander unabhängige Gegensätze sah. Leo Trotzki erklärte, man müsse zwischen dem Minimal- und dem Maximalprogramm eine Brücke spannen aus einem System von Übergangsforderungen, «die ausgehen von den augenblicklichen Voraussetzungen und dem heutigen Bewusstsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unabänderlich zu ein und demselben Schluss führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat.»[84] Und Rosa Luxemburg sagte in ihrer legendären Streitschrift Sozialreform oder Revolution nicht etwa der Reform, sondern dem Reformismus den Kampf an: Die Teilkämpfe für einzelne Reformen dürfen nicht zum Selbstzweck verkommen, sondern müssen dadurch, dass die betroffenen Arbeiterschichten in den Kampf gezogen werden, einerseits den Organisationsgrad und die Einheit der Arbeiterklasse heben und andererseits ihr Klassenbewusstsein. Gewendet gegen einen Linksradikalismus mit maximalistischem Charakter, steht der Teil der Thesen von Lyon, welcher der PCd’I die korrekte politische Methode aufzeigen sollte, den Obengenannten in nichts nach:

«Die Partei führt und vereinigt die Arbeiterklasse, indem sie sich an allen Teilkämpfen beteiligt, und indem sie ein Programm von Forderungen formuliert und mit ihnen agitiert, die für die Arbeiterklasse von unmittelbarem Interesse sind. Partielle und beschränkte Aktionen werden von ihr als notwendige Schritte betrachtet, um die fortschreitende Mobilisierung und Vereinigung aller Kräfte der Arbeiterklasse zu erreichen.

Die Partei bekämpft die Vorstellung, dass man auf die Unterstützung oder Teilnahme an Teilaktionen verzichten sollte, weil die Probleme, die die Arbeiterklasse betreffen, nur durch den Sturz der kapitalistischen Ordnung und durch eine allgemeine Aktion aller antikapitalistischen Kräfte gelöst werden können. Sie ist sich der Unmöglichkeit bewusst, die Bedingungen für die Arbeiter in der Zeit des Imperialismus und vor dem Sturz der kapitalistischen Ordnung ernsthaft oder dauerhaft zu verbessern. Die Agitation um ein Programm der unmittelbaren Forderungen und der Unterstützung von Teilkämpfen ist jedoch der einzige Weg, um die breite Masse zu erreichen und sie gegen das Kapital zu mobilisieren. Darüber hinaus verschärft jede Agitation oder jeder Sieg der Arbeiter im Bereich der unmittelbaren Forderungen die Krise des Kapitalismus und beschleunigt auch subjektiv seinen Niedergang, indem sie das instabile wirtschaftliche Gleichgewicht verschiebt, auf das sie heute ihre Macht gründet.

Die Kommunistische Partei verbindet jede unmittelbare Forderung mit einem revolutionären Ziel; sie nutzt jeden Teilkampf, um den Massen die Notwendigkeit eines allgemeinen Handelns und eines Aufstands gegen die reaktionäre Herrschaft des Kapitals zu lehren; und sie versucht sicherzustellen, dass jeder Kampf eines begrenzten Charakters so vorbereitet und geführt wird, dass er zur Mobilisierung und Vereinigung der proletarischen Kräfte und nicht zu ihrer Zerstreuung führen kann. Sie verteidigt diese Vorstellungen innerhalb der Massenorganisationen, die Teilbewegungen anführen, oder gegen die politischen Parteien, die sie initiieren. Oder sie gibt ihnen Kraft, indem sie selbst die Initiative ergreift und Teilaktionen vorschlägt, entweder innerhalb der Massenorganisationen oder gegenüber anderen Parteien (Einheitsfronttaktik).»

Diese Fragen der politischen Methode, des Verhältnisses zwischen der Führung der Kommunistischen Partei und den Massen der Arbeiterklasse, waren für Gramsci die Frage der Parteiauffassung schlechthin. Schon seit 1923, als er sich offen von der Linie der bisherigen Parteiführung abzusetzen begann, kritisierte er Bordigas Auffassung der Partei als einem «Organ», statt einem «Teil» der Arbeiterklasse. Das führe zu einer falschen organisatorischen und taktischen Herangehensweise, einem falschen Verhältnis zwischen Partei und Massen.[85] Die Partei nur als von der Klasse mehr oder weniger unabhängiges «Organ» zu betrachten, führe dazu, die Parteiarbeit einzig auf die Ausbildung von revolutionären Kader zu reduzieren, die dann im entscheidenden Moment die Führung übernehmen können, wenn die Massen durch die äusseren Umstände getrieben, etwa durch eine Wirtschaftskrise, zu den Marxisten kommen und deren Ideen akzeptieren.[86] Das macht es auch unnötig, eine Einschätzung der objektiven Situation vorzunehmen, um eine entsprechende Taktik daraus abzuleiten, mit der die Massen gewonnen werden können. Mit dieser Auffassung genügt es, einzelne Kader auszubilden und abzuwarten, bis die Revolution kommt. Gramsci sah darin nur eine andere Form der abwartenden reformistischen und sozialdemokratische Tendenz, die der Fähigkeit der Massen, sich zu organisieren, mit einer skeptischen Haltung entgegentrat. In seinem wichtigen Brief vom 9. Februar 1924 hatte Gramsci schon kritisiert, unter Bordigas Führung sei die Partei

«lediglich als etwas gesehen [worden], das in der Luft schwebt; als etwas mit seiner eigenen autonomen und selbstgenerierten Entwicklung; als etwas, dem sich die Massen anschliessen werden, wenn die Situation stimmt und die revolutionäre Welle an ihrem höchsten Punkt steht, oder wenn das Parteizentrum beschliesst, eine Offensive zu starten und sich auf die Ebene der Massen zu begeben, um sie zu erwecken und sie in Aktion zu führen.»[87]

Für Gramsci hingegen war die Partei das «Ergebnis eines Prozesses, in dem die spontane Bewegung der revolutionären Massen und der organisierende und lenkende Wille des Zentrums zusammenlaufen».[88] Dass die Partei die Arbeiterklasse führen solle, so steht in den Thesen von Lyon, dürfe nicht in «mechanischer Weise» verstanden werden als eine «externe Auferlegung der Autorität über die Arbeiterklasse», weder in der Periode vor noch in der Periode nach der Machtergreifung. Die Fähigkeit, die Klasse zu führen, hänge nicht damit zusammen, dass die Partei sich selbst zu deren «Organ» erklärt, sondern vielmehr damit, dass es ihr als Teil der Arbeiterklasse wirklich gelingt, sich mit den Massen zu verbinden und sie in die von den objektiven Bedingungen erforderte Richtung zu treiben. Nur so werde die Partei es schaffen, von der Arbeiterklasse als ihre Partei erkannt zu werden.

Wenn Gramsci die bordigistische Parteiauffassung dafür kritisierte, die Partei nur als «Gruppe von Kadern» zu sehen, so heisst das umgekehrt nicht, dass er der Kaderbildung nicht die grösste Bedeutung beimass. Um ihrer Rolle als Führung der Arbeiterklasse gerecht zu werden, musste die Kommunistische Partei ihr ideologisches Niveau durch eine «systematische» interne Bildung anheben. Dazu leitete Gramsci auch eine Parteischule in die Wege. Alle Mitglieder mussten aktive Mitglieder und Kader werden.[89] Sie sollten den Marxismus studieren, um ein höheres und solideres theoretisches Bewusstsein zu erlangen, um selbst eine «gewisse Fähigkeit der marxistischen Analyse der Situationen und eine entsprechende Fähigkeit zur politischen Orientierung zu erwerben».[90] Gerade darin sah Gramsci ein Kernelement der Bolschewisierung: das theoretische und politische Niveau aller Genossen zu heben.[91]

«Die italienischen Arbeiter haben aus ihrer Erfahrung (1919-20) gelernt, dass dort, wo die Führung durch eine Kommunistische Partei, aufgebaut als Partei der Arbeiterklasse und als Partei der Revolution, fehlt, der Kampf für den Sturz der kapitalistischen Ordnung nicht zu einem siegreichen Ergebnis gebracht werden kann.»

Und nicht nur die italienischen Arbeiter! Die gesamten Erfahrungen der Arbeiterklasse in den Jahren 1917-23, ja die gesamten Erfahrungen bis heute haben es gezeigt. In der Tat, der «Aufbau einer Kommunistischen Partei, die wirklich die Partei der Arbeiterklasse und die Partei der Revolution ist – in anderen Worten, eine Bolschewistische Partei», ganz nach Lenins Vorbild, war eine Notwendigkeit.[92]

In genau diesem, und nur in diesem Sinne wäre die Bolschewisierung der Partei auch ihrem Namen gerecht worden.


[1] Gramscis Artikel ist eine Antwort an die Turiner Anarchisten rund um die Zeitung Umanità Nuova, die die Kommunisten für die Niederlage in den Fabrikbesetzungen im September 1920 verantwortlich gemacht hatten.

[2] Gramsci, «Die Hauptverantwortlichen», L’Ordine Nuovo vom 20. September 1921, verfügbar auf: marxists.org

[3] L. Trotzki, «Die Schule der revolutionären Strategie», in: Europa und Amerika, Arbeiterpresse-Verlag, 2000, S. 53.

[4] Resolution des II. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale (Komintern) über die Bedingungen der Aufnahme in die Kommunistische Internationale, 6. August 1920.

[5] Ebd.

[6] P. Broué, Histoire de l’Internationale Communiste, Paris, Fayard, 1997, S. 206.

[7] A. Gramsci, «Against Pessimism», SPW II, S. 213f.

[8] Gramsci an Togliatti, 27.01.1924, SPW II, S. 184f.; Gramsci an Leonetti, 28.01.1924, SPW II, S. 188f.

[9] V. I. Lenin, Der «linke Radikalismus», die Kinderkrankheit im Kommunismus, LW31, S. 17.

[10] B. Mantelli, Kurze Geschichte des italienischen Faschismus, Wagenbach, Berlin, 2008, S. 44.

[11] Mantelli, Ebd., S. 45.

[12] P. Spriano, Storia del Partito comunista italiano: Da Bordiga a Gramsci, Einaudi, S. 131.

[13] Ebd.

[14] Rede von Matteotti im Parlament vom 10. März 1921, zitiert in: D. Guérin, Fascisme & grand capital, petite collection maespro, Paris, 1975, S.109f.

[15] Guérin, Ebd. S.110

[16] L. Trotzki, Was nun?, online auf marxists.org

[17] Gramsci, «Italy and Spain», ON 12.3.1921, SPW II, S. 23

[18] A. Gramsci, P. Togliatti, «The Events of 2-3 December [1919], L’Ordine Nuovo, 6. Dezember 1919, SPW I, S. 135

[19] Ebd.

[20] Gramsci, «The Italian Parliament», ON 24.3.1921, SPW II, S. 30

[21] L. Trotzki, Was nun?, online auf marxists.org

[22] Gramsci, Socialists and fascists, L’Ordine Nuovo, 11. Juni 1921, SPW II, S. 44-45. 

[23] Vgl. Spriano, Storia, S. 137f.; Gramsci, Bonomi, L’Ordine Nuovo, 5. Juli 1921, SPW II, S. 54.

[24] B. Rossi, «Eros Francescangeli, Arditi del Popolo», Revolutionary History Vol.8, Nr. 2, 2002.

[25] Spriano, Storia, S. 142

[26] Gramsci, «The ‚Arditi del Popolo’», ON 15.7.1921, SPW, S. 57

[27] Zitiert in: L. Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, Arbeiterpresse Verlag, Essen, 1993, S. 102.

[28] A. Bordiga, U. Terracini, «Theses on the Tactics of the PCI („Rome Theses“)», in SPWII, S.93f.

[29] L. Trotzki, «“Osservazioni“ sulle „Tesi di Roma“», Scritti sull’Italia, verfügbar auf marxists.org

[30] Brief an Togliatti, Terracini u.a., 9. Februar 1924, SPW, S. 196; Gramsci verleugnet in den Briefen, dass er selbst zuvor gegen die Einheitsfront gewesen war.

[31] F. Rosengarten, «The Gramsci-Trotsky Question (1922-1932)», Social Text, Nr.11, Winter 1984-1985, S. 76

[32] E. Saccarelli, Gramsci and Trotsky in the Shadow of Stalinism, Routledge, New York, 2008, S. 235

[33] SPW II, S. 472

[34] Togliatti an Gramsci, 01.05.1923, SPW II, 132f.

[35] Gramsci an Togliatti, 18.05.1923, SPW II, S. 139

[36] Gramsci an Scoccimarro, 05.01.1924, SPW, S. 174

[37] V.I. Lenin, «Brief an den Parteitag», LW36, S. 580

[38] Zitiert nach L. Trotzki, Verratene Revolution, Mehring Verlag, Essen, 2009, S. 130.

[39] Ebd., S. 144f.

[40] Ebd.

[41] J. Peterson, «Zinoviev and the Stalinist degeneration of the Comintern», 20. Dezember 2019, auf: marxist.com

[42] Man bemerke: Zwischen 5. und dem 6. Weltkongress lag eine ebenso lange Zeitspanne wie die gesamten ersten vier Kongresse umschloss, die noch jährlich stattfanden. Die Frequenz der Weltkongresse der Komintern drängt sich als einfacher Gradmesser für ihre Degeneration auf: 1919, 1920, 1921, 1922, 1924, 1928, 1935. Eine eine noch längere Phase als die sieben Jahre zwischen dem 6. und dem 7. Kongress, steht zwischen diesem letzten Kongress und der unilateralen Auflösung der Komintern 1943 durch Stalin, der den westlichen Grossmächten aufzeigen wollte, dass er auch ja nichts mit der Weltrevolution am Hut hätte und ein vollauf verlässlicher Partner in der traditionellen Diplomatie sei.

[43] L. Trotzki, Verratene Revolution, S.126

[44] Trotzki, Verratene Revolution., S. 273

[45] «The Italian Situation and the Tasks of the PCI („Lyons Theses“)», SPW II, S. 349.

[46] Spriano, Storia, S. 315.

[47] Spriano, Storia, S. 327f.

[48] Spriano, Storia, S. 330

[49] Spriano, Storia, S. 340

[50] Hoare, SPW II, S. 485

[51] «Gramsci’s Intervention at the Como Conference», SPW II, S. 253.

[52] Fiori, Das Leben des Antonio Gramsci, S. 160

[53] Vgl. Spriano, Storia, S. 382f.

[54] Ebd. S. 391.

[55] Ebd. S. 414.

[56] «Chronologie des Lebens von Antonio Gramsci», GH1, S. 57

[57] Vgl. Spriano, Storia, S. 406-421.

[58] «Thesenentwurf der Linken für den 3. Kongress der KP Italiens», in Kommunistisches Programm, Nr. 14, Mai 1977, auf: www.sinistra.net

[59] J. Geier, «Zinovievism and the degeneration of world Communism», International Socialist Review, Nr. 93, 2014.

[60] Hoare, SPW, S. 490.

[61] Fiori, S. 174

[62] Sinowjew gab der Taktik der Einheitsfront auf dem V. Weltkongress eine Wendung, in der sie vor allem als «Einheitsfront von unten» aufgefasst wurde (Einheit der Massen an der Basis, aber keine Übereinkunft mit den nicht-kommunistischen Führungen, die entlarvt werden sollten).  Dass dies schon nur die Frage falsch stellt, hatte Trotzki bereits früher erklärt (Vgl. «Betrachtungen über die Einheitsfront»). Die Thesen von Lyon orientieren sich an der authentischen Auffassung des IV. Weltkongress, aber es bleibt stellenweise ein Hang, die Einheitsfront als Manöver aufzufassen: «Die Taktik der Einheitsfront als politische Aktivität (Manöver), die darauf abzielt, so genannte proletarische und revolutionäre Parteien und Gruppen, die eine Massenbasis haben, zu entlarven, ist eng mit dem Problem verbunden, wie die Kommunistische Partei die Massen führen soll und wie sie eine Mehrheit gewinnen kann.» (S. 373). Dies verkehrt den Grundgedanken der Einheitsfront: Sie ist eine Taktik, um die Mehrheit der Massen zu gewinnen, indem sich die inkonsequenten Führungen vor ihrer Massenbasis entlarven.

[63] SPW II, S. 371f.

[64] Das sind die Argumente von Trotzki, der diese Losung 1930 in einem Brief an die italienischen «Trotzkisten» prägnant kritisierte. Die italienische Losung schien ihm nur eine Variante der «kleinbürgerlichen Tendenz» von Sinowjew, Kamenew und Hilferding zu sein, die bereits 1917 in Russland respektive 1919 in Deutschland einen «kombinierten Staat» forderten. L. Trotzki, «Problems of the Italian Revolution», 4. Juli 1930.

[65] Schreiben des EK vom 24. November 1925, in: Storia documentaria sul Comunismo Italiano, Volume 4: La liquidazione della sinistra (1925), Edizioni l’Internazionale, 1991, S. 247.

[66] J. Chiaradia, Amadeo Bordiga and the Myth of Antonio Gramsci, S. 17

[67] Ebd.

[68] Bordiga solidarisierte sich zwar mit dem Comitato, war selbst aber zuerst nicht Teil davon. SPW II, S. 497

[69] Vgl. Chiaradia, S.20f.; T. Bates, «Antonio Gramsci and the Bolshevization of the PCI», Journal of Contemporary History, Juli 1974, S. 115-131.

[70] Chiaradia, S. 24

[71] «Minutes of the Political Commission Nominated by the Central Commitee to Finalize the Lyons Congress Documents», SPW II, S. 333

[72] SPW II, S. 361.

[73] SPW II, S. 365.

[74] Trotzki, S. 131

[75] Bordiga in «Minutes of the Political Commission nominated by the Central Commitee to Finalize the Lyons Congress Documents», SPW II, S. 322.

[76] «Thesenentwurfs der Linken für den 3. Kongress der KP Italiens (1926)», auf: sinistra.net

[77] Zu Politik, Geschichte…177

[78] A. Gramsci, P. Togliatti, «The Italian Situation and the Tasks of the PCI (‘Lyon Theses’)», SPW II, S. 354. Meine Nummerierung.

[79] Ebd., S. 355

[80] Ebd., S. 373

[81] «Some Aspects of the Southern Question», SPW II, S. 441f.

[82]«Lyon Theses», S. 368f.

[83] W.I. Lenin, Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus, LW 31, S. 38

[84] L. Trotzki, Das Übergangsprogramm, Arbeiterpresse Verlag, 1997, S. 86

[85] «Lyon Theses», S. 360

[86] Ebd,

[87] Gramsci an Togliatti, Terracini und andere, SPW II, S. 198

[88] Ebd.

[89] A. Gramsci, «Introduction to the First Course of the Party School», SPW II, S. 290.

[90] «Lyon Theses», S. 358

[91] «The Internal Situation in our Party and the Tasks of the Forthcoming Congress», SPW II, S. 302

[92] «Lyon Theses», S. 357