(Hier gehts zum Teil I)
Moderne technologische Entwicklungen machen eine immer autonomere und effizientere Produktion aller Güter möglich und senken den gesellschaftlich notwendigen Arbeitsaufwand enorm. Nahles scheint den Versprechungen der bürgerlichen Propheten glauben zu schenken, die behaupten die Digitalisierung würde uns allen Wohlstand und Überfluss bescheren und uns von einem grossen Teil der Arbeitslast befreien. Bereits im ersten Teil mussten wir feststellen, dass von Produktivitätssteigerungen nicht automatisch wir Arbeitenden profitieren. Nun wollen wir uns mit der Frage beschäftigen, inwieweit der «digitale Kapitalismus» etwas qualitativ Neues darstellt.
In der Geschichte des Kapitalismus zeigen sich immer wieder grössere Umwälzungen der Produktionsmittel, also der eingesetzten Werkzeuge und Maschinen. Die Art und Weise wie die Waren produziert werden veränderte sich stets aufs Neue. In den Anfängen des Kapitalismus wurden die vielen versprengten Handwerker unter einem Dach zusammengezogen und in der Manufaktur dem Kommando des Kapitals unterstellt.
Die erste industrielle Revolution (ab Mitte 18. Jahrhunderts) ersetzte menschliche Arbeitskraft durch Wasser- und Dampfkraft. Ab 1920 sorgte in der Zweiten die Elektrizität nicht nur für Glühlampen, Telegrafie oder das Telefon, sondern auch für die wirkliche Massenproduktion von Gütern. Mit der Dritten, kamen ab den 1970er Jahren mit der Elektronik die Computer und Roboter hinzu, was wiederum eine stärkere Automation bedeutete, wie z.B. Autos, die automatisch zusammengesetzt werden.
Das waren grosse Wellen des technologischen Fortschritts, welche alle diverse bahnbrechende Erfindungen mit sich brachten. Die Folgen davon zeigen sich widersprüchlich. Sie brachten alle riesige Produktivitätssteigerungen, wodurch die Menge der produzierten Produkte sich vervielfachte. Aber anstatt Wohlstand und Überfluss bedeutete die reduzierte notwendige Arbeitszeit jeweils Massenarbeitslosigkeit. Die Digitalisierung – die «vierte industrielle Revolution» – ist nichts anderes als eine weitere Welle in der Entwicklung des technologischen Fortschritts, welche die notwendige Arbeitszeit weiter drastisch senkt.
Entwicklung der Produktivkräfte
Die Ursache für die immer erneuten Umwälzungen der Produktionsmittel haben ihren Ursprung in der Funktionsweise des kapitalistischen Systems selbst. Im Kapitalismus wurde erst «bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen […] Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.» (Marx & Engels in: ‚Manifest der Kommunistischen Partei‘)
Die kapitalistische Produktionsweise treibt die KapitalistInnen dazu, kontinuierlich in die Forschung zu investieren, welche neue Innovationen hervorbringt. Verantwortlich dafür ist die Konkurrenz unter den KapitalistInnen und ihr Streben nach Profit, welches sie unaufhörlich nach Marktvorteilen suchen lässt, um selbst nicht unterzugehen. Wenn einE KapitalistIn eine neue Maschine einführt, welche es erlaubt, grössere Mengen mit weniger menschlichen Arbeit zu produzieren, sinken die Herstellungskosten, was die Profite steigen lässt. Auf der Suche nach diesen «Extraprofiten» treiben sie den technologischen Fortschritt unaufhaltsam vorwärts. Doch die Extraprofite können sie sich nicht dauerhaft aneignen. Sobald auch die Konkurrenz anfängt, ihr Maschinenarsenal zu modernisieren, beginnen die Preise und somit auch die Profite zu fallen.
Angeheizt wird diese Dynamik durch die vielen aufkommenden Start-Ups, also kleine Kapitale welche dank des technologischen Fortschritts den Markt revolutionieren. So wurde z.B. mit der Plattform Uber das ganze Taxigewerbe und mit AirBnB die klassische Hotellerie unter Druck gesetzt. Auf AirBnB werden in der Schweiz mittlerweile über 90 Tausend Betten angeboten und die Tendenz ist steigend. Dies geht meist einher mit einer verstärkten Ausbeutung durch miserable Arbeitsbedingungen.
Die Konkurrenz führt jedoch stets zum «Untergang vieler kleineren Kapitalisten, deren Kapitale teils in die Hand des Siegers übergehn, teils untergehn.» (Marx in: ‚Das Kapital Band 1‘) Durch Krisen findet ein «periodisches Abmähen der Kleinkapitale» statt, «die dann immer wieder rasch aufkommen, um von neuem durch die Sense der Großindustrie abgemäht zu werden.» (Luxemburg in: ‚Sozialreform oder Revolution‘)
Im Nachzug der Krise in den 1970er Jahren kam es in der Schweiz zu einer Steigerung der Produktivität und das in die Jahre gekommene Maschinenarsenal wurde weitgehend erneuert. Vor allem die kleineren Unternehmen konnten damit nur schwer mithalten, da ihre Rücklagen um einiges kleiner sind als die des Grosskapitals. Trotzdem produzierten sie mit stark veralteten Methoden und waren oft von einer stark ausgeprägten Vetternwirtschaft begleitet. Diejenigen welche mit der Modernisierung der Produktionsmittel nicht mithalten konnten, gingen unter. (Siehe ‚Der Traum war aus – 70er Krise‘)
Der digitale Kapitalismus
Die treibende Kraft hinter der Digitalisierung ist also die kapitalistische Produktionsweise. Doch ist es möglich, heute eine «solidarische Marktwirtschaft» zu errichten, in der Überfluss und Wohlstand allen zukommt? Die Einführung der neuen Maschinen ist immer mit Investitionen verbunden, welche sich für die Kapitalistinnen in Profite auszahlen müssen. Vor allem in Krisenzeiten wie heute überlegen sie sich jede Investition sehr genau und suchen oft lieber billigere Arbeitskräfte als in die Entwicklung der Produktivkräfte zu investieren: So verrichten heute viele schlecht oder ganz unbezahlte Arbeit in der Form von Zeitarbeit (heute gibt es viermal mehr temporär Beschäftigte als 1993) oder eines Praktikums.
Der «digitale Kapitalismus» ist nichts anders als der Kapitalismus auf dem heutigen Stand der technologischen Entwicklung. Während langer Zeit trieb der Kapitalismus den Fortschritt unaufhaltsam voran und sorgte zumindest in den entwickelten Ländern für einen allgemein höheren Wohlstand. Doch heute wird die Marktwirtschaft immer mehr zum Hemmnis. Heute versuchen grosse Firmen Innovationen, die ihr Geschäftsmodell untergraben, im Keim zu ersticken. Oder sie reduzieren die Lebensdauer ihrer Produkte künstlich. Warum Produkte robuster machen, wenn damit weniger Profit erzielt werden kann, da sie seltener ersetzt werden müssen? Der Kapitalismus bedeutet heute, dass Produkte von minderer Qualität produziert werden, die Arbeitsbedingungen sich verschlechtern und die Arbeitslosigkeit steigt.
Auch die Entwicklung der Vermögensverhältnisse zeigt eine Ungleichheit, die noch nie grösser war als heute. Eine Oxfam Studie berichtete, dass acht Einzelpersonen gleich viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Menschheit. 2010 waren es noch 388 Milliardäre. In der Schweiz besassen 2016 die reichsten 2.1% gleich viel Vermögen wie der Rest der ganzen Bevölkerung. Die Einkommen (fast ausschliesslich Kapitalgewinne) des reichsten Prozents sind seit den 1990er Jahren um 43% gestiegen.
Die Löhne der grossen Mehrheit hingegen stagnieren praktisch und werden zusätzlich belastet durch höhere Mieten und steigende Gesundheitskosten. So stiegen im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends durchschnittlich die Mietpreise in der Schweiz um 20%. Die Gesundheitskosten haben sich in den letzten 20 Jahren sogar verdoppelt. Für Personen, die auch ohne diese Kostensteigerung jeden Franken zweimal umdrehen müssen, wird der Überlebenskampf zu einer schier unlösbaren Aufgabe. Immer mehr Menschen werden dadurch von der erniedrigenden Sozialhilfe abhängig.
Perspektive des digitalen Kapitalismus
Die Konzentration von Kapital in immer weniger Händen und die damit verbundene Ungleichheit wächst immer schneller. Während Konzerne wie Apple, Nestlé oder die UBS über Jahrzehnte der Kapitalkonzentration und -zentralisation wuchsen, weisen Milliardenkonzerne wie Google oder Facebook eine viel kürzere Geschichte auf. Unter anderem liegt das auch an den beschleunigten Produktionszyklen. Am offensichtlichsten kann dies daran gesehen werden, dass immer mehr Firmen die Möglichkeit anbieten, ihre Produkte im Internet zu individualisieren und diese trotzdem nur wenige Tage später bei den Kunden zuhause eintreffen, so z.B. massgeschneiderte Sneakers.
Jeder Verkauf eines Produktes oder einer Dienstleistung stellt sowohl einen End- wie auch einen Startpunkt eines Zyklus dar. Sobald eine Produkt verkauft wird, kann das Kapital wieder investiert werden und je schneller dies der Fall ist, umso häufiger kann daraus Profit gezogen werden. Dabei ist nicht nur die Produktionszeit entscheidend, sondern auch die Zeit «während deren der Kapitalist kauft und verkauft, sich auf dem Markt herumtreibt» (Marx in: ‚Das Kapital Band 2‘). Mit der Digitalisierung werden sowohl die Transport- wie auch die Kommunikationswege drastisch reduziert, wodurch die Märkte besser erschlossen und die Akkumulation von Kapital beschleunigt werden.
Diese Beschleunigung bedeutet eine Intensivierung auch der negativen Aspekte der Digitalisierung. Die KapitalistInnen ziehen ihren Profit aus der Arbeit der Arbeitenden, welche sie ausbeuten. Durch die Einführung neuer Maschinen und Computer wird immer mehr Arbeit durch Maschinen ersetzt. Wollen sie in der Konkurrenz nicht untergehen, sind sie daher zu immer stärkeren Kostenreduktionen und stärkeren Ausbeutung der Arbeitenden gezwungen. Das kann man sich nicht einfach wegwünschen.
Eine «solidarische Marktwirtschaft» ist ein Widerspruch in sich. Die Vorstellung, die Digitalisierung könne innerhalb des Kapitalismus allen zu Gute kommen, ist eine grosse Illusion. Solange die Produktionsmittel das Privateigentum der Kapitalisten sind und diese daher gezwungen sind, auf dem Markt mit anderen Kapitalisten zu konkurrieren und unaufhörlich nach Profiten zu suchen, bleiben technologischer Fortschritt und Digitalisierung ein zweischneidiges Schwert: Das Potential für Wohlstand und Überfluss für alle steigt, während jedoch die tatsächliche Misere der Arbeitenden ebenfalls wächst.
Die kapitalistische Produktionsweise folgt nach wie vor den gleichen Gesetzen wie noch vor über 150 Jahren, als Karl Marx sein Werk ‚Das Kapital’ schrieb. Welche Auswirkung diese Produktionsweise haben wird beschreibt er wie folgt: «Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol.» (Marx in: ‚Das Kapital Band 1‘)
Im Kapitalismus sind keine Reformen und Regulierungen des Marktes möglich, welche zum Wohlstand und Überfluss für alle führen können. Deswegen sollten wir jedoch nicht resignieren und im Pessimismus versinken, denn durch diese Entwicklungen ergibt sich ein unglaubliches Potential. Doch damit werden wir uns im letzten Artikel dieser Serie beschäftigen.
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