Dieser Tage wird des 70 Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges gedacht. Dass der 2. Weltkrieg und sein Ende durch das Andauern des Kapitalismus aktuellen Bezug hat, argumentieren Mario Wassilikos und Emanuel Tomaselli.
Was bis heute erschüttert, ist das Ausmass des Zweiten Weltkriegs: Schätzungen zufolge kostete er (bei einer damaligen Weltbevölkerung von etwa 2.200 Millionen) etwa 60 Millionen Menschen das Leben – 20 Millionen Soldaten und 40 Millionen ZivilistInnen. Diese Opfer starben in Kampfhandlungen, durch Krankheiten, Hunger, Massaker, Bombenangriffe und vorsätzlichen Völkermord. Etwa zwölf Millionen ZivilistInnen wurden in den Konzentrationslagern und Massenmordaktionen der Nazis vernichtet, davon etwa die Hälfte JüdInnen. 1,5 Millionen Menschen verloren durch Luftangriffe ihr Leben. Sieben Millionen starben in Europa durch andere Todesursachen und 7,5 Millionen ChinesInnen wurden im Zuge der brutalen Unterdrückungsmassnahmen des japanischen Imperialismus umgebracht.
Den grössten Blutzoll hatten mit 27 Millionen Menschen die Völker der Sowjetunion zu tragen, knapp die Hälfte aller Todesopfer des Krieges. 15 Prozent der Toten waren auf Seiten der Achsenmächte (Nazideutschland, das faschistische Italien, Japan und ihre Verbündeten) zu beklagen.
Krieg ist kein Zufall
Kriege hat es immer und immer wieder gegeben. Dies wird auch so bleiben, solange Kapitalismus und Klassengesellschaft existieren. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges argumentierte der russische Sozialdemokrat und spätere Führer der Russischen Revolution Lenin: „Der Imperialismus hat das Geschick der europäischen Kultur aufs Spiel gesetzt: Diesem Krieg werden bald, wenn es nicht eine Reihe erfolgreicher Revolutionen geben wird, andere Kriege folgen – das Märchen vom ‚letzten Krieg’ ist ein leeres, schädliches Märchen .“ Und kurz: „Kapitalismus bedeutet Krieg.“ (Lenin)
Die Korrektheit dieser zugespitzten Aussagen, die bis heute nichts an Aktualität vermissen lassen, basiert auf dem Verständnis der realen Verfasstheit des Kapitalismus, den ein anderer Revolutionär zu Beginn des Zweiten Weltkrieges so zusammenfasste: „Solange jedoch die Hauptproduktivkräfte der Gesellschaft in den Händen der Konzerne liegen, d. h. in den Händen von getrennten Kapitalistencliquen, und solange der Nationalstaat ein williges Werkzeug in den Händen dieser Cliquen bleibt, muss der Kampf um Märkte, um Rohstoffquellen, um die Weltherrschaft unweigerlich einen mehr und mehr destruktiven Charakter annehmen. Die Staatsmacht und die Beherrschung der Wirtschaft kann den Händen dieser räuberischen imperialistischen Cliquen nur durch die revolutionäre Arbeiterklasse entrissen werden.“ (Trotzki)
MarxistInnen sehen also eine systemimmanente kriegerische Grundtendenz des modernen Kapitalismus. Ob jedoch Kriege ausbrechen, welche Allianzen geltend werden, wer als Aggressor auftritt und wer seine Interessen durch Passivität durchsetzt etc., hängt von konkreten Umständen ab. Carl von Clausewitz, ein preussischer General aus dem 19. Jahrhundert, sprach eine einfache Wahrheit aus, wenn er den „Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ verstand.
Die Propagandisten der bürgerlichen Geschichtsschreibung verschleiern in ihrer Darstellung oft mehr, als dass sie die konkreten Zusammenhänge verstehbar machen würden. In der Gesamtschau wird der Zweite Weltkrieg heute gern als Ringen zwischen Demokratie und Faschismus dargestellt, was eine Fortführung der damaligen Kriegspropaganda der West-Alliierten ist.
Zweiter Weltkrieg – Zweite Halbzeit?
Ja, in der Hinsicht, dass der Erste Weltkrieg die imperialistischen Widersprüche nicht lösen konnte und diese deshalb notwendigerweise auf einen Zweiten Weltkrieg zusteuerten. Die Ausgangslage war 1939 nicht anders als 1914: Die direkte Kriegsursache ist die Rivalität zwischen den alten wohlhabenden Kolonialreichen Grossbritannien und Frankreich und den zu spät gekommenen imperialistischen Plünderern Deutschland und Italien sowie Japan in Asien.
Das 19. Jahrhundert war die Ära der unbestrittenen Hegemonie der ältesten kapitalistischen Macht: Grossbritannien. Von 1815 bis 1914 regierte der „Britische Frieden“, wenn auch nicht ohne vereinzelte militärische Ausbrüche. Die britische Flotte, die mächtigste der Welt, spielte die Rolle des Polizisten der Meere. Diese Ära neigte sich mit dem Anbruch des 20. Jahrhunderts dem Ende zu. Am Kontinent drängte das mit der modernsten Technologie ausgestattete Deutschland an die Spitze Europas. Auf der anderen Seite des Atlantiks erhob sich mit den USA ein noch mächtigeres Land. Der wichtigste ökonomische Widerspruch, der zum Ersten Weltkrieg führte, war die Rivalität zwischen Grossbritannien und Deutschland. Für die Vereinigten Staaten hatte die späte Teilnahme am Ersten Weltkrieg einen präventiven Charakter – man durfte Deutschland nicht erlauben, den europäischen Kontinent zu dominieren.
Die Niederlage von 1918 warf Deutschland in vollständige Ohnmacht zurück. Es verlor das industrielle Saarland und das Elsass an Frankreich, grosse Teile Ostpreussens und Schleswig-Holsteins. Das Finanz- und Währungswesen war durch die Kriegsschulden und Reparationszahlungen an die Siegermächte schwer zerrüttet, das Bürgertum geschwächt durch die Schläge der jahrelang rebellierenden ArbeiterInnenklasse, die sich in Räten organisierte und bewaffnet war. In den Augen der konkurrierenden Mächte schien Deutschland für eine lange Zeit, wenn nicht für immer, aus dem Rennen um die Vorherrschaft in Europa zu sein. In dieser Situation spielte Frankreich für wenige Jahre nach den Vororte-Friedensverträgen von 1919 die erste Geige am Kontinent. Doch schon bald erwies sich die wirtschaftliche Kraft Frankreichs als völlig unzureichend, um Europa zu dominieren. Deutschlands Wiederaufstieg war auf der Basis der erstklassigen technologischen Grundlage seiner Industrie letztlich unvermeidlich. Hilfreich war dabei der Umstand, dass Grossbritannien darauf drängte, dem Plündern Deutschlands durch Frankreich einen Riegel vorzuschieben. Das britische Kapital agierte hier weitsichtiger als seine siegestrunkenen französischen Klassenbrüder: In London dominierte die Angst vor der Roten Armee und einem kommunistischen Deutschland. Deshalb setzte sich der britische Imperialismus dafür ein, die deutsche ArbeiterInnenklasse nicht zu sehr zu reizen und auszupressen.
Doch Grossbritanniens Vormachtstellung auf den Weltmeeren war im Schwinden, der Schuldenstand hoch, das Kolonialreich zeigte erste Risse, die Vormachtstellung der Londoner Finanzwelt war bereits stark angeknackst. Der strategische Gewinner des Ersten Weltkrieges waren die USA. Die Rivalität zwischen der britischen und der amerikanischen Bourgeoisie war so gross, dass viele Analysten es in der Zwischenkriegszeit für wahrscheinlich hielten, dass ein neuer Weltkrieg zwischen Britannien und den USA stattfinden würde.
Die wirtschaftlich dominante Kraft der USA gegenüber der untergehenden Weltmacht Britannien schloss eine solche Option jedoch aus. Das Londoner Establishment musste sich an die Idee gewöhnen, als zweitrangige imperialistische Kraft an der Seite der USA den Zweiten Weltkrieg zu bestreiten. Als die USA zur Jahreswende 1941/42 als aktive Kriegsmacht in den Krieg eintraten, hatten sie in den vorangegangenen Jahren politisch und wirtschaftlich ihre Vormachtstellung gegenüber dem von den Hitler-Truppen bedrängten Grossbritannien vertraglich und materiell abgesichert: Nutzungsrechte der USA in britischen Kolonien, Transfer des Goldschatzes in die USA, Anerkennung des Dollars als neue Welt-Leitwährung, unvorteilhafte Handelsbeziehungen,… Die Rivalitäten zwischen London und Washington waren auch während des gesamten Krieges wirkmächtig, verzögerten den Sieg über Hitler-Deutschland beträchtlich und führten die Sowjetunion an den Rand ihres Zusammenbruchs.
Ein kurzer Blick zum ostasiatischen/pazifischen Raum, dem zweiten Hauptschauplatz des Zweiten Weltkrieges neben Europa, zeigt, dass der Zweite Weltkrieg aber mehr als eine lineare Fortsetzung des Ersten Weltkrieges war. Japan stand im Ersten Weltkrieg in einer Front mit den USA, Grossbritannien und Frankreich, kam sowohl bei den Pariser Friedensverträgen 1919 als auch beim Washingtoner Flottenabkommen 1922 gut weg und war keinerlei Demütigung von seinen späteren Feinden ausgesetzt. Trotzdem führten die ökonomischen Widersprüche, die gegensätzlichen imperialistischen Interessen unausweichlich zum Kampf um die Kontrolle und Beherrschung der pazifisch-ostasiatischen Region. Der Kampf um den Pazifik und China war das zentrale Interesse der sich zuerst „isolationistisch“ gebärdenden USA im Zweiten Weltkrieg. Erst zur Jahreswende 1941/42 traten die USA in den Krieg ein und richteten ihr Hauptinteresse dabei auf die pazifische Weltregion. Churchill beklagte sich in seinen Memoiren seitenweise bitterlich, wie schwierig es gewesen war, die USA zum Kriegseintritt gegen Deutschland zu bewegen.
Zusammenfassend muss man feststellen: Die Zerstörungen durch den Krieg von 1914 bis 1918 und die unklare Nachkriegsordnung waren nicht ausreichend, um auf ihrer Grundlage einen neuen kapitalistischen (Wiederaufbau-) Boom zu ermöglichen. Die erste erfolgreiche Übernahme der Staatsmacht durch die ArbeiterInnenklasse in Russland verkomplizierte die Lage des Kapitalismus zusätzlich. Das Ergebnis waren im Wesentlichen zwei Jahrzehnte ökonomischer Stagnation der Weltwirtschaft, die 1929 in eine tiefe Krise stürzte. Protektionistische Massnahmen („Wirtschaftskriege“) gingen überall den neuen Waffengängen voran. Weit entfernt von einer Lösung spitzten sich die imperialistischen Gegensätze weiter zu. Die aufstrebende Nation Japan eröffnete 1937 den Krieg am chinesischen Festland, in Europa setzte die zwischen revolutionärer ArbeiterInnenklasse und den Siegermächten eingepferchte deutsche Bourgeoisie auf Hitler, der versprach, planmässig auf den äusseren „Befreiungsschlag“ hinzuarbeiten. Wesentliche Teile des deutschen Finanz- und Grosskapitals unterstützten ab 1932 den Nationalsozialismus entscheidend, da sie hofften, durch die Zerstörung der ArbeiterInnenbewegung ihre Lage schlagartig und gewaltsam verbessern zu können. Die „Industrielleneingabe“ vom 19. November 1932, in der 20 Vertreter der Industrie und des Bankwesens Deutschlands den damaligen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg aufforderten, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen, ist eines der zentralsten Dokumente für die engen Bande zwischen Kapital und Faschismus in Deutschland.
Konnte Hitler die ersten territorialen Eroberungen (Saarland, Österreich, Tschechien) noch unter Zustimmung der späteren Kriegsgegner, also „friedlich“, erzielen, so bedeutete der Überfall auf Polen am 1. September 1939 den Beginn der kriegerischen Neuaufteilung Europas.
Demokratie gegen Faschismus?
Die grösste Legende des Zweiten Weltkrieges lautet, dass es sich um einen Krieg der Demokratie gegen den Faschismus gehandelt habe. Der britische Premier Winston Churchill charakterisierte in seinem Buch „Grosse Zeitgenossen“ noch 1939 den Führer so: „Ich habe immer gesagt, dass, wenn Grossbritannien einen Krieg verlieren würde, dass ich hoffen würde, dass wir einen Hitler finden würden, der uns zu unserem rechtmässigen Platz unter den Nationen zurückführt.“ Solange die deutschen Expansionsbestrebungen die eigenen Interessen nicht tangierten, fanden diese die Zustimmung des britischen Establishments. So unterstützte Grossbritannien effektiv Hitlers Wiederaufrüstung im Rahmen des Britisch-Deutschen Flottenabkommens von 1935, das eine Vergrösserung der Deutschen Kriegsmarine über die im Versailler Vertrag vorgesehenen Grenzen erlaubte. David Lloyd George, der berühmte liberale britische Staatsmann, bezeichnete Hitler als „Bollwerk gegen den Bolschewismus“. Mit der gleichen Argumentation wurde Mussolini 1927 von Churchill lobgepriesen: „Wäre ich Italiener, bin ich mir sicher, dass ich vom Anfang bis zum Ende aus ganzem Herzen auf Ihrer Seite gewesen wäre in Ihrem triumphalen Kampf gegen die bestialischen Triebe des Leninismus.“
Erst der deutsche Überfall auf Polen und die damit verbundene Bedrohung der vom britischen und französischen Imperialismus abhängigen Gebiete in Osteuropa und der restlichen Welt liessen die Entscheidung zugunsten eines Waffenganges gegen Deutschland fallen. Die positive Haltung der britischen Elite zum Faschismus als Mittel der Klassenunterdrückung blieb jedoch über den Krieg hinweg eine Konstante in der Kriegsführung der Royal Army. Die britische Bevölkerung und insbesondere die ArbeiterInnenklasse behielten stets ein waches Auge und eine kritische Haltung gegenüber den Absichten ihrer herrschenden Klasse. Dies bezeugen sowohl mittlerweile veröffentlichte Geheimdienstberichte als auch Streiks, Demonstrationen und politische Dokumente, zu deren klarsten und besten jene der marxistischen InternationalistInnen der Revolutionary Communist Party rund um ihren führenden Kopf Ted Grant zählen.
Sitzkrieg und schnelle Erfolge
Im September 1939 überfielen Hitlers Armeen Polen und rangen die Truppen des polnischen Regimes binnen weniger Tage nieder. Polen wurde zwischen Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilt. Frankreich und Grossbritannien erklärten Deutschland am 3. 9. 1939 den Krieg und begannen zwei Tage später einen mehr symbolischen Angriff auf das Saarland. Diese Kriegsphase wird als „Sitzkrieg“ bezeichnet, da über Monate hinweg kaum militärische Aktionen gesetzt wurden. Diese Untätigkeit der Westalliierten erlaubte es Hitler, Anfang 1940 Dänemark und Norwegen in einem Blitzkrieg niederzuwerfen, bevor er sich im April 1940 entschieden nach Frankreich bewegte.
Währenddessen scheiterte Stalins Armee 1939/40 in einem Winterkrieg an der Eroberung Finnlands. Dieser Angriffskrieg der Sowjetunion war in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert und desorientierend für die internationale ArbeiterInnenklasse. Der Hitler-Stalin-Pakt vom 24. 8. 1939 war bereits ein schwerer Schlag für die ArbeiterInnenbewegung. Der Angriff auf Finnland war durch das geheime Zusatzprotokoll dieses Vertrages gedeckt. Aus der Sicht Deutschlands ermöglichte das Abkommen eine sichere erste Ostexpansion gegen die Interessen der West-Alliierten. In der geopolitischen Kurzsichtigkeit der Kreml-Bürokratie glaubte man an eine langfristige Existenz-Garantie einer expandierenden Sowjetunion an der Seite Deutschlands. Die Kriegslieferungen aus der Sowjetunion ersetzten die durch die See-Blockade geschädigte deutsche Kriegsindustrie. Das militärische Desaster der Roten Armee in Finnland dürfte zu einer Beschleunigung der deutschen Kriegsbemühungen gegen die Sowjetunion geführt haben.
Nach dem schnellen militärischen Zusammenbruch Frankreichs im Juni 1940 schloss Hitler einen Friedensvertrag mit Marschall Petain, der in Südfrankreich ein faschistisches Regime errichtete. De Gaulle repräsentierte damals jenen Flügel des morschen französischen Staatsapparates, der gestützt auf Teile des französischen Kolonialreiches und mit britischer Unterstützung eine Fortsetzung des Krieges organisierte. Es folgten die Luftschlacht um England und der Krieg um die Versorgungslinien im Atlantik. Die territoriale Expansion wurde am Balkan fortgesetzt. Gleichzeitig wurden die Vorbereitungen auf den Angriff auf die Sowjetunion intensiviert und traten in die konkrete Planungsphase.
Der Angriff auf die Sowjetunion
Mit dem Überfall Deutschlands und seiner Verbündeten auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 änderte sich der Konfliktcharakter schlagartig. Trotz aller Rückschritte und Verbrechen des Stalinismus war die Sowjetunion immer noch ein Staat, in dem der Kapitalismus beseitigt war und die Planwirtschaft zumindest die Grundlage für eine bessere Gesellschaft legen konnte. Ein Sieg der Achsenmächte dagegen hätte den Kapitalismus restauriert, die Sowjetunion in eine deutsche Agrar-Kolonie verwandelt und alle noch verbliebenen Errungenschaften der Oktoberrevolution von 1917 sowie ein grosser Teil der Bevölkerung wären mit den Mitteln der Nazi-Barbarei ausradiert worden.
Politisch am besten vorbereitet für diesen Krieg waren die AnhängerInnen der verfolgten Linken Opposition Trotzkis. Sie warnten bereits vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs vor der Unausweichlichkeit dieser Auseinandersetzung. Die Clique um Stalin fühlte sich durch ihre Diplomatie jedoch in Sicherheit. Ihr Hauptaugenmerk lag in der Vernichtung der inneren Opposition. Die politischen Säuberungen der Roten Armee hatten diese an den Rand der Kampfunfähigkeit gebracht, da Stalin das gesamte erprobte und politisch bewusste Offizierskorps zerschlagen hatte.
Die politische Kurzsichtigkeit der Stalin-Bürokratie führte auch dazu, dass alle Informationen (die sie etwa durch das kommunistische Agentennetzwerk „Rote Kapelle“ erhalten hatte), die auf einen Angriff auf die Sowjetunion deuteten, ignoriert wurden. Selbst nach dem erfolgten Angriff dauerte es Tage bis diese Realität von der Führung anerkannt wurde.
In diesem Zustand der Desorganisation gelang es den Hitler-Truppen, innerhalb von wenigen Monaten riesige Gebietsgewinne zu machen. Erst vor Moskau konnte die Furie des faschistischen Angriffes gestoppt werden.
Hauptschauplatz „Ostfront“
Im Gegensatz zum bisherigen Kriegsverlauf spannt Deutschland nun alle Kräfte an und wirft sie in den Osten. Bis zum Kriegsende sind die Hauptkräfte der Wehrmacht und des militärisch-industriellen Komplexes auf die Niederlage der Sowjetunion gerichtet. 3,2 Millionen deutsche Soldaten plus zahlreiche Hilfs- und Freiwilligenverbände eröffnen diesen grössten Feldzug der Geschichte. Stalin drängt auf Hilfslieferungen und die Eröffnung einer zweiten Front in Westeuropa. Insbesondere Churchill stellt sich hier taub. Er spekuliert auf eine gegenseitige Ermüdung Deutschlands und der Sowjetunion und konzentriert sich auf die Sicherung britischer Interessen im östlichen Mittelmeer und im Nahen Osten. Erst als der Sowjetunion auf Basis der überlegenen Moral ihrer Truppen und Partisanenverbände sowie der raschen Reindustrialisierung auf Basis der Planwirtschaft gelingt, das Kriegsgeschick in den Schlachten von Stalingrad und Kursk zu wenden und ab 1943/44 eine grossangelegte Gegenoffensive zu starten, konkretisieren Churchill und Roosevelt die Eröffnung einer Front am Atlantik.
Die Landung in der Normandie erfolgte mit dem Ziel, vor der Roten Armee in Berlin einzutreffen. Die imperialistischen Strategen fürchteten ein Vordringen der Roten Armee bis zum Ärmelkanal und damit ein kommunistisches Europa. Die Angst vor dem Kommunismus wurde überhaupt zu einer bestimmenden Furcht in London und Washington. Griechenland, Jugoslawien und Italien standen dabei aufgrund der Stärke der dort bewaffneten und in Partisanenarmeen organisierten ArbeiterInnenklasse im Fokus. Churchill rühmte sich, durch einen tagelangen Kampfeinsatz der britischen Armee den „trotzkistischen Aufstand“ in Athen unterdrückt zu haben. Die von den Alliierten eingesetzte Regierung ehemaliger faschistischer Kollaborateure in Athen provozierte die griechische ArbeiterInnenklasse dermassen, dass nur mit einer offenen militärischen Intervention der Kapitalismus am südlichen Balkan gerettet werden konnte. Weiter nördlich befreite Titos Partisanenarmee jedoch den Balkan bis hinauf an den Rand der südlichen Alpen.
Am Kriegsverlauf in Italien kann man die Doppelstrategie der West-Alliierten besonders gut nachvollziehen. Nach 20 Jahren des faschistischen Terrors hatte die italienische ArbeiterInnenklasse den Faschismus satt. Am 5. 3. 1943 begann im Werk Fiat Mirafiori eine massive Streikwelle. Ein Vertrauter Mussolinis beschrieb dem Duce die sich entwickelnde Revolution: „Wenn sie dir sagen, dass es hier nur um ökonomische Forderungen gehe, lügen sie. […] Die Partei ist machtlos und weggefegt. Unglaubliche Dinge passieren. Überall in der Strassenbahn, den Cafés, den Kinos, den Zügen kritisieren und organisieren sich die Menschen gegen das Regime, ziehen nicht nur über diesen oder jenen faschistischen Funktionär her, sondern gegen den Duce in Person. […] Sogar die Polizei ist absent, als ob sie nichts mehr zu tun hätte.“
Nur ein Separatfrieden konnte die soziale Revolution verhindern. Als Mussolini vor Hitler einknickte, war dies im Juli 1943 das Signal für eine Palastrevolte. In Rom feierten zehntausende Menschen, darunter deutsche Soldaten, den Sturz Mussolinis. Die Alliierten landeten in Sizilien und versuchten, einen Separatfrieden mit der italienischen Monarchie zu erreichen. Militärischen Druck übten sie nur auf die revoltierenden Arbeiterstädte Nord- und Mittelitaliens aus: Diese wurden in Schutt und Asche gebombt, um der „Anarchie“ zuvorzukommen. Turin, Mailand und andere Industriestädte wurden nämlich im August 1943 von der ArbeiterInnenklasse befreit. Räte organisierten das öffentliche Leben. Die Welle der Massenstreiks und des Aufstandes war so stark, dass sogar italienische ZwangsarbeiterInnen in Deutschland streikten und in deutschen Städten demonstrierten. Der Wunsch nach einem italienischen Separatfrieden zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung war so gross, dass selbst mit Repräsentanten der Waffen-SS Geheimverhandlungen über eine friedliche Übergabe Italiens geführt wurden. Der Nutzen für Deutschland wäre gewesen, zusätzliche Truppen für den Kampf gegen die Sowjetunion zu bekommen. Die von den adeligen Hitler-Attentätern des Juli 1944 anvisierte Option eines Friedens an der Westfront und eines gemeinsamen Kampfes gegen den Kommunismus waren nicht aus der Luft gegriffen, wie sich in den letzten Kriegstagen zeigte: Grossbritannien liess bis zu 400.000 deutsche Soldaten, offiziell in Kriegsgefangenschaft, weiterhin ausbilden, ihre Kommandostruktur intakt und sie sogar bewaffnet. Selbst nach dem Krieg schrieb Churchill, dass es der grösste Fehler gewesen sei, die Atombomben auf Japan zu werfen, anstatt die Sowjetunion damit zu bombardieren.
Politischer Verrat
Der schnelle Vormarsch der Roten Armee liess den West-Alliierten jedoch keine andere Option, als den Krieg gegen Deutschland in unveränderter Konstellation zu Ende zu führen. Stalin zeigte sich hier als treuer Verbündeter. Letztendlich gelang es nur der politischen Autorität der Sowjetunion, die Partisanenentwaffnungen in Italien, Frankreich und Griechenland durchzusetzen. Allein Jugoslawien erwies sich sowohl für den Westen als auch für Stalin als verloren. Indem die Revolution jedoch in den anderen Ländern gestoppt wurde, wurde auch die Basis einer demokratischen Konterrevolution in Westeuropa gelegt. Auf Basis dieses politischen Verrates des Stalinismus wurden die Weichen für einen kapitalistischen Wiederaufschwung in Europa und Japan gelegt. Dies bescherte uns in Westeuropa ein „Goldenes Zeitalter“ von Wirtschaftsaufschwung und sozialer Verbesserung. Doch diese Nachkriegsrendite ist heute aufgebraucht. Krisen und die Verschärfung von Widersprüchen zwischen den imperialistischen Mächten (der Konflikt mit Russland, die Krisen im Nahen Osten) sowie die brutale Krisenbewältigung im Sinne des deutschen Kapitals in Europa zeigen, dass dieser Friede nur die momentane Abwesenheit von Krieg zwischen den Nationen ist. Nur die Verwirklichung der „sozialistischen Staaten von Europa“ garantiert, dass dieser Kontinent dauerhaft ein Ort und Quelle der Zivilisation werden wird.
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024
Europa — von Jack Halinski-Fitzpatrick, marxist.com — 11. 11. 2024