Auf der einen Seite wird die Forderung nach Arbeitszeitreduktion wieder populär in der Linken. Auf der anderen Seite wollen kapitalistische Länder und Unternehmen sie tatsächlich umsetzen. Um die Arbeitsbedingungen wirklich zu verbessern, müssen wir die Frage von einem revolutionären Standpunkt angehen.

Ein Blick in die Geschichte des Kapitalismus verrät uns: Die Kapitalisten haben nie freiwillig mehr abgegeben, als notwendig war. Jede Verbesserung – ob Mindestlöhne, Renten oder der 8-Stunden-Tag – mussten sich die ArbeiterInnen erkämpfen. Es scheint jetzt so, als ob dieses Gesetz nicht mehr gilt, wenn zum Beispiel der kapitalistische Konzern Microsoft Japan letztes Jahr testweise die Arbeitszeit drastisch reduzierte, bei gleichem Lohn.

Wolf im Schafspelz

Aber der Schein trügt! Das sind keine freundlichen Geschenke der Unternehmer, sondern ein Mittel, um die Arbeit zu intensivieren. Es geht darum, mehr aus den ArbeiterInnen zu pressen, indem sie in weniger Zeit dieselbe Arbeit leisten. Mit der Reduktion der Arbeitszeit bei gleichem Lohn wird ein Zugeständnis gemacht – aber nur, wenn und weil die Arbeit überproportional intensiviert wird. Die Ausbeutung wird verschärft!

In Island, einem kapitalistischen Land, soll jetzt nach einer mehrjährigen Testphase die Arbeitszeit auf 35 Stunden bei gleichem Lohn reduziert werden. Dort arbeiten die Menschen rund 300 Stunden mehr im Jahr als in den anderen EU-Ländern. Doch die Arbeitsproduktivität (das Verhältnis der Arbeitszeit zum Output) bleibt im europäischen Vergleich relativ tief: Länder wie Belgien, Norwegen, Dänemark und Frankreich haben eine rund 20% höhere Arbeitsproduktivität als Island. Darum geht es dem isländischen Kapital: die Arbeit muss intensiviert und dadurch der Output erhöht werden. Die Reduktion der Arbeitszeit ist nur ein Mittel dafür, indem den Arbeitern etwas mehr Freizeit und Erholung gegeben wird. Noch klarer entlarvt Microsoft Japan den Trieb der Kapitalisten: So konnte Microsoft Japan durch die Reduktion der Arbeitszeit den Umsatz pro Mitarbeiter um 40% steigern – was viel mehr ist als das «Zugeständnis», das sie mit der einen Hand gegeben haben!

Krise & Klassenkampf

Um die herrschenden Verhältnisse wirklich zu verstehen, müssen wir den Kontext der ökonomischen Krise miteinbeziehen. Die Probleme der Überproduktionskrise von 2008 wurden bis heute nicht gelöst. Investitionen in die Produktion bleiben deshalb tief. Nach wie vor sind die Märkte übersättigt. Das führt dazu, dass die Fabriken nicht ausgelastet sind: Aktuell werden in den USA und China nur 75% der Kapazitäten genutzt. Weder die pandemiebedingte Blockade der Märkte, noch die jetzige krankhafte Erholung mit Überhitzung der Märkte ändern etwas an der grundlegenden Überproduktion.

Wenn die Märkte übersättigt sind, dann verschärft sich die Konkurrenz zwischen verschiedenen Kapitalisten und Staaten. Um auf dem Weltmarkt mithalten zu können, versuchen sie, sich fit zu machen, indem sie die Ausbeutung eines Teils der Arbeiterklasse in verschiedener Form verschärfen – Löhne senken, Arbeitszeit erhöhen, Arbeit intensivieren – und andere Teile auf die Strasse stellen. Erhöhte Ausbeutung und steigende Arbeitslosigkeit sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Mit der drohenden Arbeitslosigkeit werden die härter schuftenden Lohnabhängig gefügig gemacht und gleichzeitig Löhne eingespart. Gleichzeitig leiden Arbeitslose zunehmend unter massiven Sparprogrammen und Angriffen.

Die Schweiz ist keine Ausnahme. Auf der einen Seite hat im letzten Jahrzehnt v.a. die Arbeitsintensität stark zugenommen. Das Resultat ist hart: Von 2012 bis 2018 hat sich die Zahl der Burnouts in der Schweiz um 70% erhöht. Mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen fühlen sich emotional erschöpft, vor allem Junge und Arme sind betroffen. Zuletzt forderte nun SVP-Bundesrat Parmelin den 15-Stunden-Tag und die Liberalisierung der Sonntagsarbeit. Auf der anderen Seite steigt die Langzeitarbeitslosigkeit seit Jahren. Die Pandemie hat nochmals einen Punkt draufgesetzt.

Die Angriffe der Kapitalisten auf die ArbeiterInnen bleiben nicht ohne Reaktion. Die Erhöhung der Arbeitszeit hat beispielsweise 2016 in Frankreich zu Massenprotesten und Streiks geführt. Die Angriffe verschärfen die ohnehin angespannte Lage der Massen.

Für die Reduktion der Arbeitszeit!

Es ist in diesem Kontext kein Zufall, dass die Verkürzung der Arbeitszeit in der Linken (wieder) aufkommt. Die Unia hat zum Beispiel gerade eben eine Resolution verabschiedet, die «eine massive Reduktion der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich» fordert. Auch Klima- und Frauenstreik stellten die Forderung auf. Das ist angesichts der steigenden Belastung in vielen Branchen absolut korrekt und schlicht notwendig, vor allem in besonders belasteten Sektoren wie der Pflege – und ganz besonders in der Schweiz, dem Land mit der höchsten Wochenarbeitszeit in ganz Europa. Wir stellen uns voll und ganz hinter die Forderung! Aber um die Forderung umzusetzen brauchen wir Klarheit über die Klassengegensätze in der Gesellschaft.

Es dient nur den Kapitalisten, wenn sich der eine Teil halb tot arbeitet und der andere Teil arbeitslos ist. Die Kapitalisten versuchen in der Krise, die Arbeiterklasse entlang der Erwerbstätigkeit zu spalten. Die drohende Arbeitslosigkeit war schon immer ein Mittel, um Erwerbstätige und Arbeitslose gegeneinander auszuspielen und so beide Teile anzugreifen. Reaktionäre Kräfte zeichnen z.B. gerne das Bild vom faulen Arbeitslosen, der auf Kosten der fleissigen Werktätigen ein gutes Leben führt. So werden auf der einen Seite die Löhne gedrückt, die Arbeitszeit erhöht und die Arbeit intensiviert, und auf der anderen Seite z.B. die Arbeitslosenunterstützung abgebaut. Wir müssen diese Spaltung durchbrechen.

Die Arbeiterklasse hat genau gegenteilige Interessen: gute Arbeitsbedingungen für alle! Die nötige Arbeit muss auf alle arbeitsfähigen Personen – Arbeitslose, Frauen, usw. – aufgeteilt werden bei mindestens gleichbleibendem Lohn. Der Arbeitstag muss auf dieser Basis für alle verkürzt werden. So können wir Arbeitslosigkeit und Überarbeitung bekämpfen, die Spaltung tatsächlich überwinden und gleichzeitig den Lebensstandard aller Arbeitenden heben – finanziert durch die gesellschaftlich vorhandenen Reichtümer!

Den engen Rahmen sprengen!

In früheren Gesellschaftssystemen erforderte es die ganze Lebenszeit der Menschen, um nur schon die grundlegendsten Bedürfnisse zu befriedigen. Doch die Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus hat die materielle Grundlage für eine tatsächliche Arbeitszeitreduktion gelegt. Die Produktivität war in der Geschichte der Menschheit noch nie so hoch wie heute. Mit den heutigen technologischen Mitteln ist es möglich, genug für die ganze Menschheit zu produzieren und die Arbeitszeit zu reduzieren.

Aber die Kapitalisten wollen und können ihre Profite nicht schmälern, um zwei Arbeiter teilzeit bei vollem Lohn zu bezahlen, anstatt einen in Überzeit auszubeuten – ganz besonders in seiner tiefsten Krise. Es sind die objektiven ökonomischen Gesetze im Kapitalismus, die gleichzeitige Massenarbeitslosigkeit und Überarbeitung hervorrufen. Wir müssen konsequent sein: «Wenn der Kapitalismus unfähig ist, die Forderungen zu befriedigen, die unausweichlich aus den Übeln hervorgehen, die er selbst erzeugt hat, dann soll er untergehen!» (Trotzki, Übergangsprogramm)

Trotzki weiter: «Ob jene Forderungen ‘realistisch’ oder ‘unrealistisch’ sind, ist hierbei eine Frage des Kräfteverhältnisses» – des Kräfteverhältnisses zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie. Es ist die historische Aufgabe in unserer Epoche, die Arbeiterklasse für diesen Kampf gegen die Bourgeoisie zu rüsten. Gründe zum Kämpfen hat sie genug. Was ihr fehlt, ist eine Organisation, die ihre Interessen bis zum Schluss durchdenkt: bedingungslos für die Verkürzung der Arbeitszeit – das bedeutet kollektiver Kampf der Arbeiterklasse gegen ihre Ausbeuter und ihr System, für eine demokratisch kontrollierte, sozialistische Planwirtschaft!

Jonas Martin
JUSO Winterthur


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