Im Jahr 1901 veröffentlichte Lenin sein lang erwartetes Buch Was tun? Dieses Meisterwerk der marxistischen Literatur ist ein unvergleichliches Handbuch für alle, die eine bolschewistische Partei aufbauen und ernsthaft für den Sturz des Kapitalismus kämpfen wollen. In diesem Artikel erklären wir, warum dieses Buch bis heute so bedeutend ist und warum jeder Kommunist sich den Inhalt aneignen sollte.

Nachdem die Delegierten des ersten Kongresses der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) im Jahr 1898 verhaftet wurden, geriet die marxistische Bewegung in Russland in Unordnung. Dilettantische Methoden, Des-Organisation und mangelnde politische Klarheit herrschten in den kleinen isolierten marxistischen Zirkeln im ganzen Land.

Nach seiner Rückkehr aus dem sibirischen Exil reiste Lenin nach Westeuropa. Dort schloss er sich mit Martow und Potresow den Veteranen der marxistischen Bewegung, Plechanow, Sassulitsch und Axelrod an. Gemeinsam gründeten sie die Zeitung Iskra, um diese Probleme zu lösen. Mit dieser Zeitung arbeiteten sie daran, die verstreuten Elemente zu verbinden und der Partei eine klare politische Linie, Richtung und Organisation zu geben.

Doch ihre Bemühungen stiessen auf Widerstand. In der Partei gab es eine Strömung, die die schwierige Lage der Marxisten nicht nur hinnahm, sondern sie sogar zur Stärke erklärte. Sie verherrlichte die amateurhaften und unklaren Methoden und idealisierte die rein spontane Natur der Arbeiterbewegung, anstatt sie auf das Niveau einer bewussten, organisierten Bewegung unter kommunistischer Führung zu heben. Diese Strömung wurde als «Ökonomismus» bekannt.

Es war notwendig, einen entschiedenen politischen Kampf gegen diese Strömung zu führen, um die Jugendkrise zu überwinden und ins Erwachsenenalter einzutreten. Und gerade in scharfen Auseinandersetzungen zeigte Lenin stets seine grösste Stärke.

Das kurze Buch Was tun? war das Ergebnis dieser Polemik. Dieses Meisterwerk der marxistischen Literatur steckt voller Lehren für den heutigen Aufbau einer revolutionären Partei. Es bleibt eine unverzichtbare Lektüre für jeden ernsthaften Kommunisten.

Wie Lenins Lebensgefährtin und Genossin Nadeschda Krupskaja es ausdrückte, ist dies ein Buch, das von jedem studiert werden sollte, der ein Leninist in der Praxis und nicht nur in Worten sein will.

Ökonomismus

Seit Mitte der 1890er Jahre kam es in Russland zu einem gewaltigen Anstieg der Arbeiterunruhen. In allen grossen Fabriken brachen Streiks aus. Die Marxisten stürzten sich in die Agitation rund um wirtschaftliche Fragen. Oft genügte schon ein Flugblatt der RSDLP, das Missstände in einer Fabrik aufdeckte, um die Arbeiter zum Streik zu bewegen.

Dies war eine spontane, elementare Bewegung. Sie stellte die ersten Vorboten eines erwachenden Bewusstseins der Arbeiterklasse dar. Lenin und die Anhänger der Iskra verstanden, dass die Rolle der Partei der Avantgarde der Arbeiterklasse darin bestand, das Bewusstseinsniveau der Arbeiterklasse anzuheben: diese ersten Ansätze von Klassenbewusstsein in ein klares, revolutionäres Verständnis zu verwandeln.

Als die Arbeiter begannen, sich gegen ihre eigenen Chefs zu wenden, war es nötig, ihren Blick zu heben: zu erklären, dass ihr Feind nicht nur ein einzelner Chef war, sondern die Bosse als Klasse, die Grundbesitzer und die gesamte zaristische Autokratie.

Wenn die Arbeiterklasse zu einer kämpferischen Kraft werden sollte, die die Autokratie herausfordern kann, musste die wirtschaftliche Agitation durch eine umfassende politische Agitation und Propaganda ergänzt werden – mit anderen Worten, dieses spontane, halbbewusste Erwachen musste auf die Ebene einer organisierten, bewussten, revolutionären Bewegung gehoben werden.

Die Ökonomisten hingegen verherrlichten die spontane Bewegung der Arbeiterklasse. Die Redakteure von Rabocheye Dyelo warfen Lenin und den Anhängern der Iskra vor, zu viel Wert auf Politik und Theorie zu legen, die nur für Intellektuelle und fortgeschrittene Arbeiter geeignet seien, und zu wenig auf die «praktische», alltägliche Arbeit und einfache wirtschaftliche Agitation, die sich an den «Durchschnittsarbeiter» richtet.

Politisches Bewusstsein ergebe sich automatisch aus dem wirtschaftlichen Kampf – «Politik ergibt sich aus der Wirtschaft». Das Eingreifen einer Avantgarde, um dieses Bewusstsein zu heben, sei daher unnötig. Es genüge, wenn die Marxisten die Streikbewegung energisch ermutigen, und den Rest würden die Arbeiter selbst erledigen.

Aber Lenin erklärte, dass die Arbeiter viel besser wissen als die Marxisten, dass sie wirtschaftlich ausgebeutet werden! Wenn die Marxisten ihre Agitation darauf beschränken, den Arbeitern zu sagen, was sie bereits wissen, besteht die Gefahr, dass sie die Arbeiter langweilen. Bis heute gibt es viele sogenannte «marxistische» Sekten, die wie die Ökonomisten glauben, dass die Arbeiter nur an «praktischen» Fragen interessiert sind, die das tägliche Brot betreffen. Ihre grauen Zeitungen lesen sich weniger wie Organe des revolutionären Kampfes und eher wie eine Nachtlektüre, die gegen Schlaflosigkeit helfen soll.

Der wahre Lenin ist für diese modernen Sekten ein Rätsel, obwohl sie in jedem zweiten Satz auf Lenin schwören. Sie versuchen, eine Abkürzung zu den «rückständigen» Arbeitern zu finden, indem sie ihr Material verwässern, und dabei behandeln sie die Arbeiter wie Kinder:

«Ihr Herren Sachwalter der ‘Durchschnittsarbeiter’ beleidigt ja eigentlich die Arbeiter durch euren Wunsch, euch unbedingt zu bücken, bevor ihr von Arbeiterpolitik oder von Arbeiterorganisation zu reden anfangt. Redet doch von ernsten Dingen in aufrechter Haltung und überlasst die Pädagogik den Pädagogen, nicht den Politikern und Organisatoren!»

Lenin warf ihnen vor, dass sie die Rolle der Parteimitglieder auf die Rolle von Gewerkschaftssekretären reduzierten, indem Sie sich auf ökonomische Fragen beschränkten.

Was im Gegensatz dazu eigentlich nötig benötigt war, war eine Partei auf Grundlage professioneller Revolutionäre, die in marxistischer Theorie gestählt sind und als «Volkstribun» handeln können. Das heisst, die gesamte innere Logik des Kapitalismus offenlegen und die Arbeiter darin ausbilden und die lebendige Berichte und Analysen einbringen, die den Arbeitern helfen, den Klassenkampf von allen Seiten zu erkennen.

Er erklärte, dass es viele verschiedene Formen von Agitation und Propaganda gebe, welche die Massen erreichen und bilden können, nicht nur ökonomische Fragen:

«Die Landeshauptleute und die Prügelstrafen für Bauern, die Bestechlichkeit der Beamten und die Behandlung des ‘gemeinen Volks’ in den Städten durch die Polizei, der Kampf gegen die Hungernden und das Kesseltreiben gegen das Streben des Volkes nach Licht und Wissen, die Zwangseintreibung der Abgaben und die Verfolgungen der Sektierer, das Drillen der Soldaten und die Kasernenhofmethoden bei der Behandlung der Studenten und liberalen Intellektuellen – stellen denn alle diese und tausend andere ähnliche Erscheinungen der Unterdrückung, die nicht unmittelbar mit dem ‘ökonomischen’ Kampf verknüpft sind, im allgemeinen weniger ‘weit anwendbare’ Mittel und Anlässe der politischen Agitation, der Einbeziehung der Massen in den politischen Kampf dar?»

Erst wenn die Arbeiter erkennen, dass sie nicht nur im Konflikt mit ihrem eigenen Boss, sondern mit der ganzen Kapitalistenklasse, dem Staatsapparat, den Medien und dem Schulsystem sind, wenn die Arbeiter den wirklichen Inhalt der Phrasen der Politiker verstehen, die Stärken und Schwächen der anderen Klassen erkennen, können sie sich bereitmachen für den finalen Kampf für den Sozialismus. Die Rolle der Kommunisten ist es, die Arbeiterklasse zu organisieren und ihr ein umfassendes politisches Verständnis zu geben, angefangen bei der fortgeschrittensten Schicht.

Aber anstatt danach zu streben, die Arbeiter zu führen und ihr politisches Verständnis zu heben, liessen sich die Ökonomisten hinab auf das Level, das ihrer Meinung nach dem Bewusstsein der Arbeiter entsprach.

Sie spotteten über die Partei-«Theoretiker», die sie des Elitismus beschuldigten, weil diese es wagten, über Dinge zu sprechen, die angeblich über das Interesse und Verständnis des «durchschnittlichen Arbeiters» hinausgehen. Kurz gesagt: Sie verherrlichten die Rückständigkeit und Ignoranz in der Arbeiterklasse und bedienten mit demagogischen Phrasen über«die Massen» oder «die Arbeiter für die Arbeiter» die übelsten Vorurteile gegen die «Führer» und Theoretiker.

Anstatt der Bewegung zu helfen, über dessen Anfangsphase hinauszuwachsen, hilft dieser «Workerismus», wie es Marxisten nennen, die Massenbewegung künstlich in ihren Kinderschuhen festzuhalten. Indem sie den politischen Kampf aufgaben, überliessen sie den Einfluss in der Arbeiterklasse der liberalen Bourgeoisie.

In Was tun? Wendete sich Lenin entschieden gegen diese Verachtung der Theorie – begründet mit der Notwendigkeit, sich auf «kleine», «praktische» Taten zu konzentrieren, die damals wie heute zur politischen Unterwerfung gegenüber der liberalen Bourgeoisie führt:

«Man kann danach beurteilen, welchen Mangel an Takt das ‘Rabotscheje Delo’ zeigt, wenn es mit triumphierender Miene Marx’ Ausspruch ins Treffen führt: ‘Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme.’ Diese Worte in einer Zeit der theoretischen Zerfahrenheit wiederholen ist dasselbe, als wolle man beim Anblick eines Leichenbegängnisses ausrufen: ‘Mögen euch immer so glückliche Tage beschieden sein’.

Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben. Dieser Gedanke kann nicht genügend betont werden in einer Zeit, in der die zur Mode gewordene Predigt des Opportunismus sich mit der Begeisterung für die engsten Formen der praktischen Tätigkeit paart.

Jetzt möchten wir nur darauf hinweisen, dass die Rolle des Vorkämpfers nur eine Partei erfüllen kann, die von einer fortgeschrittenen Theorie geleitet wird.»

Heute wird dieselbe Herangehensweise des «Workerismus» und der Verspottung der Theorie genutzt, um den hässlichsten Opportunismus zu rechtfertigen. In 2018 hat Alexandria Ocasio-Cortez in einem Vanity Fair-Artikel ein krudes Beispiel dieser Herangehensweise gezeigt:

«Ich denke, es ist echt bougie, mit einer definierten politischen Ideologie aufzuwachsen. Du brauchst dafür Eltern, die auf dem College waren und ein politisches Lexikon besitzen. Meine Mutter hat nicht einmal ein Englisch-Lexikon! Wenn Leute sagen, ich sei nicht sozialistisch genug, dann empfinde ich das als sehr klassizistisch. Ich bin dann so: ‘Was – lese ich dir nicht genug Bücher, Junge?’.» (Unsere Übersetzung)

Sie stellt ihre Herkunft aus der Arbeiterklasse zur Schau, um sich über die kommunistischen «Bücherwürmer» lustig zu machen, die Ideen und Theorie ernst nehmen. Doch was hat sie getan? Sie hat ihren Einfluss genutzt, um die Arbeiter direkt in die Arme der herrschenden Klasse zu treiben! Im Jahr 2019 haben sie, Sanders und der gesamte «Squad» Biden und die Demokraten auf schändliche Weise unterstützt. Es folgte noch viel Schlimmeres, darunter die Unterstützung Bidens beim Verbot des Eisenbahnerstreiks und bei der Militärhilfe für Israel seit dem 7. Oktober.

AOC ist natürlich eine durchschaubare Karrieristin. Es ist eine Verleumdung der Arbeiterklasse zu sagen, dass diese sich nicht für die Theorie interessiere oder sie nicht verstehen könne. Wenn die Theorie einfach und auf lebendige Weise erklärt wird, wenn Marxisten gute Agitation und Propaganda zu den verschiedensten Themen betreiben, dann werden die Arbeiter – angefangen bei der fortgeschrittensten Schicht – sie verstehen können. Die Kraft der marxistischen Theorie besteht darin, dass sie wahr ist. Und das Leben lehrt die Arbeiter täglich dieselben Wahrheiten.

Die Aufgabe der Marxisten ist es genau, den Arbeitern zu helfen, alle korrekten revolutionären Schlussfolgerungen aus ihrer Erfahrung zu ziehen. Wir können nicht davon ausgehen, dass automatisch und spontan die korrekten politischen Schlussfolgerungen aus den ökonomischen Kämpfen der Arbeiter gezogen werden.

Lenin wies auf das Beispiel Grossbritanniens hin, wo die Verfechter des Fabianismus (der schrittweisen Reformen im Schneckentempo) die Führung der Labour-Partei beherrschten, um zu zeigen, wie die Arbeiterbewegung für Zugeständnisse auf wirtschaftlicher Ebene auch unter den politischen Einfluss der kleinbürgerlichen Liberalen geraten kann, die nicht weiter schauen als kleinliche Reformen auf parlamentarischer Ebene. Um dies zu verhindern, müssen die Kommunisten einen entschlossenen Kampf um politischen Einfluss führen.

Eine kurze Randbemerkung: Wir sollten festhalten, dass Lenin im Kampf gegen diese Verschandelung des Marxismus den Bogen manchmal etwas in die andere Richtung überspannt hat. Das führte zu einer Formulierung in Was tun?, die Lenin von Kautsky übernommen hat und seither nie mehr wiederholte, dass die Arbeiterklasse «ausschliesslich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches [gewerkschaftliches] Bewusstsein hervorzubringen vermag».

Das ist offensichtlich ein Fehler, der aus einer Übertreibung fliesst. Wie Lenin im Buch selbst erklärt, ist das eine stark vereinfachte Faustregel. Trotzdem wiederholen viele sogenannte Leninisten diese Worte. In Wahrheit ist die Geschichte voll mit Beispielen von Arbeitern, die weitreichende politische Schlussfolgerungen gezogen haben, ohne dass diese Ideen von aussen von Marxisten hineingetragen wurden. Es reicht, etwa die fortgeschrittenen politischen Schlussfolgerungen des «physical force» Chartismus in Grossbritannien in den 1830er Jahren zu erwähnen.

Was Lenin jedoch richtigerweise betonte, war die essentielle Rolle der revolutionären Partei im politischen Kampf, deren erste Kader aus allen Klassen stammen können – zu der in Russland nicht nur viele Studenten, sondern sogar Kinder von Kapitalisten und Aristokraten gehörten – und deren Aufbau bis zu einem gewissen Grad unabhängig vom Wachstum der Arbeiterbewegung ist.

Eine Partei aus professionellen Revolutionären

Die Ökonomisten zeigten alle realen Probleme auf, mit denen die marxistische Bewegung zu kämpfen hatte – insbesondere die amateurhaften Methoden, die zu Polizeidurchsuchungen führten, welche die Arbeit unterbrachen – aber zogen alle falschen Schlussfolgerungen.

Sie machten vor allem die Tatsache dafür verantwortlich, dass Studenten über lange die Führung der marxistischen Zirkel dominiert hatten. Sie plädierten stattdessen dafür, die Arbeit unter Studenten zugunsten einer «breiten» Partei der Arbeiter zu vernachlässigen. Für eine Partei der «Massen», nicht der «Führer».

Aber Lenin erklärte, dass das Gegenteil einer losen, amateurhaften, schlecht geführten Organisation eine zentralisierte, disziplinierte, gut geführte Organisation von geschulten professionellen Revolutionären ist. Damit meinte Lenin nicht nur Fulltimer. In der ersten Ausgabe der Iskra erklärte er: Ein professioneller Revolutionär ist jemand, der sein gesamtes Leben, nicht nur die freien Abende der Revolution widmet. Ob ein professioneller Revolutionär vorher ein Student, ein Intellektueller oder ein Arbeiter war, ist egal.

Um diesen Punkt zu erklären, hat Lenin einen direkten Vergleich zwischen dem Klassenkrieg und dem traditionellen Krieg gezogen. Oftmals hat in der Geschichte hat eine kleine, aber disziplinierte Armee mit guten Offizieren grössere Armeen besiegt, die aus mutigen Soldaten bestanden, aber von schlechten Offizieren geführt waren. Dasselbe gilt für den Klassenkrieg. Eine revolutionäre Partei – soll sie denn effektiv sein – muss um politisch und technisch geschulte und gestählte Kader aufgebaut werden.

Der einzige Weg für eine solche Partei, sowohl politische Klarheit als auch Einheit in der Aktion zu erreichen, ist mithilfe des demokratischen Zentralismus. Das bedeutet breiteste demokratische Diskussionen in der gesamten Partei, bevor eine Entscheidung gefällt wird, um die maximale Klarheit zu erreichen und das Verständnis auf ein höheres Level zu heben. Aber nachdem die Entscheidung gefällt ist, ist die disziplinierte Einheit in der Aktion unverzichtbar.

Dieses Modell wurde nicht von Lenin erfunden. Er hat es aus der marxistischen Bewegung vor ihm, und insbesondere von der Deutschen Sozialdemokratischen Partei übernommen, die sich zu der Zeit noch als marxistische Organisation bezeichnete und international als Vorbild gehandelt wurde.

Heute gibt es viele auf der sogenannten Linken, die den demokratischen Zentralismus verhöhnen, da sie die Lügen der bürgerlichen Historiker glauben, die Lenin’s Namen anschwärzen wollen, indem sie ihn mit dem Stalinismus verbinden und fälschlicherweise den demokratischen Zentralismus mit dem monströsen bürokratischen Zentralismus von Stalins Diktatur gleichsetzen.

Diese Linken glauben diesen Mythos und haben das Gefühl, mit ihren «breiten», losen Netzwerken etwas gefunden zu haben, das viel «demokratischer» ist als Lenins zentralisierte Partei. Ausnahmslos führen ihre «Innovationen» aber zum Aufstieg von bürokratischen Cliquen, ungewählten Führungen ohne Rechenschaftspflicht und schliesslich ins Desaster. Das ist genau, was Lenin verhindern wollte.

Ein Beispiel: Kurz nachdem Corbyn 2015 zum Parteipräsidenten der Labour Party in Grossbritannien gewählt wurde, als Hunderttausende von normalen Arbeitern und Jugendlichen in die Partei strömten, gab es einen Versuch, dem Corbynism einen organisierten Ausdruck zu geben: Momentum. Hunderte Gruppen entstanden überall im Lande, Zehntausende wurden von diesem Banner angezogen.

Dessen Führer, etwa Jon Lansmann, erklärten, sie bauten eine «breite Basisbewegung» auf. Das klingt alles sehr schön und sehr «demokratisch». Was bedeutete es in der Praxis? Anstatt demokratischer Konferenzen mit Delegierten, die politische Ideen diskutieren, das Verständnis heben und ein Aktionsprogramm entwickeln, das die innere Revolution in der Labour Partei zum Abschluss bringt, kreierten sie eine demokratische Fassade mit gelegentlichen Online-Abstimmungen.

Ihr Vorbild war die Podemos, die viele scheinbar sehr demokratische Online-Debatten und -Konsultationen abhielt. Dabei konnten aber nur diejenigen an den Diskussionen teilnehmen, die alle Zeit der Welt hatten. Mangels angemessenen internen Kanälen wurde die Mehrheit von dem gesamten Prozess entfremdet und auf eine passive Position reduziert.

Die Führer von Momentum und Podemos hatten in Wahrheit Angst, die Kontrolle über die Organisation zu verlieren, wenn sie den Basismitgliedern die Initiative übergeben. Stattdessen wurden die Mitglieder behandelt wie hirnlose Fusssoldaten für eine Wahlmaschine, die wie ein Wasserhahn ein- und ausgeschaltet werden kann.

Die Momentum-Führer hatten nie den Anspruch, Marxisten zu sein. Aber die Situation ist bei vielen Sekten nicht besser, die sich «marxistisch» oder sogar «leninistisch» nennen.

Nachdem die Socialist Party in Grossbritannien die bestehenden Arbeitermassenorganisationen als verrottet und bürokratisch abgelehnt hat, hat sie wiederholt versucht, einfach neue, «breite» «Arbeitermassenparteien» auszurufen. In der Praxis verwässern sie einfach ihr revolutionäres Profil, wie es die Ökonomisten taten, nehmen eine reformistische Färbung an, sprechen ausschliesslich über «Brot und Butter»-Fragen und verschwenden eine Menge Zeit damit, ihre leblose «breite Front» künstlich am Leben zu erhalten.

Solche Versuche sind ausnahmslos immer gescheitert.

Für uns, als ernsthafte revolutionäre Kommunisten, ist der Aufbau einer disziplinierten Organisation aus professionellen Revolutionären, die gefestigt sind in der marxistischen Theorie, nicht nur ein schönes Hirngespinst. Es ist die absolut unabdingbare Voraussetzung für den Aufbau einer kämpferischen revolutionären Partei, die um die politische Führung der Arbeiterklasse konkurrieren kann. Die Oktoberrevolution hat die Richtigkeit der Leninschen Konzeption ein für alle Mal bewiesen. Was tun? bleibt deshalb ein Handbuch für uns, auf dem Weg, eine revolutionäre kommunistische Internationale zu gründen.

Eine gesamtrussische marxistische Zeitung

Wenn einmal klar ist, dass wir eine Partei von professionellen Revolutionären brauchen, stellt sich die Frage nach einem Plan. Wie gehen wir diese Aufgabe an? Lenin’s Antwort war klar: Die revolutionäre Bewegung braucht eine gesamtrussische marxistische Zeitung.

Die Ökonomisten waren perplex. Für sie kam die Frage nach einem Plan erst gar nicht auf, und der Plan von Lenin erschien ihnen doch sehr «buchmässig». Nein, sagten sie, wir müssen einfach etwas tun: mehr «praktische» Arbeit leisten, «die Bewegung aufbauen», Streikgelder sammeln, usw. usf.

Aber die Revolutionäre in Russland waren sehr aktiv! Das Problem war, dass diese Aktivität schlecht koordiniert war. Gruppen in einem Teil des Landes konnten nicht aus den Erfahrungen aus anderen Regionen lernen. Die Nachricht eines Streiks im Ural, eines Massakers auf dem Lande etc. wurde im restlichen Land nicht gehört. Qualitativ hochwertiges theoretisches Material erreichte die lokalen Gruppen nur selten und die Verbindung zur nationalen Führung war in den besten Fällen lückenhaft. Es gab massive Doppelarbeit, da überall lokale Zeitungen entstanden, die dann nach einer Verhaftungswelle durch die Okhrana (zaristische Geheimpolizei) wieder eingestellt wurden.

Eine nationale Zeitung würde es der Partei erlauben, diese Probleme gemeinsam anzugehen. Eine solche Zeitung würde die politisch wichtigsten Punkte zusammenfassen und ihre Leser auf die wichtigsten Lektionen, Ereignisse des nationalen und internationalen Klassenkampfs aufmerksam machen.

Darüber hinaus würde sogar die technische Vorbereitung der Zeitung die Organisation stählen und disziplinieren. Lenin erklärte die Rolle der Zeitung mit einer Analogie: eine Richtschnur, die von Maurern verwendet wird.

«Die Gründung einer gesamtrussischen Zeitung muss die wichtigste Richtschnur sein, an Hand derer wir die Organisation (d.h. die revolutionäre Organisation, die stets bereit ist, jeden Protest und jedes Aufflackern zu unterstützen) unbeirrt tiefer entwickeln und erweitern können. Sagt doch bitte: Wenn Maurer an verschiedenen Stellen die Steine für einen ungeheuer grossen, noch nie dagewesenen Bau legen – ist es dann eine ‘papierne’ Arbeit, wenn sie eine Schnur ziehen, die die richtige Stelle für das Legen der Steine anzeigt, die auf das Endziel der gemeinsamen Arbeit hinweist, die die Möglichkeit gibt, nicht nur jeden Stein, sondern auch jedes Stück Stein zu verwerten, das, sich dem vorhergehenden und dem folgenden einfügend, die letzte Lücke in der vollendeten und allumfassenden Linie schliesst? […] Hätten wir einen Trupp erfahrener Maurer, die so gut aufeinander eingearbeitet sind, dass sie auch ohne Schnur die Steine gerade dort hinlegen könnten, wo es notwendig ist (das ist, abstrakt gesprochen, durchaus nicht unmöglich), dann könnten wir vielleicht auch nach einem anderen Kettenglied greifen. Aber das ist ja eben das Malheur, dass wir noch keine erfahrenen und gut aufeinander eingearbeiteten Maurer haben, dass die Steine oft ganz nutzlos gelegt werden, dass sie nicht nach einer gemeinsamen Schnur gelegt werden, sondern so verstreut, dass der Feind sie einfach fortbläst, als wären es nicht Steine, sondern Sandkörner.»

So wie eine Richtschnur bei der gemeinsamen Arbeit hilft, so soll die Zeitung die gemeinsame Arbeit der Partei anleiten. Sie soll regelmässigen Kontakt und Korrespondenz zwischen den Regionen und dem Center fördern. Dafür braucht es ein Netzwerk zur Verteilung der Zeitung, zum Sammeln des Geldes, um die revolutionäre Organisation zu finanzieren, und die Entwicklung eines zuverlässigen Netzwerks von Kontakten in den Fabriken.

Dieselben Kontakte, welche die Iskra und andere Zeitungen, die die bolschewistische Partei später in den russischen Massen etabliert hatten, würden wie ein Nervensystem funktionieren, wenn der Tag für den Aufstand kommt.

In der Tradition dieser bewährten Methoden haben unsere Genossinnen und Genossen im Vorfeld der Gründung der Revolutionären Kommunistischen Internationale in den letzten Monaten in einer Reihe von Ländern die kommunistische Presse ins Leben gerufen oder wiederbelebt, unter anderem in Grossbritannien, Kanada, Deutschland, El Salvador, Portugal, Schweden, der Schweiz und Ungarn, wobei in einer ganzen Reihe weiterer Länder neue Zeitungen in Vorbereitung sind.

Heute gibt es viele sogenannte Linke (viele davon, die sich als Anhänger von Lenin verstehen!), die sich auch heute noch über die wahren Leninisten lustig machen, weil diese darauf bestehen, eine Zeitung zu veröffentlichen. Sie verweisen auf neue Formen der elektronischen und sozialen Medien. Mit einem Blog kann jeder, der in seinem Keller sitzt, sagen, was er will.

Aber der Aufbau einer Zeitung benötigt eine rundum professionelle Organisation. Sie erfordert eine klare redaktionelle Linie und ein starkes Netzwerk von geschulten, ausgebildeten Korrespondenten. Die nörgelnden Kritiker der revolutionären Presse verstehen nicht, dass das, was wir eigentlich aufbauen, überhaupt keine Zeitung ist: Wir bauen den Keim einer revolutionären Organisation auf.

Eine internationale Spaltung

Obwohl Lenin ein marxistischer Anführer in Russland war, war sein Ausblick niemals nur national. Er verstand sofort die wahre Bedeutung des Ökonomismus als russische Form des globalen opportunistischen Trends, der in der Arbeiterbewegung aufgekommen war.

Überall entwickelte sich eine klare Trennung innerhalb der sozialistischen Internationale zwischen dem revolutionären und dem opportunistischen Flügel.

In Deutschland war die Arbeiterbewegung – in Worten – immer noch dem Marxismus ergeben, aber eine verräterische Bürokratie von bequemen Karrieristen war dabei, sich zu festigen, vor allem in den oberen Schichten der Partei und der Gewerkschaften. Eine lange Boom-Periode bis 1914, in der die herrschende Klasse wichtige Zugeständnisse machte, ohne dass ernsthafte Klassenkämpfe geführt wurden, hatte in einer Schicht die Illusion genährt, dass alles immer besser werden würde.

Eduard Bernstein war der erste, der eine theoretische Rechtfertigung für diesen Opportunismus gab, indem er den Marxismus zu revidieren versuchte. Der Kapitalismus sei dabei, seine inneren Widersprüche zu lösen, behauptete er. Die friedliche Entwicklung würde für immer anhalten. Seiner Meinung nach können schrittweise kleine Reformen die Notwendigkeit für eine Revolution ersetzen – die SPD müsse nur ihre Parlamentsfraktion vergrössern, um sich für kleine Reformen einzusetzen und kleine ökonomische Konzessionen zu verlangen. Schon lange zuvor (1889) hatte Rosa Luxemburg in ihrem brillanten Pamphlet Reform oder Revolution eine Antwort darauf formuliert. 

Alle Voraussagen von Bernstein über den Kapitalismus ohne Widersprüche wurden mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 zerschmettert.

Im Gegensatz zu Deutschland mussten die russischen Kommunisten im Untergrund arbeiten. Es gab nur wenige legale Möglichkeiten für die Partei. Alles, was sie ihren Mitgliedern anbieten konnten, war ein Leben in Gefahr und Aufopferung. Nur diejenigen, die von den edelsten Absichten geleitet wurden, wurden in die Bewegung gezogen. Egoistische Karrieristen konnten dort nichts finden. Trotzdem drückte sich dieselbe opportunistische Tendenz aus, nur in einer subtileren Form. Doch gerade die Gefahren und Schwierigkeiten der revolutionären Arbeit in Russland und die Tatsache, dass eine ganze Generation ins Exil gezwungen wurde, um dort die Lehren aus der internationalen Bewegung zu ziehen, schärfte den Verstand Tausender junger Revolutionäre.

Die Spaltung der Arbeiterbewegung zwischen Opportunismus und Revolution ist nicht zufällig. Es ist ein Zeichen der Zeit. Während der Kapitalismus von einer Krise in die nächste taumelt, schwindet der Spielraum für ernsthafte, dauerhafte Reformen immer mehr. Die Zeiten, in denen man ernsthafte Reformen durchsetzen konnte, während man Lippenbekenntnisse zur zukünftigen sozialistischen Revolution abgab, die wie eine ferne Zukunftsperspektive erschien, liegen hinter uns. Die Frage des revolutionären Sturzes des Kapitalismus durch die Arbeiterklasse steht im Raum. Heutzutage endet der Reformismus schnell in Verrat und völliger Kapitulation vor der herrschenden Klasse. Die Leichen von Syriza und der Corbyn- und Sanders-Bewegung sind eine deutliche Erinnerung an diese Tatsache.

Der Kampf darum, alle revolutionären Kommunisten in einer Partei zu vereinen, die den Kampf aufnimmt, um den Einfluss des reformistischen Opportunismus über breite Schichten der Arbeiterklasse zu brechen, ist der entscheidende Kampf unserer Zeit. Bevor Kommunisten die Macht erobern können, müssen sie die Arbeiterklasse erobern.

In diesem Sinne hat Was tun? Heute nicht an Bedeutung verloren. Reformisten, Sektierer und Anarchisten wiederholen weltweit die Argumente der Ökonomisten.

Sie bevormunden die Arbeiterklasse. Sie sagen uns, dass «das Bewusstsein der Arbeiterklasse zu tief ist», um revolutionäre Ideen zu verstehen. Stattdessen müssen wir uns auf kleine Schritte begrenzen, sagen sie. Wir begrenzen unseren Fokus auf Dinge wie simple Gewerkschaftsarbeit, «mutual aid» und «Brotfragen»; wir sollen uns «wählbar» machen für die breiten Massen, anstatt den Blick der Massen für die grossen historischen Aufgaben zu heben, die sie selbst noch nicht begreifen.

Sie behandeln Arbeiter wie Kinder und verwechseln ihre eigene Rückständigkeit, ihr eigenes tiefes Level mit demjenigen der Arbeiter. Sie lehnen die Idee einer Partei der Avantgarde der Arbeiterklasse auf Grundlage von professionellen Revolutionären ab, weil es «elitär» sei. Stattdessen sehen die Reformisten die Partei nur als Wahlmaschine, um sie ins Parlament zu hieven. Währenddessen verherrlichen Anarchisten die spontane Bewegung der Arbeiterklasse, was sie praktischerweise von der Pflicht, etwas zu tun, befreit, ausser vielleicht ab und zu den Arbeitern einen Anstoss zu geben durch «direkte Aktion». Lenin hat im Stil einer scharfen Polemik in Was tun? längst all das beantwortet. Die Kommunisten sollten dieses Buch wieder und wieder lesen, um sich auf die kommende Zeit vorzubereiten.


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