Ein Übergangsstaat hat zwangsläufig einen widersprüchlichen Charakter. Das Sowjetregime gründete sich auf den neuen Besitzverhältnissen, die aus der Oktoberrevolution hervorgingen, und enthielt dennoch viele Elemente, die aus der bürgerlichen Gesellschaft stammten. Die Verstaatlichung der Produktionsmittel ist die erste Bedingung einer Bewegung in Richtung Sozialismus, aber die Möglichkeit, die Gesellschaft auf eine höhere Stufe der menschlichen Entwicklung zu heben, hängt vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte ab. Sozialismus setzt einen höheren Stand der technischen Entwicklung, Arbeitsproduktivität und Kultur voraus, als man ihn noch nicht einmal in den meisten entwickelten kapitalistischen Gesellschaften findet. Es ist unmöglich, Sozialismus auf der Basis von Rückständigkeit aufzubauen.
In „Die verratene Revolution“ erklärt Trotzki den zwiespältigen Charakter des Übergangsstaates:
„Die bürgerlichen Normen der Verteilung sollten, indem sie das Wachstum der materiellen Macht vorantreiben, den sozialistischen Zielen dienen – aber nur zu allerletzt. Der Staat besitzt direkt und von Anfang an einen Doppelcharakter: Er ist sozialistisch insofern, als dass er das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln verteidigt; bürgerlich, indem er die Verteilung der Güter mit Hilfe des kapitalistischen Massstabes des Wertes und allen daraus folgenden Konsequenzen durchführt. Solch eine widersprüchliche Charakterisierung dürfte die Dogmatiker und Scholastiker schockieren, und wir können ihnen nur unser Mitgefühl ausdrücken.“
Nur der Sieg der Revolution in Westeuropa, besonders in Deutschland, hätte diesen Zustand ändern können. Die Vereinigung der deutsche Industrie und Technologie mit den riesigen natürlichen und menschlichen Ressourcen Russlands in einer sozialistischen Föderation hätte die materielle Grundlage für eine Reduzierung der Arbeitszeit geschaffen, die erste Bedingung für die Beteiligung der Arbeiterklasse an der Leitung von Industrie und Staat. Aber der Verrat durch die Sozialdemokraten ruinierte die deutsche Revolution und verurteilte die russische Revolution zu Isolation in einem rückständigen Land. Der Sieg der Bürokratie ging direkt daraus hervor. Von 1920 an absorbierte die Bürokratie legal oder auch illegal einen Teil des von der Arbeiterklasse erwirtschafteten Mehrwertes.
In gewissem Ausmass wäre dies auch in einem gesunden Arbeiterstaat der Fall. Die Beamten und Betriebsleiter würden einen Teil des Mehrwertes erhalten, aber sie hätten nur Anspruch auf das, was Marx „Lohn für Aufsicht“ nannte. Wir hätten dann, um Lenins Ausdruck zu gebrauchen, „einen Bourgeois ohne Bourgeoisie“ oder, mit Trotzkis Worten, einen Staat ohne Mandarine, einen Generalstab ohne Samurai. In solch einem Staat hätten Beamte keine Privilegien. Aber zieht man das sehr niedrige produktive und kulturelle Niveau in Russland in Betracht, wird klar, dass die Arbeiterklasse unfähig war, den Staat ohne die Hilfe der alten zaristischen Beamten und Armeeoffiziere zu betreiben, die von Anfang an eine Bezahlung forderten und auch bekamen, die weit über dem Durchschnitt lag. Berücksichtigt man auch die Isolation der Revolution in einem rückständigen Land, so war dies unvermeidlich. Dies war der fundamentale Grund, warum das Proletariat nicht an der Macht bleiben konnte. Nach dem Ende des Bürgerkrieges wurden die Arbeiter nach und nach von aufsteigenden Beamten, die sich selbst für unentbehrlich für die Verwaltung der Gesellschaft hielten, beiseite geschoben.
Lenin und Trotzki sahen keine Situation, in der die Revolution lange ohne den Sieg der Arbeiter in den entwickelten kapitalistischen Ländern überleben könnte. Sie nahmen an, dass unter solchen Bedingungen die kapitalistischen Elemente die Errungenschaften der Oktoberrevolution liquidieren würden. Dies fand nicht statt, obwohl es in den 20er Jahren möglich gewesen wäre, besonders in der NEP-Periode, als die Bolschewiken gezwungen waren, den reichen Bauern und dem althergebrachten Bürgertum grosse Zugeständnisse zu machen. Kurz vor seiner letzten Erkrankung schloss Lenin mit Trotzki ein Bündnis zur Bekämpfung der Bürokratie, die, wie er fürchtete, die Bedingungen für einen Sieg der offenen bürgerlichen Konterrevolution schuf.
Die Frage nach dem Klassencharakter Russlands beschäftigte Trotzki bis unmittelbar vor seinem Tod. Wie konnte sich diese Art von Reaktion auf der Basis einer proletarischen Revolution entwickeln? Kurz vor seiner Verbannung aus der Sowjetunion setzte sich Trotzki mit dieser Frage auseinander:
„Wir müssen klar und deutlich sagen: Die fünf Jahre nach Lenins Tod waren Jahre der sozialen und politischen Reaktion. Die Parteiführung nach Lenin wurde ein unwissentlicher, aber umso wirkungsvollerer Ausdruck dieser Reaktion und auch ihr Instrument.“
„Andererseits traf die siegreiche Klasse, das Proletariat, ohne Unterstützung von aussen auf immer neue Hindernisse und Schwierigkeiten, es verlor seine Kraft und Begeisterung der ersten Tage, es kam zu Spaltungserscheinungen mit einer Bürokratie, die an der Spitze auftauchte und mehr und mehr im eigenen Interesse handelte, und es brachen Verzweiflung und Ermüdungserscheinung hervor. In dem Ausmass, in dem die Aktivität des Proletariats abnahm, wuchs die der bürgerlichen Klassen, vor allem der Schichten des Kleinbürgertums, das sich mit den alten Mitteln der Ausbeutung vorwärtskämpfte.“
Es gibt grosse Ähnlichkeiten zwischen revolutionären Prozesse, selbst wenn ihr Klassencharakter verschieden ist. Der Vergleich zwischen der russischen Revolution und der grossen französischen Revolution von 1789-94 kann innerhalb gewisser Grenzen Licht auf einige der fundamentalen Vorgänge werfen. Dies gilt für den Gebrauch von Ausdrücken wie „Thermidor“, der sich auf die Episode vom 27.Juli (9.Thermidor nach dem alten revolutionären Kalender) 1794 bezieht, als der rechte Flügel der revolutionären Jakobiner sich mit dem opportunistischen Zentrum (dem „Sumpf“) zusammenschloss, um Robespierre zu stürzen, womit das Abgleiten in Richtung politische Reaktion begann, das mit Napoleons Diktatur endete. Das bedeutete das Ende der Periode des Aufstiegs und den Beginn des Niedergangs. Dies zeigt sich in der Tatsache, dass sich in der Periode des Aufstiegs (1789-94) der Terror fast ausschliesslich gegen die Feinde der Revolution und jene, die mit der Reaktion Kompromisse eingehen wollten, richtete, nach dem Thermidor jedoch gegen den revolutionären Flügel selbst.
Darüber hinaus kann der Thermidor als Wendepunkt gesehen werden, an dem in der Revolution eine gewisse Erschöpfung eintritt, was sich in einem Rückzug ausdrückt, der der Reaktion den Weg ebnete. In Frankreich trat dies ein, als ein Teil der „Bergpartei“ (der revolutionäre Flügel des Nationalen Konventes) des Terrors überdrüssig wurde und des revolutionären Aufruhrs im Allgemeinen. Die Spaltung der „Bergpartei“ führte zur Reaktion durch den Thermidor. Gleichermassen kann der Ursprung der stalinistischen Reaktion in Russland auf eine vage Stimmung zugunsten der Beendigung der revolutionären Innovationen und der „Wiedererrichtung der Ordnung“ innerhalb der sowjetischen Verwaltung und des Kleinbürgertums nach dem Ende des Bürgerkriegs zurückgeführt werden. Diese reaktionäre Stimmung wurde in der Theorie vom „Sozialismus in einem Lande“ auf den Punkt gebracht. Wie in jeder historischen Analogie war auch der Vergleich mit dem Thermidor nur eine Annäherung und hat somit nur eine bedingte Gültigkeit. Trotzki erklärte in seinen Artikeln von 1929 seine Position folgendermassen:
„Ich beziehe mich hier zu allererst auf die Frage des Thermidor und aus demselben Grund auf die Frage nach dem Klassencharakter der Sowjetunion. Der Vergleich mit Thermidor kann nur bedingt gelten, wie jede historische Analogie. Thermidor signalisiert das erste siegreiche Stadium der Konterrevolution, das heißt den direkten Transfer der Macht aus den Händen der einen Klasse in die Hände der anderen, wobei dieser Transfer notwendigerweise mit Bürgerkrieg einhergeht. Dies wird jedoch durch die politische Tatsache verschleiert, dass der Kampf zwischen Fraktionen ein und derselben Partei stattfindet, die früher vereinigt waren. Thermidor bedeutet den direkten Transfer der Macht von einer Klasse zur anderen, nach dem die revolutionäre Klasse die Macht nicht zurückerobern kann außer durch einen bewaffneten Aufstand. Letzteres bedarf einer neuen revolutionären Situation, deren Entstehung von einem ganzen Komplex nationaler und internationaler Ursachen abhängt.“
Einige Jahre später überarbeitete Trotzki seine Position zum Thermidor in einem Artikel mit dem Titel „Der Arbeiterstaat und der Bonapartismus“. Er erklärte darin, dass die Analogie des Thermidors Anlass zu Fehlinterpretationen gab. Die ultralinke Gruppe des Demokratischen Zentralismus um Wladimir Smirnow stellte 1926 in Opposition zur Linken Opposition fest, dass das Proletariat schon die Macht verloren hätte und dass der Kapitalismus nach Russland zurückgekehrt sei. Für Trotzki war das vollkommen falsch und bedeutete für ihn, die Revolution lebendig zu begraben. Ohne historische Analogien können wir nicht von der Geschichte lernen. Aber wir müssen auch ihre Grenzen erkennen, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Dies war beim Thermidor der Fall.
Trotzki schrieb hierzu:
„1794 kam es durch Thermidor zum Wechsel der Macht von den einen Gruppen des Konvents zu anderen Gruppen, von einer Fraktion des `siegreichen Volkes` zu einer anderen Schicht desselben. War Thermidor konterrevolutionär? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie grosse Bedeutung wir im gegebenen Fall in den Begriff `Konterrevolution` legen. Die sozialen Umwälzungen von 1789 bis 1793 waren bürgerlicher Art. Im Grunde beschränkten sie sich auf den Austausch der feudalen Besitzverhältnisse durch bürgerliche. Die Konterrevolution hätte in Bezug auf die Französische Revolution die Rückkehr zur feudalen Ordnung bewirken müssen. Aber Thermidor machte noch nicht einmal einen Versuch in diese Richtung. Robespierre suchte unter den Handwerkern nach Unterstützung, die die Führung des mittleren Bürgertums bildeten. Bonaparte verbündete sich mit den Banken. Alle diese Veränderungen, die natürlich nicht nur politische, sondern auch soziale Auswirkungen hatten, ereigneten sich auf der Basis der neuen bürgerlichen Gesellschaft.
Von gleicher Bedeutung war der achtzehnte Brumaire von Bonaparte (das war das neue Datum für den 9.November 1799, als Napoleon die Macht ergriff und die Militärdiktatur errichtete), die nächste Station auf dem Weg der Reaktion. In beiden Fällen ging es weder um die Wiederherstellung der alten Besitzverhältnisse noch der Macht der früheren herrschenden Klassen, sondern um die Aufteilung der Gewinne aus dem neuen sozialen Regime unter den verschiedenen Sektionen des siegreichen `Dritten Standes`. Die Bourgeoisie eignete sich mehr und mehr Eigentum und Macht an (entweder direkt oder indirekt durch spezielle Agenten wie Bonaparte), unternahm aber nichts gegen die sozialen Errungenschaften der Revolution, im Gegenteil, sie versuchten sie bewusst zu stärken, zu organisieren und zu stabilisieren. Napoleon wachte über den bürgerlichen Besitz, den der Bauernschaft eingeschlossen, gegen den Widerstand und die Ansprüche der enteigneten Besitzer. Das feudale Europa hasste Napoleon als die Verkörperung der Revolution, und nach ihren Massstäben war dies nur richtig.“
Wir befassen uns hier mit einer Serie von politischen Konterrevolutionen auf der Grundlage der gleichen bürgerlichen Besitzverhältnisse. Trotzki enthüllt den Charakter und die Dynamik des Stalinismus, nicht als ein neues ausbeuterisches Klassensystem, sondern als sozialen Parasitismus auf dem Arbeiterstaat. Eine politische Konterrevolution hatte auf der Basis der vergesellschafteten Besitzverhältnisse stattgefunden. Die Arbeiterklasse hatte politische Macht verloren, aber die Konterrevolution hatte die Herrschaft des Bürgertums nicht wieder hergestellt. Die stalinistische Bürokratie hatte die politische Macht usurpiert. Dies war das Produkt sozialer Widersprüche die in einem Arbeiterstaat auftauchten, der in chronisch rückständigen Bedingungen isoliert war.
Auf der Basis der Ereignisse konnte Trotzki seine Analyse des Klassencharakters der UdSSR vertiefen und erweitern und seine Definitionen präzisieren. Etwa 1935 gab er den Begriff „Zentrismus“ auf, mit dem er den Bürokratismus beschrieb und übernahm eine passendere Definition seines Charakters: eine Form des proletarischen Bonapartismus. Um Trotzkis Gedanken zu verstehen, ist es zuerst notwendig, die marxistische Staatstheorie zu betrachten.
Nach marxistischer Vorstellung entsteht der Staat als notwendiges Instrument der Unterdrückung von einer Klasse durch die andere. Der Staat kann auf verschiedene Weise definiert werden. Eine der gebräuchlichsten für Marxisten ist es, sich auf den Staat als „bewaffnete Einheiten zur Verteidigung des Privatbesitzes“ zu beziehen. Letzen Endes werden alle Arten von Staaten darauf reduziert. In der Praxis ist der Staat jedoch viel mehr als Armee und Polizei. Der moderne Staat ist sogar im Kapitalismus ein bürokratisches Monster, ein Heer von Beamten, die einen riesigen Anteil des von der Arbeiterklasse produzierten Mehrwertes verschlingen.
Marx, Engels und Lenin erklärten den Staat alle als eine besondere Macht, die über der Gesellschaft steht und sich zunehmend von ihr entfremdet. Als generelle Diskussionsgrundlage können wir feststellen, dass jeder Staat das Interesse einer besonderen herrschenden Klasse reflektiert. Diese Beobachtung beantwortet aber nicht die Frage nach der spezifischen Rolle des Staates in der Gesellschaft. In Wahrheit hat die Staatsbürokratie ihre eigenen Interessen, die nicht notwendigerweise mit denen der herrschenden Klasse übereinstimmen und sogar in offenen Konflikt mit den letzteren geraten können. Letzten Endes besteht der Staat, wie Marx und Lenin feststellten, aus bewaffneten Einheiten und ihrem Gefolge. Das ist der Kern der marxistischen Definition. Dennoch muss man vorsichtig sein, wenn man ihre breiten marxistischen Verallgemeinerungen benutzt, die absolut betrachtet zweifellos korrekt sind. Die Wahrheit ist immer konkret, aber wenn man nicht den speziellen Fall und die besonderen Umstände betrachtet, wird man unvermeidlich zu falschen Schlüssen kommen.
Wenn wir die Geschichte der modernen Gesellschaft betrachten, finden wir viele Beispiele, in denen das Bürgertum politisch entmachtet wird und trotzdem die herrschende Klasse bleibt. Das nennen wir Bonapartismus, oder wie Marx es nannte „die nackte Herrschaft des Schwertes über die Gesellschaft“. Schauen wir uns Beispiele an.
Nachdem Tschiang-Kai-Tschek in China die Arbeiterklasse von Shanghai mit Hilfe der örtlichen Mafiabanden 1927 niedergeworfen hatte, organisierten die Banker Festbankette zu seinen Ehren und applaudierten ihm als dem Wohltäter und Retter der Zivilisation. Aber Tschiang wollte etwas Handfesteres als das Lob seiner Herren. Unhöflicherweise sperrte er die reichen Industriellen und Banker ins Gefängnis und erpresste ein Lösegeld in Millionenhöhe von ihnen, bevor er sie wieder freiliess. Er hatte für sie die Schmutzarbeit erledigt und verlangte nun den Preis von ihnen. Er hatte die Arbeiter von Shanghai nicht um der Kapitalisten willen niedergemacht, sondern für das, was es für ihn und seine Gangster an Macht und Reichtum bedeutete. Aber wer kann behaupten, dass die Banker im Gefängnis nicht immer noch die herrschende Klasse waren, obwohl sie nicht die politische Macht innehatten? Die chinesische Bourgeoisie muss sich wohl schwermütigen Gedanken über die Kompliziertheit einer Gesellschaft hingegeben haben, in der ein erheblicher Teil des aus den Arbeitern herausgequetschten Mehrwertes an ihre Bluthunde ging, während viele der Ihren im Gefängnis schmachteten.
Unter solchen Umständen ist die Bourgeoisie politisch entmachtet, die nackte Gewalt beherrscht die Gesellschaft. Ein enormer Teil des Mehrwertes wird von den Spitzenmilitärs und –beamten verkonsumiert. Aber es ist im Interesse dieser Bürokraten, dass die kapitalistische Ausbeutung der Arbeiter weitergeht, und sie werden so viel wie möglich aus der Bourgeoisie herausquetschen. Und sie werden deshalb das Privateigentum verteidigen. Somit bleibt die Bourgeoisie die herrschende Klasse, obwohl sie die direkte politische Macht verloren hat. Wir wissen, wen Napoleon repräsentierte. Wir wissen, wen Louis Bonaparte, Bismarck, Tschiang-Kai-Tschek, Hitler, Churchill und De Gaulle repräsentierten. Wenn wir uns nicht von der grundlegenden Frage nach den Eigentumsverhältnissen leiten lassen, werden wir unser Anliegen völlig aus den Augen verlieren.
Wenn man sich mit dem Staat befasst, ist die wichtigste Frage, die man beantworten muss: Welche Klasse repräsentiert er? Der Staat muss ein Instrument einer Klasse sein, welche repräsentierte er in Russland? Er konnte nicht die Kapitalistenklasse repräsentieren, denn die wurde 1917 enteignet. Es kann auch nicht behauptet werden, dass er die Interessen der Bauernklasse repräsentierte, oder die der Kleinbürger in der Stadt. Er repräsentierte ganz klar die Interessen der stalinistischen Bürokratie. Aber letzten Endes repräsentierte er als Form des proletarischen Bonapartismus die Arbeiterklasse insofern, als er die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Planwirtschaft und das Aussenhandelsmonopol verteidigte.
Bürgerliche Soziologen greifen auf willkürliche Definitionen zurück, um alle Arten gesellschaftlicher Gruppen und Untergruppen zu bezeichnen und verschleiern so die wirkliche Klassenbasis der Gesellschaft. Im Gegensatz hierzu definieren Marxisten eine gesellschaftliche Klasse aufgrund der Besitzverhältnisse. Das Argument, dass Bürokraten, die die Rolle von Managern spielen, zur herrschenden Klasse werden, ergibt keinen Sinn. Mit Sicherheit hat dies nichts mit der marxistischen Definition einer Klasse zu tun. Die Bürokratie erfüllte in ihrer Rolle als Managerschicht in der Produktion ihre Aufgabe wie es auch die Manager in kapitalistischen Unternehmen tun. Es gibt hier jedoch einen fundamentalen Unterschied. Manager arbeiten im Westen für die privaten Besitzer der Industrie (oder für den bürgerlichen Staat, der als Handlanger des privaten Sektors arbeitet). Sie besitzen die Industrie nicht und stellen keine separate soziale Klasse dar.
Als Manager haben sie Anspruch auf den „Lohn für die Aufsicht“ und nichts weiter. Genau dasselbe trifft für die Manager im Arbeiterstaat zu, auch in einem gesunden Arbeiterstaat, in dem es in der Übergangsperiode immer noch einen Unterschied in der Bezahlung von qualifizierter und unqualifizierter Arbeit gibt. Was die stalinistische Bürokratie jedoch charakterisierte, war ihr kolossaler Appetit auf den von der Arbeiterklasse produzierten Wohlstand. Dies hatte jedoch überhaupt nichts zu tun mit ihrer Funktion als Manager oder ihrem „Lohn für Aufsicht“. Wenn sie sich mehr genehmigen, so geschieht dies auf dieselbe Weise wie auch die faschistische oder bonapartistische Bürokratie einen Teil des von den Arbeitern produzierten Mehrwertes verkonsumieren. Aber die sind im marxistischen Sinne keine Klasse, sondern ein parasitäre Kaste. Trotzki stellt fest:
„In ihrer vorläufigen und regulierenden Funktion glich die sowjetische Bürokratie in ihrem Bestreben nach Aufrechterhaltung der sozialen Stellung und der Ausbeutung des Staatsapparates für persönliche Zwecke jeder anderen Bürokratie, besonders der faschistischen. Aber sie unterscheidet sich von dieser auch enorm stark. In keinem anderen Regime konnte eine Bürokratie einen solchen Grad an Unabhängigkeit von der herrschende Klasse erreichen.“
Die Privilegien der stalinistischen Bürokratie begannen genau dort, wo ihre produktiven Aufgaben (sofern es welche gab) endeten. Tatsächlich erhob sie sich ganz und gar nicht aus dem produktiven Bereich, sondern aus dem der Verteilung. Unter den Bedingungen allgemeiner Armut war es notwendig, zu entscheiden, wer was erhalten sollte. Trotzki verglich dies mit einer Schlange vor einer Bäckerei. Wenn es einen Mangel an Brot gibt und die Schlange lang ist, kann es zu Aufruhr kommen. Ein Gendarm muss dann die Schlange in der Reihe halten und dafür sorgen, dass jeder seinen Teil bekommt. Dabei kommt es oft vor, dass der Gendarm sich mehr nimmt als jeder andere. Das dürfte zu keiner besonders wohlwollenden Einstellung der Wartenden dem Gendarm gegenüber führen. Das macht ihn jedoch noch lange nicht zu einem Mitglied der herrschenden Klasse im marxistischen Sinne!
Der Staat ist das Instrument der Klassenherrschaft, des Zwanges, ein glorifizierter Polizist. Aber der Polizist ist nicht die herrschende Klasse. Die Polizei kann aufsässig und kriminell werden, aber dies macht aus ihr keine kapitalistische, feudale oder Sklaven besitzende Klasse. Der parasitäre Charakter der Bürokratie zeigt sich in der Tatsache, dass sie vorgibt, keine privilegierte Schicht zu sein. Mit Trotzkis Worten: „Die Aneignung eines riesigen Teils des nationalen Einkommens hat den Charakter sozialen Parasitismus.“ „Sie geniessen ihre Privilegien durch Machtmissbrauch. Sie verschleiern ihr Einkommen.“ „Die grössten Wohnungen, die saftigen Steaks und sogar Rolls Royces sind nicht genug, um aus der Bürokratie eine unabhängige herrschend Klasse zu machen.“
Die Arbeiterdemokratie unter Lenin und Trotzki wurde durch das bürokratische Regime Stalins ersetzt. Obwohl die politischen Formen sich radikal von denen der ersten Jahre unterschieden, blieben doch die vergesellschafteten Besitzverhältnisse erhalten. Diese Tatsache, nämlich die Existenz einer vergesellschafteten Planwirtschaft, definierte den grundlegenden Klassencharakter der Sowjetunion. Es handelte sich hier um einen Arbeiterstaat, der von der bürokratischen Konterrevolution furchtbar deformiert wurde. „Ein Tumor kann zu enormer Grösse heranwachsen und sogar den lebenden Organismus strangulieren, aber ein Tumor kann niemals ein unabhängiger Organismus werden“, bemerkte Trotzki.
Die sowjetische Bürokratie ähnelte anderen Bürokratien, besonders der faschistischen, jedoch mit einem sehr wichtigen Unterschied. Die faschistische Bürokratie stützte sich auf den Privatbesitz an Produktionsmitteln, und war der monströseste Ausdruck eines Regimes im Niedergang. Die stalinistische Bürokratie stützte sich auf die neuen Besitzverhältnisse, die durch die Revolution errichtet worden waren, die eine ganze Periode lang eine kolossale Vitalität zeigten. Bis vor kurzem war die russische Bürokratie gezwungen, den Staatsbesitz als ihre Quelle des Einkommens und der Macht zu verteidigen. Allein diese Tatsache befähigte sie, bei der Entwicklung der Produktivkräfte eine relativ progressive Rolle zu spielen. Dennoch blieb sie sogar in den besten Zeiten ein parasitäres Gewächs auf dem Arbeiterstaat, eine Quelle von endloser Vergeudung, von Korruption und Missmanagement. Sie hatte alle Laster, aber keine der historischen Tugenden einer herrschenden Klasse.
Wie Trotzki es ausdrückt: „Wenn der bonapartistische Pöbel eine Klasse ist, bedeutet dies, dass er keine Fehlgeburt, sondern ein echtes Kind der Geschichte ist. Wenn dieser marodierende Parasitismus `Ausbeutung` im wissenschaftlichen Sinne ist, bedeutet dies, dass die Bürokratie als für ein Wirtschaftssystem notwendige herrschende Klasse eine historische Zukunft besitzt.“ Dies ist ganz klar nicht der Fall. Ohne Zweifel hat die sowjetische Wirtschaft grosse Fortschritte erzielt, aber ihr Antrieb kam nicht aus der Bürokratie als solcher, sondern aus der vergesellschafteten Planwirtschaft. Die Bürokratie wurde zu einem massiven Bremsklotz für die kulturelle und technische Entwicklung Russlands. Bestenfalls spielte die Bürokratie eine relativ fortschrittliche Rolle beim Aufbau der Schwerindustrie, aber nur unter riesigen Opfern.
Der Staat unter Stalin hatte nichts gemein mit dem des Oktober, ausser Staatsbesitz und Planwirtschaft. Die von der Bürokratie durchgeführt politische Konterrevolution liquidierte das Regime der Demokratie der Arbeitersowjets vollständig, zerstörte jedoch nicht die neuen Besitzverhältnisse, die durch die Oktoberrevolution eingeführt worden waren. Die Bürokratie hatte die totale Kontrolle. Die Arbeiterklasse war der Gnade der Bürokratie ausgeliefert, von willkürlicher Entlassung, Exil, Gefängnis, Haft in psychiatrischen Krankenhäusern und allen anderen Methoden bedroht, mit denen ein totalitärer Staat sein Volk in fortwährender Furcht hält. Zusätzlich zu den offiziellen Unterdrückungsorganen verfügte die Bürokratie über die Dienste einer Armee von Spionen und Denunzianten, die in jeder Fabrik, jedem Büro, Klassenzimmer oder Häuserblock präsent waren.
Indem die Bürokratie sich über die Arbeiter erhob, versuchte die Bürokratie diese internen Widersprüche zu ihrem eigenen Vorteil zu regulieren. Sie gründete sich selbst auf die verstaatlichte Planwirtschaft und spielte eine relativ fortschrittliche Rolle bei der Entwicklung der Produktivkräfte, wenngleich, um mit Trotzkis Worten zu reden, zu den dreifachen Kosten des Kapitalismus, unter riesiger Verschwendung, Korruption und Missmanagement. Weit davon entfernt, diese sozialen Widersprüche zu lösen, sammelten sich unter der Bürokratie neue an. Am Ende stellte sie sich über das Proletariat und etablierte ein Regime des bürokratischen Absolutismus, in dem die Arbeiterklasse politisch enteignet war, ohne Rechte oder Mitspracherechte bei der Gestaltung der Gesellschaft.
Zwar wurden in späteren Jahren, besonders nach Stalins Tod, grosse Reformen durchgeführt, die zu steigendem Lebensstandard, besserer sozialer Sicherung usw. führten. Aber zu allen Zeiten blieb die Kontrolle fest in den Händen der Bürokratie. Solche Reformen wurden immer von oben nach unten durchgeführt und änderten in keiner Weise die Beziehung zwischen der herrschenden Kaste und der Arbeiterschaft. Es gab keinerlei Elemente einer wie auch immer gearteten Arbeiterdemokratie.
Arbeiterbewegung — von Martin Kohler, Bern — 10. 10. 2024
Nah-Ost — von Revolutionäre Kommunistische Internationale (RKI) — 09. 10. 2024
Imperialismus, Kolonialismus & Nationale Frage — von Jorge Martín, April 2024 — 03. 10. 2024