Der Zollkrieg ist täglich Thema in der bürgerlichen Presse. Doch statt einer Erklärung findet man nur Empörung. Die Liberalen bejammern das Ende der «vernünftigen», «guten» Freihandelspolitik und wettern gegen Trumps «verrückte», «dumme» Zollpolitik.
Dahinter steckt die idealistische Auffassung, dass (Handels-)Politik frei wählbar und gegenüber der Ökonomie bestimmend sei. In Wirklichkeit verhält es sich umgekehrt: Protektionismus und Freihandel zwingen sich Regierungen unter bestimmten historischen Bedingungen auf.
Diese Bedingungen gilt es zu untersuchen, um die Position der Kommunisten nachvollziehen und den aktuellen Zollkrieg zwischen den Grossmächten einordnen zu können.
Aufgekommen ist der Kapitalismus im Feudalismus. Europa war ein Flickenteppich aus winzigen isolierten Märkten. Diese wurden zu eng für die aufstrebende Bourgeoisie mit ihrem inhärenten Streben nach Profit und damit nach Absatzmärkten.
Dank den bürgerlichen Revolutionen ersetzte die Bourgeoisie die feudale Zersplitterung durch die modernen Nationalstaaten und schuf sich nationale Märkte. Diese spielten eine progressive Rolle, weil sie die Entfaltung der Produktivkräfte ermöglichten. Die aufstrebenden Industrien produzierten früh für den Weltmarkt – brauchten aber in ihrem jungen Stadium Schutz, um in der Konkurrenz gedeihen zu können.
Deshalb hatten fast alle modernen Nationen Europas bis Mitte des 19. Jahrhunderts ein protektionistisches Regime. Das heisst, sie schützten ihre eigenen Industrien. Sie «produzierten künstlich Produzenten» (Marx), indem sie ausländische Waren künstlich verteuerten.
Die freie Konkurrenz musste durch Schutz nach aussen ergänzt werden. Der Kapitalismus brauchte zu seiner Entfaltung den Nationalstaat inklusive Protektionismus wie das Küken seine Eierschale.
Doch aus der Eierschale schlüpfte kein Küken. In den Worten Trotzkis: «Die freie Konkurrenz ist wie ein Huhn, das ein Krokodil ausgebrütet hat». Die freie Konkurrenz gebar riesige Monopole.
Für diese wurde der nationale Markt gegen Ende des 19. Jahrhundert zu eng. Sie mussten sich auf dem Weltmarkt behaupten. Allen voran die Monopole des früh industrialisierten Englands, die Mitte des 19. Jahrhunderts in allen zentralen Industrien am produktivsten produzierten. England war zur unangefochtenen Weltmacht aufgestiegen.
In dieser Position der Stärke brauchte die britische Bourgeoisie keinen Schutz mehr. Von Zöllen auf Importgüter (Getreide und Rohstoffe) profitierte nun einzig der englische Landadel. Das Industriekapital hingegen brauchte möglichst tiefe Produktionskosten (Rohstoffe und Ware Arbeitskraft) und möglichst uneingeschränkten Zugang zum Weltmarkt, um diesen mit billigen Waren fluten und die Profite maximieren zu können.
Darum schuf die britische Bourgeoisie 1846 nach langem Kampf gegen den Landadel die «Corn Laws» (Schutzzölle auf Rohstoffe und Nahrung) ab. Die Ära des britischen Freihandel-Regimes war lanciert. Ein Regime, das darauf abzielte, dass alle anderen billige britische Waren kaufen und selbst billige Rohstoffe liefern.
Die Plünderungs-Strategie Englands war eine existenzielle Bedrohung für andere Bourgeoisien. Allen voran für die aufstrebenden Kapitalisten im Norden der USA, die ihre jungen Industrien mit Zöllen vor den billigen britischen Waren schützen mussten.
Aber auch die US-Kapitalisten stiessen dabei auf Widerstand im eigenen Land; nämlich auf jenen der Sklavenbesitzer im Süden. Diese pochten auf Freihandel, um mehr Baumwolle abzusetzen und mehr Profite einzustreichen. Erst nach dem Sieg im Bürgerkrieg 1865 konnte der industrielle Norden sein Protektionismus-Regime einführen.
Was klar wird: Protektionismus und Freihandel sind entgegengesetzte Taktiken für den gleichen Zweck. Nämlich, Profitinteressen auf dem Weltmarkt unter verschiedenen Bedingungen durchzusetzen. Egal mit welcher Taktik, die Bourgeoisie steigert ihren Profit stets auf Kosten der Arbeiterklasse. Darum hat die Arbeiterklasse objektiv kein Interesse daran, die eine oder andere Seite zu unterstützen.
Es handelt sich um einen Konflikt innerhalb der herrschenden Klasse – zwischen Flügeln im Innern der Nationen und zwischen Nationalstaaten.
Dieser Konflikt spitzte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu. Die USA und Deutschland stiegen zu den produktivsten Wirtschaftsmächten auf, England befand sich im relativen Niedergang. Unter diesen Bedingungen brauchte plötzlich England Schutz.
So vollzog die britische Bourgeoisie, gestern noch Predigerin des Freihandels, eine Kehrtwende: Neu galt das Regime der «imperialen Präferenz» – bevorzugter Handel innerhalb des britischen Empires. Ziel war es, den Aufstieg Deutschlands und der USA zu bremsen, um den eigenen Abstieg zu verlangsamen. Das konnte das aufstrebende Deutschland nicht akzeptieren. Die Spannungen luden sich vor dem Ersten Weltkrieg auf.
Der Kapitalismus war in das Stadium des Imperialismus eingetreten: Der Weltmarkt war definitiv dominiert von Monopolen und aufgeteilt zwischen den Nationalstaaten. Das Streben des deutschen Imperialismus nach einem grösseres Stück des Kuchens war nur noch auf Kosten der etablierten Weltmächte England und Frankreich möglich, doch diese schenkten nichts freiwillig her.
Der Erste Weltkrieg war Ausdruck dieses Widerspruchs: Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse waren zu eng geworden für die Produktivkräfte. Die Nationalstaaten spielten keine fortschrittliche Rolle mehr, sondern eine zerstörerische. Sie hatten sich von einem Hebel in ein Hemmnis der Entwicklung verkehrt.
Der Erste Weltkrieg beseitigte seine Ursachen nicht. Mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 rebellierten die Produktivkräfte wieder gegen den zu engen Rahmen des Kapitalismus. Als Reaktion darauf versuchten allen voran die USA, ihre eigenen Industrien zu schützen. Präsident Hoover erhöhte sämtliche Importzölle um 40-60 %.
Protektionismus in der Krise ist der Versuch, die eigene Arbeitslosigkeit zu exportieren. Wenn man das einzige Land bliebe, das Zölle erhöht, würde das funktionieren. Aber die konkurrierenden nationalen Bourgeoisien werden dadurch gezwungen, zurückzuschlagen.
So eskalierte der Zollkrieg in den 1930ern spiralförmig. Der Welthandel brach in vier Jahren um 66 Prozent ein, was die Krise verschärfte. Es kam zur Grossen Depression mit massiver Arbeitslosigkeit und sozialer Misere überall.
Im imperialistischen Stadium verkehrt sich mit dem Charakter des Kapitalismus auch jener des Protektionismus. Konnte er früher dazu beitragen, die Produktivkräfte zu entwickeln – so bezweckte er nun deren Zerstörung. Denn seither ist Protektionismus nichts anderes als der utopische Versuch, die Produktivkräfte zurückzuwängen in den nationalen Markt, dem sie entwachsen sind.
Es ist der «verrückte Versuch, das Krokodil zurück ins Hühnerei zu treiben» (Trotzki).
Durch eine aussergewöhnliche Verkettung von Umständen erlebte der Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg nochmals einen gewaltigen Aufschwung. Die USA lösten England als führende Weltmacht ab. Aus der Position der Stärke zwangen nun sie der Welt ihr Freihandels-Regime auf. Dies umso mehr ab den 1990ern mit der Restauration des Kapitalismus in der UdSSR und in China.
Als Resultat davon ist die Weltwirtschaft heute so entwickelt und verflochten wie nie zuvor. Der Anteil des Handels am Welt-BIP ist fünfmal grösser, die Arbeiterklasse siebenmal grösser und ein durchschnittlicher Textilarbeiter zehnmal produktiver als 1930.
Globale Lieferketten haben Nationen, Industrien und Arbeiter auf der ganzen Welt miteinander zu einem mächtigen Weltsystem verbunden. Wenn das Krokodil 1930 nicht ins Hühnerei zurück passte, dann stimmt das für den Drachen 2025 umso mehr. Es trotzdem zu versuchen, bedeutet, eine hochintegrierte Weltwirtschaft auseinanderzureissen.
Genau das tun die imperialistischen Regierungen unter dem Druck der Krise heute wieder zunehmend. Seit 2008 haben sich Importrestriktionen unter G20-Ländern verzehnfacht. Trump beschleunigt eine vor ihm eingeschlagene Tendenz.
Dabei ist es kein Zufall, dass die USA den Takt angeben: Erneut versucht die absteigende Weltmacht, ihren Niedergang hinauszuzögern – auf Kosten aller anderen. Und letzten Endes auch sich selbst: Die Weltbank erwartet, dass das Welt-BIP aufgrund der Folgen der protektionistischen Massnahmen – zerbrochene Lieferketten, Inflation, Fabrikschliessungen – bis 2030 um 7 Prozent einbrechen könnte.
Der zunehmende Protektionismus droht, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten Produktivkräfte zu zerstören und riesiges Elend zu verursachen.
Deshalb sehnt sich ein Teil der Bürgerlichen verzweifelt nach dem Freihandel zurück. Doch das ist genauso utopisch: Es ist der Freihandel, der uns an den Punkt heute gebracht hat. In der Nachkriegszeit haben sich Welthandel (verzwanzigfacht) und Weltwirtschaft (verachtfacht) Hand in Hand nach vorne getrieben. Dadurch wurde die Krise zwar verschoben, aber nur, um 2008 umso heftiger zurückzuschlagen.
Weil sie die Krise zuspitzt und nicht löst, läuft die Politik des Freihandels genauso wie jene des Protektionismus auf die Zerstörung der Produktivkräfte hinaus. Beide Seiten wünschen sich Wachstum zurück und beide sind unfähig dazu. Denn weder Handelsfreiheiten noch Zollschranken lösen die Sackgasse des Kapitalismus.
Für uns geht es nicht darum, den Freihandel gegen den Protektionismus zu unterstützen. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu versuchen, die Uhr aufs Jahr 2006 oder 1860 zurückzustellen. Das überlassen wir Science-Fiction-Drehbuchautoren und heutigen bürgerlichen Ökonomen.
Unsere Aufgabe ist es, zu erklären, warum dies geschieht und wie keine der beiden Seiten mit ihren Massnahmen irgendetwas lösen wird.
Die Wahrheit ist, dass es gerade die Entwicklung der Produktivkräfte und des Weltmarktes sind, die den Kapitalismus in seine tiefste Krise je gestürzt haben. Die gesamte Situation ist eine, in der sich die Produktivkräfte gegen den Nationalstaat und das Privateigentum auflehnen.
Die einzig mögliche Befreiung der Produktivkräfte aus ihrer Zwangsjacke liegt in der Überwindung des Nationalstaats und des Privateigentums. Nur in einer international kollektiv geplanten Wirtschaft können die Produktivkräfte weiter gedeihen und sinnvoll genutzt werden.
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