In der Funke-Sommerausgabe setzen wir einen Themenschwerpunkt «Schweiz in der Krise». Im Editorial befassen wir uns vertieft mit dem Epochenwechsel während den 90er-Jahren und ordnen die Artikel in ihren Zusammenhang ein.
In dieser Sommerausgabe wollen wir einen Schritt zurück machen. Mit drei Schwerpunktartikeln setzen wir den Fokus auf ausgewählte Aspekte der Entwicklung des Schweizer Kapitalismus seit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2008, die eine neue Phase des globalen Kapitalismus eingeläutet hat. Auf der politischen Ebene analysieren wir die Entwicklung jener Partei, die in den letzten Jahrzehnten die Schweizer Politik dominiert hat: die SVP. Die Geschichte der Gewerkschaft Unia gibt uns ein Verständnis der Veränderungen im Klassenverhältnis zwischen KapitalistInnen und ArbeiterInnen. Anhand der Schweizer Grossbanken UBS und CS zeigen wir den Auf- und Abstieg des Schweizer Finanzplatzes in einer Welt der verschärften Konkurrenz.
Die Musik dieser Ebenen spielt nicht gänzlich synchron. Aber es fallen gemeinsame Muster auf, die helfen, ein besseres Gesamtbild der Entwicklung des Schweizer Kapitalismus in den letzten Jahren zu erhalten. Auf allen Ebenen zeigt sich der lange Schatten der Umbrüche in den 1990er Jahren. In allen drei Beispielen sehen wir, dass das Modell, das sich in der Aufschwungphase der frühen 2000er als Resultat der Neuordnung der Kräfte eingestellt hat, im Verlauf der Krise ab 2008 erschöpft. Was in den 00er Auftrieb gegeben hatte, verkehrte sich nun in eine Bremse.
Von den Widersprüchen eingeholt
Die Weltwirtschaft erhielt in den 1990er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einen neuen Globalisierungsschub. In der Schweiz war es ein Jahrzehnt der Krise und der Stagnation, die einen Umbruch einleitete, der alle Bereiche der Schweizer Wirtschaft und Politik durchdrang. Der abgeschottete Binnenmarkt wurde aufgebrochen, Unternehmen fusionierten, internationalisierten sich und richteten sich auf den Export aus.
Der Finanzsektor wurde in dieser Phase zum wichtigsten Zweig der Schweizer Volkswirtschaft. In der Welt der Spekulation und der aufgeblähten globalen Finanzmärkte erlebten die Schweizer Banken in den frühen 00er Jahren eine kurze ruhmreiche Stunde. Auf wenig stabiler Basis, wie die Entwicklung ab 2008 zeigte. Die UBS-Krise und die darauffolgenden Angriffe auf das Bankgeheimnis besiegelten den relativen Abstieg des Schweizer Finanzplatzes. Das Beispiel ist symptomatisch für den schleichenden Niedergang aller Sektoren des Schweizer Kapitalismus – mit Ausnahme der stark exportorientierten Pharma-Industrie, die zum einzigen Wachstumstreiber geworden ist.
Nach dem Nein zum EWR-Beitritt 1992 sah sich die Schweizer Bourgeoisie in der schwierigen Situation, dennoch Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu erhalten. Mit den Bilateralen Verträgen gelang es ihr zwar letztlich, einen fast massgeschneiderten Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu erhalten. Aber seit 2010 hat die EU ihren Druck auf die Schweiz wieder erhöht. Sie toleriert die Rosinenpickerei nicht mehr. Die Schweizer Bourgeoisie hat nie eine nachhaltige Antwort auf den Widerspruch gefunden, wie sie als kleine Volkswirtschaft in der veränderten internationalen Arbeitsteilung gleichberechtigt mitspielen soll, ohne nach den Regeln der Grossen spielen zu müssen und dabei unterzugehen.
In den letzten Jahren hat die Schweizer Wirtschaft im internationalen Vergleich an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Diese Stagnation spiegelt sich auch in der Blockade der bürgerlichen Politik wieder. Und so bedauert der Unternehmerverband economiesuisse in seiner Auswertung der auslaufenden Legislaturperiode 2015-2019 denn auch, dass diese vor allem von «Stagnation und Rückschritten» geprägt sei. Es seien kaum Reformen angestossen worden, um die Position der Schweizer Kapitalisten im globalen Kapitalismus zu verbessern.
Und auf unserer Seite des Klassengegensatzes? Nach der Offensive der Kapitalisten gegen die Lohnabhängigen und ihre Gewerkschaften in der Krise der 1990er vermochte die Unia in ihrer Anfangszeit nach 2004 einige Hoffnung und Kampfgeist zu versprühen. Mittlerweile hofft niemand mehr. Die Gewerkschaftsführung unterwirft sich den Bossen und bremst im Notfall ihre Arbeiterbasis aus. Was für Unia gilt, könnte man in gleicher Weise auch für die SP sagen.
2019: Welle der Radikalisierung
Dass sich in dieser Konstellation der Unmut der Bevölkerung weiter anstauen muss, sagen wir hier nicht zum ersten Mal. So darf man sich vom oberflächlichen Stillstand denn auch nicht täuschen lassen. Das ist die Hauptlektion der ersten Hälfte dieses Jahres 2019. Mit den Klimastreiks und nun der massiven Mobilisierung zum Frauenstreik vom 14. Juni haben wir eine regelrechte Welle der Politisierung breiter Schichten gesehen. Das bestätigt, dass in der Gesellschaft eine Radikalisierung stattfindet, die sich bisher nur noch nicht ausdrücken konnte. Genau daran gilt es anzusetzen.
Wir müssen die aktuellen Ereignisse verstehen, um darin intervenieren zu können. Das ist der Grund, weshalb wir in dieser Sommerausgabe mit einem weiteren Blick zurückschauen. Nur durch solche Analysen können sich MarxistInnen auf die jetzigen und künftigen Radikalisierungswellen vorbereiten. Und sie zeigen deutlich: Der Schweizer Kapitalismus ist in der Krise und hat der grossen Mehrheit der Bevölkerung nichts zu bieten. Der Kampf für die Überwindung dieses maroden Systems ist keine Zukunftsmusik, er ist hier und heute die drängendste Notwendigkeit. Der Wille zur Veränderung ist gross. Frauen- und Klimastreiks haben gezeigt, dass sich auch in der Schweiz die unterdrückten Klassen und Schichten bewegen und bewegen müssen!
Martin Kohler
Redaktion Der Funke
Bild: CC BY-NC-ND 2.0 – flickr: kookykrys
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