Eine revolutionäre Periode ist voller Herausforderungen. Deshalb braucht ihre Führung absolute theoretische Klarheit. Die Regierung Allendes veranschaulicht die Überlegenheit der marxistischen Ideen und die Verwirrung des Reformismus, der dazu verurteilt ist, dieselben Fehler zu wiederholen.
Am 11. September 1973 führte General Augusto Pinochet einen ausserordentlich blutigen Staatsstreich gegen die chilenische Arbeiterbewegung durch. Dieses Ereignis ist bis heute eine der schrecklichsten Niederlagen der lateinamerikanischen Massen. Zum 50. Jahrestag dieses Ereignisses überschlägt sich die Linke mit Huldigungen für das Heldentum des Reformisten Allendes. Sie stellen Chile als Referenz für den friedlichen Weg zum Sozialismus dar, der unglücklicherweise an der böswilligen Intervention der CIA und des US-Imperialismus gescheitert sei. Was die Linksreformer jedoch systematisch vergessen, ist, die wahren Lehren aus dieser Niederlage zu ziehen.
In Wirklichkeit ist Pinochets Staatsstreich das eindeutigste historische Beispiel für das Scheitern des Reformismus, der glaubt, den Kapitalismus allmählich umgestalten zu können, ohne mit dem bürgerlichen Staat brechen zu müssen. Wenn wir als Kommunisten Allende und die Tausenden Arbeiterinnen und Arbeiter, die heldenhaft kämpften und schliesslich vom Pinochet-Regime gefoltert und ermordet wurden, wirklich ehren wollen, dann ist es unsere Aufgabe, diese Erfahrung und die Rolle der sozialistischen Regierung zu studieren, damit sich eine solche Katastrophe nie wiederholt. Eine zentrale Lehre ist die Klassennatur des bürgerlichen Staates.
1970 ist die grosse Mehrheit der chilenischen Massen brutaler Ausbeutung ausgesetzt und lebte unter erbärmlichen Bedingungen, die an Leibeigenschaft oder Sklaverei grenzen. Bankiers, Landbesitzer, Industrielle und die Militärkaste bilden einen homogenen, schwerreichen Block, unter der Fuchtel des US-Imperialismus. Die jahrzehntelange Herrschaft dieser Oligarchie hat in den Massen ein tiefes Verlangen nach radikalen gesellschaftlichen Veränderungen ausgelöst. Die Arbeiterklasse ist zur entscheidenden Kraft in der Gesellschaft geworden. 75% der Bevölkerung sind Lohnabhängige, die Gewerkschaften sind stark. Diese Situation und die zahlreichen Krisen des chilenischen Kapitalismus haben zu einer starken Polarisierung und zu Klassenkämpfen geführt. Die Arbeiterklasse konnte den Kapitalisten in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe von sozialen und demokratischen Reformen abringen, doch nun streben sie nach viel mehr. Diese Dynamik bedroht immer direkter das Privateigentum und die Profite der Kapitalisten.
Es ist dieser Kontext revolutionärer Gärung, der zum Resultat der Präsidentschaftswahlen vom 4. September 1970 führt. Die Wahlen brachten nicht nur eine grosse Niederlage für den Kandidaten der Bourgeoisie, sondern auch einen Sieg für die Unidad Popular, die Koalition der gesamten Linken, angeführt von den Sozialisten, Kommunisten und ihrem Kandidaten Salvador Allende. Während dieser Sieg die Breite der Bewegung und die Stimmung der Massen in bürgerlichen Bahnen widerspiegelt, ist die tatsächliche Situation in der Gesellschaft noch deutlich weiter fortgeschritten.
Der Sieg der Linken leitet eine neue Phase im revolutionären Prozess in Chile ein. Er beschleunigt die Bewegung und das Bewusstsein des Proletariats und der Bauernschaft. Die Unterstützung der Massen für die Regierung und ihre ersten Massnahmen zur Verstaatlichung und Enteignung der reichen Landbesitzer ist gigantisch. Schnell fordert ein wachsender Teil der Bewegung eine grundlegende Revolution im Gesundheits- und Bildungswesen, in der Wirtschaft und verlangt insbesondere die Arbeiterkontrolle über die grossen Textil- und Holzmonopole. Tausende von Fabrik- und Bauernkomitees organisieren sich im ganzen Land und drängen die Regierung dazu, viel weiter und schneller auf die soziale Umgestaltung des Landes hinzuarbeiten.
Die herrschende Klasse ist panisch, nicht wegen der Regierung oder ihres politischen Programms, sondern wegen der revolutionären Dynamik der Bewegung, die den gesamten chilenischen Kapitalismus bedroht. Die Bourgeoisie erkennt sehr früh, wie gefährlich die Situation für ihre Interessen ist, tatsächlich steckte sie bereits vor den Wahlen hinter einem fehlgeleiteten Putschversuch. Die CIA steht ab da im Kontakt mit der chilenischen Elite sowie den Führungskadern der Armee. Doch jedes Manöver der herrschenden Klasse stösst auf den Zorn der Massen, die bereit sind, ihre Forderungen bis zum Äussersten durchzusetzen. Dies lähmt die Stärke der Kapitalistenklasse. Ihre Reaktion beschränkt sich auf die Unterstützung faschistischer Gruppen und die bürokratische Sabotage jedes sozialen Fortschritts. Im ersten Jahr nach der Wahl Allendes konnte dieser Widerstand durch den phänomenalen Ansturm der Massen hinweggefegt werden.
Als Marxisten lehnen wir die Teilnahme an Wahlen nicht prinzipiell ab. Im Klassenkampf müssen alle verfügbaren Mittel eingesetzt werden, um die Interessen der Unterdrückten voranzubringen. Der Wahlsieg und die ersten Schritte der sozialistischen Regierung lehren uns, dass Wahlen einen starken Einfluss auf die Radikalisierung und den Verlauf des Klassenkampfes haben können. Allerdings ist es notwendig, sich der wahren Natur der bürgerlichen Demokratie bewusst zu sein. Die gesamte Geschichte, insbesondere die Geschichte Chiles, zeigt, dass die Kapitalistenklasse nur dann bereit ist, Demokratie zu tolerieren, wenn ihre Interessen unangetastet bleiben. Sobald ihr Eigentum in Gefahr ist, schert sie sich nicht mehr um irgendwelche Prinzipien oder die Einhaltung des Gesetzes.
Eine Analyse des unversöhnlichen Charakters der Klassengegensätze in der Gesellschaft und des Staates als Instrument der herrschenden Klasse ist in diesem Prozess notwendig. Der Staat ist ein Werkzeug zur Herrschaft einer Klasse über eine andere. Er ist das Instrument der Kapitalisten zur Aufrechterhaltung ihres Systems und zur Unterdrückung jeglicher revolutionärer Bestrebungen des Proletariats oder, in den Worten von Engels, einer Gruppe bewaffneter Männer, die das Eigentum der herrschenden Klasse schützen sollen. Dieser Charakter schliesst jeden Versuch aus, die Staatsmaschinerie für fortschrittliche oder sozialistische Zwecke zu nutzen. Die Aufgabe von Revolutionären ist es, klarzustellen, dass die Zerstörung der alten Institutionen der Bourgeoisie und ein klarer Bruch mit dem kapitalistischen Staat, seiner Armee, seiner Bürokratie usw. notwendig sind. Für die Verwirklichung des Sozialismus muss man sich auf die arbeitenden Massen stützen. Im Laufe des Kampfes werden diese ihre eigenen Institutionen aufbauen, um ihre Interessen zu verteidigen.
Salvador Allende zog die Schlüsse aus der Klassenanalyse nicht. Deshalb glaubte er dem Patriotismus der Armee, der Neutralität des Staates und anderen bürgerlichen Lügen. Der erste Ausdruck von Allendes mangelnder Klarheit zeigte sich bei seinem Amtsantritt, als er ein ernsthaftes Zugeständnis an die Bourgeoisie machte: Da er keine absolute Mehrheit hatte, schloss er einen Pakt, in dem er sich verpflichtete, weder die Armee noch die Staatsmaschinerie anzutasten. Die Bourgeoisie nahm die von der Unidad Popular geschlossenen Klassenkompromisse mit offenen Armen an, ohne auch nur eine Sekunde davon abzulassen, ihre Privilegien mit allen Mitteln zu verteidigen. Nachdem die Reaktion sich vom ersten Widerstand erholt hatte, konnte sie nun mit ihrer Arbeit beginnen, die Wirtschaft zu sabotieren und die Reformpolitik zu blockieren. Die hoch gelobten Kader der chilenischen Armee bereiteten aktiv den gewaltsamen Sturz von Allendes Regierung vor – vor aller Augen.
Zweifellos glaubte Salvador Allende wirklich, den Sozialismus auf friedlichem Wege verwirklichen zu können. Aber die Klassenwidersprüche, die die Gesellschaft durchziehen, existieren, ob man das nun wahrhaben will oder nicht. Was Marxisten von Reformisten unterscheidet, ist, dass wir sie akzeptieren und praktische Schlussfolgerungen daraus ziehen, während die Reformisten versuchen, sie auf allen möglichen Umwegen zu vermeiden. In der Tat begann die Unidad Popular in den Monaten nach den Wahlen mit Verstaatlichungen und der Aufteilung von Land. Gleichzeitig reagierte sie auf den Druck der Bürgerlichen, indem sie die Polizei gegen Bauernkomitees einsetzte, die bei den Enteignung „zu weit gingen“, und in den Städten zur Ruhe aufrief, um die Reaktion nicht zu „provozieren“. Damit manövrierte sich die Koalition in eine Sackgasse, indem sie versuchte, zwischen den verschiedenen Klassen zu jonglieren. Sie versäumten es, den revolutionären Schwung zu nutzen, und verstrickten sich in eine unmögliche Hinwendung zum bürgerlichen Staat. Indem sie sich nicht entschieden auf die Seite der Klasse der Zukunft stellten, schnitten sie sich von der einzigen Macht in der Gesellschaft ab, die jeder bürgerlichen Armee und jedem bürgerlichen Staat widerstehen und sie zerschlagen kann: der mobilisierten und organisierten Arbeiterklasse, die für ihre legitimen Bedürfnisse kämpft.
Mitte 1971 erlebte die chilenische Gesellschaft die allmähliche Organisation der Arbeiter der Industriequartiere (Cordones Industriales), die einen grossen Teil der Produktion, einschliesslich der Verteilung von Lebensmitteln, selbst verwalteten. Die Popularität der Unidad Popular breitete sich schnell auf traditionell konservative Schichten wie Bauern, Soldaten, Unteroffiziere, arme Handwerker usw. aus. Die Arbeiterklasse forderte wiederholt Waffen, um die Reaktion zu zerschlagen, und zeigte bei jeder Gelegenheit, dass sie bereit war, bis zum Äussersten zu gehen. Das Aufkommen von embryonalen Formen von Organen der Arbeiterdemokratie wirft die Machtfrage auf. Auf dem Höhepunkt der Bewegung waren eindeutig alle objektiven Bedingungen für eine mehrheitlich gewaltlose Umgestaltung der chilenischen Gesellschaft und die Übertragung der Macht in die Hände der Arbeiterklasse gegeben. Die herrschende Klasse schwankte und war demoralisiert: es war der Moment gekommen, um dem Kapitalismus einen vernichtenden Schlag zu versetzen, indem man die Massen bewaffnete, Neuwahlen ansetzte und die Staatsmaschinerie, seine Polizei und Armee zerschlug. Doch diese Situation und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten dauerten nicht ewig an.
Auf jede Sabotage und jede Offensive der Kapitalistenklasse reagierte das chilenische Proletariat mit Streiks und Massenkundgebungen. Als die CIA im Oktober 1972 einen Streik der LKW-Besitzer organisierte, um die Versorgung des Landes zu stören, reagierten die Arbeiter mit einem Generalstreik und der kollektiven Organisation der Lebensmittelverteilung. Doch auf sich allein gestellt und ohne Führung begannen die Massen zu ermüden.
Der Druck, den die Kapitalisten auf die reformistischen Führer ausüben, und ihr mangelndes Vertrauen in die Arbeiterklasse lassen sie einknicken. Sie liessen die Gelegenheit verstreichen und überliessen der Bourgeoisie die Kontrolle über Verwaltung, Armee und Polizei. Die Reaktion sitzt ruhig in diesen Institutionen und lässt die revolutionäre Welle an sich vorbeiziehen, während sie geduldig ihren Staatsstreich vorbereitet.
Während den drei Jahren erbitterten Kampfes hätten die Massen die sozialistische Revolution 100 Mal anführen können. Aber die Unbeweglichkeit ihrer Führung und die wirtschaftliche Situation, die aus der Wirtschaftssabotage der Bosse resultierte, ermüdeten die Arbeiter. Die reaktionären Kräfte erkannten, dass es an der Zeit war zu handeln. Die wichtigsten Generäle der Armee organisierten am 11. September 1973 den brutalen Sturz der Regierung der Unidad Popular und die Errichtung einer Militärdiktatur. Sie lösten alle Machtorgane der Arbeiter und Bauern auf, verboten alle linken Organisationen und Parteien und ertränkten die soziale Bewegung im Blut. In den folgenden Jahren werden 3’200 Menschen ermordet, 38’000 gefoltert, 130’000 inhaftiert und zwischen 250’000 und 1’000’000 Chilenen gehen ins Exil oder werden aus dem Land vertrieben. Die Blüte des organisierten Proletariats wird enthauptet, und alle treibenden Kräfte der Arbeiterbewegung werden äusserst gewalttätig und in einem selbst für Lateinamerika beispiellosen Ausmass ermordet.
Diese Katastrophe erscheint paradox, wenn man bedenkt, dass Allende gerade deshalb den Kampf verweigerte, um ein Blutbad zu verhindern. Am 4. September, sieben Tage vor dem Putsch, nahmen 800’000 Arbeiter in Santiago an einer Demonstration zur Verteidigung der Regierung teil, bei der skandiert wurde: „Schlagt zu, schlagt zu, wir wollen offene Massnahmen!“ oder „Allende, Allende, das Volk wird dich verteidigen!“. Trotz dieser eindeutigen Beweise für die Bereitschaft der Massen, die Revolution voranzutreiben, beugte sich der Präsident mit jedem Schritt dem Druck der Kapitalisten, anstatt sich auf die ausserordentliche Kraft der chilenischen Massen zu stützen. Allende glaubte ernsthaft an die Möglichkeit eines „chilenischen Wegs zum Sozialismus“, aber er hatte keine Methode, um aufzuzeigen, wer diesen Weg eröffnen oder ihn gegen einen Staatsstreich verteidigen würde.
Wer in der Theorie nicht mit den Kapitalisten bricht, wird auch in seiner Praxis nie mit dem Kapitalismus brechen. Der Reformismus stiftet Verwirrung, während unsere Feinde zu jedem Zeitpunkt bewusst und entschlossen die Interessen ihrer Klasse verteidigt haben.
Aus dem historischen Beispiel Chiles müssen wir die folgenden Lehren ziehen:
Erstens: In der kapitalistischen Gesellschaft gibt es Widersprüche, die zu einem unversöhnlichen Klassenkampf führen. Als Arbeiterklasse können wir uns in diesem Kampf nur auf unsere eigenen Kräfte stützen.
Zweitens ist der Staat ein Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klasse gegenüber der beherrschten Klasse. Daher ist es notwendig, bis zum bitteren Ende mit dem Kapitalismus und seinen Institutionen zu brechen; es gibt keine halbe Revolution. Aus diesem Grund ist eine langsame und friedliche Entwicklung vom Kapitalismus zum Sozialismus unmöglich.
Drittens muss man die marxistische Theorie studieren, um einen praktischen Leitfaden zu erlangen. Eine falsche oder ungenaue Methode führt zu tragischen Resultaten. Eine klare und realistische Theorie ist notwendig, um den Illusionen und dem Druck der Bourgeoisie nicht zu erliegen. Die Führung der Arbeiterbewegung muss sich mit dem Marxismus bewaffnen, um bereit zu sein, den Kampf bis zum Ende zu führen, d. h. bis zum vollständigen Sturz des Kapitalismus und der vollständigen, demokratischen Verwaltung der gesamten Gesellschaft durch die Arbeiterklasse.
Die chilenischen Arbeiter waren viele Male bereit, die Macht zu übernehmen. Es fehlte ihnen nur eine revolutionäre Führung, die ihrer Aufgabe gewachsen war. Die höchste letzte Ehre, welche wir der chilenischen Arbeiterklasse erweisen können, ist es, diese Führung heute auf der Grundlage ihrer Erfahrungen aufzubauen.
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