Die sozialistische Föderation Jugoslawiens wurde im Jahre 1945 gegründet, nachdem die Partisanen die faschistisch kontrollierten Gebiet befreit hatten. Die Partisanen, mit Tito an der Spitze, errichteten auf dem Gebiet ein sozialistisch-stalinistisches Regime. Auf Grund von Interessengegensätzen mit den UDSSR-Bürokraten wurde Jugoslawien 1948 aus der Kominform (dem von Sowjetrussland dominierten gemeinsamen Wirtschaftsraum) ausgeschlossen. Dieser Rausschmiss bescherte dem Land grosse wirtschaftliche Probleme, weil es stark vom Sowjetblock abhängig war.
Top-down Selbstverwaltung und «Marktsozialismus»
Die jugoslawischen Bürokraten versuchten, diese Probleme zu überwinden – nicht durch eine revolutionäre Umwälzung des ganzen Systems, sondern durch ein Genossenschaftssystem (Selbstverwaltung genannt) und später durch den Abbau der Planwirtschaft und eine Öffnung für den Markt, was allgemein als «Sozialistischen Marktwirtschaft» bezeichnet wurde. Die «Selbstverwaltung» liess jedoch sehr wenig Raum für eine ArbeiterInnendemokratie. Und der etablierte Quasi-Markt war keine Lösung, im Gegenteil: es kam zu Arbeitslosigkeit, Inflation und wachsenden Einkommensunterschieden. So entstand die materiellen Basis für die Spannungen. Es fehlte nur noch einen Funken, damit eine revolutionäre Bewegung erwachte.
Der Funke kam
Der grösste jugoslawische Jugendstreik begann am 2. Juni 1968. Auslöser war eine brutale Intervention der Polizei. 8000 Studierende versammelten sich in den Vororten von Belgrad und demonstrierten am darauffolgenden Tag, während die Polizei schon auf sie wartete. Die Polizeirepression zwang die Studierenden, in der Belgrader Universität (umbenannt in «Rote Karl-Marx-Universität) Zuflucht zu suchen und diese bis zum 9. Juni zu besetzen. Ihre Forderungen beschränkten sich nicht auf akademische Probleme; ihre Slogans waren «Kein Sozialismus ohne Freiheit, keine Freiheit ohne Sozialismus», «Studenten mit den Arbeitern» und «Bürokraten, Hände weg von den Arbeitern». Durch die Solidarität mit den Belgrader StudentInnen weitete sich die Bewegung auf andere Grossstädte aus.
Die StudentInnenbewegung
Ende der 60er Jahre entstand eine neue Generation politisierter Jugendlicher. Sie war nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Sie war mit den Partisanen und der Avantgarde aufgewachsen, ihre Inspiration kam aber mehr von Che Guevara als von den alten jugoslawischen Apparatschiks. Ihre Kritik war kompromisslos: sie lehnten die verknöcherten Dogmen des Stalinismus ab, die damals noch als Marxismus galten.
Während diese Generation für Verbesserungen an den Universitäten kämpfte, stellte ihr Aktionsprogramm den Kampf gegen Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit, Korruption, sowie technokratische und unternehmerische Bürokratie in den Vordergrund. Sie hatte weder Illusionen in den Stalinismus noch in den freien oder Sozialistischen Markt. Sie war zutiefst internationalistisch und knüpfte solidarische Beziehungen zu den damaligen Kämpfen der ganzen Welt (vor mit den Bewegungen in Polen, Frankreich und der BRD), als auch mit jugoslawischen ArbeiterInnen. Zwei Jahre zuvor mobilisierten sie gegen den Krieg in Vietnam, wobei sie die jugoslawische Polizei als Repressionsinstrument – und keineswegs als Volksmiliz – kennenlerne. Sie verfolgten auch aufmerksam die Lage in der Tschechoslowakei (siehe «Das Jahr der Revolutionen»). Obwohl die Bewegung von Intellektuellen und KünstlerInnen unterstützt wurde, war sie nicht so gross und mächtig wie in Paris oder Warschau. Korrekter weise suchten sie die Antwort auf die Probleme des «Marktsozialismus» nicht in verstärkter Konkurrenz, sondern im Internationalismus und der Solidarität.
Ein neuer Kampf um Selbstverwaltung wandte sich gegen die als «Marxismus» verkleidete offizielle stalinistische Ideologie, wonach die Arbeitenden sich bereits selbst verwalten würden. Dieser «Marxismus» wurde entlarvt als das, was er in Wirklichkeit war: der Mythos der Partei und der aufstrebenden Wirtschaftselite (der «roten Bourgeoisie»), die, einmal als solche anerkannt, ihre Macht nur noch durch Repression rechtfertigen konnte.
Spaltung und Unterdrückung
Durch die Presse und den Fernsehkanal der Partei wurden die Ereignisse vor den Arbeitenden verzerrt. Die SchülerInnen wurden als Schläger bezeichnet – als KleinbürgerInnen, die ihre materielle Situation verteidigten und mehr Privilegien beanspruchten. In Wirklichkeit versuchten die StudentInnen, die Arbeitenden durch Flugblätter und Slogans von der Notwendigkeit der Einheit zwischen den Studierenden und den ArbeiterInnen zu überzeugen. Wie die (zensierte) Zeitung Student schrieb: «Die Presse hat es wieder einmal geschafft, die Ereignisse zu verzerren […]. Die Zeitungen zitierten keine einzige Rede, welche die ungerechtfertigten sozialen Unterschiede in Frage stellte […] und liessen unsere Slogans ausser Acht […], die eine einzige Idee und ein einziges Gefühl ausdrückten; nämlich, dass die Stossrichtung und die Interessen der Studenten unzertrennlich mit denen der Arbeiterklasse verbunden sind». (Student, 4. Juni 1968, p. 1)
Für die StudentInnen war dieser Kampf, ebenso wie der Kampf um die Selbstverwaltung, von grundlegender Bedeutung für die Arbeiterklasse von Jugoslawien, während für das Regime eine solche Vereinigung zutiefst gefährlich war. So «erklärten» die Betriebsvorsitzenden den Studentenkampf den Angestellten und gaben ihnen die Anweisungen, «’ihre’ Fabriken vor Angriffen von ‘gewalttätigen’ Studenten zu schützen. [Sie] sendeten im Namen der ‘Arbeiterkollektive’ Briefe an die Presse und gratulierten der Polizei zur Rettung der jugoslawischen Selbstverwaltung vor der Studentengewalt». (PERLMAN Fredy, ZAGNOLI Nello. Naissance d’un mouvement révolutionnaire en Yougoslavie. In: L’Homme et la société, N. 16, 1970, pp. 267-285.)
In den folgenden Jahren startete die Regierung eine ganze Reihe von Prozessen, «von denen einer politisch bedeutsamer ist und nicht zufällig, im Gegensatz zu den anderen, in Vergessenheit geraten ist: der ‘trotzkistische’ Prozess von 1972». (PAVLOVIC Radoslav, Belgrade 1968-1998 : de la révolution au nationalisme, Inprecor, juillet-août 1998) Es handelte sich dabei um AktivistInnen, die zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, weil sie zu einer trotzkistischen Gruppe aus Paris Kontakt aufgenommen hatten.
Selbstverwaltung von unten!
Die Bewegung wurde nicht von «Klassenfeinden» angeführt, die sich den Revolutionären in der Regierung widersetzen, sondern von revolutionären jugoslawischen MarxistInnen. Die jugoslawische Bürokraten suchten bei Adam Smith nach Wundermittel gegen die Rezession. Doch der freie Markt konnte die Probleme im Sozialismus ebenso wenig lösen wie im Kapitalismus. Die jugoslawischen StudentInnen verstanden 1968, dass die wirkliche Antwort auf den Stalinismus und den Markt in einer echt sozialistischen, demokratischen Planung durch die Arbeitenden selbst und deren internationaler Solidarität liegt.
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Kriege der 90er Jahre, die das Land auseinandergerissen haben, weitgehend das Ergebnis von Titos politischer Unterdrückung der 70er Jahre ist. Diese war sehr gezielt nach links gerichtet und hat das Feld der nationalistischen und faschistischen Rechte frei gemacht. Auch heute, 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Regime in Osteuropa legitimiert die Erzählung vom “Ende der Geschichte” die Herrschaft des Kapitalismus. Doch heute wie eh und jeh gilt gleiche Grundsatz: Sozialismus oder Barbarei!
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