Im März erschien im AdV-Verlag das Buch „Lenin & Trotsky – What they really stood for“, beinahe 50 Jahre nach dem ersten Erscheinen erstmals in deutscher Übersetzung. Warum sich die Lektüre heute noch immer lohnt, erklärt Sandro Tsipouras.
„Lenin und Trotzki – Wofür sie wirklich kämpften“ wurde von den britischen Marxisten Ted Grant und Alan Woods im Jahr 1969 als Antwort auf einen Artikel von Monty Johnstone geschieben, dem führenden Theoretiker der Kommunistischen Partei Großbritanniens. Dieser versuchte, aus stalinistischer Sicht Trotzki und seinen Beitrag zur Oktoberrevolution zu diskreditieren, um zu verhindern, dass die Mitglieder der Kommunistischen Jugend unter den Einfluss des britischen Trotzkismus gerieten.
Heute ist der Stalinismus zumindest in Westeuropa kein relevanter Faktor mehr, gegen den die MarxistInnen polemisieren müssten. Doch gerade jetzt, im Jahr des 100. Jubiläums der russischen Revolution, ist ein solches Buch von außerordentlicher Bedeutung, um der Propagandawelle gegen Lenin und die Bolschewiki etwas entgegenzusetzen und die Lügen zu beantworten, die die bürgerlichen VerteidigerInnen des Status Quo heute noch wiederholen.
Wer mit den Ideen der Bolschewiki noch nicht vertraut ist, kann hier alles lernen, was er oder sie braucht, um sich von der Falschheit der bürgerlichen Behauptungen über die Oktoberrevolution als „blutigen Putsch“ oder die Regierung der Bolschewiki als „Terrorherrschaft“ zu überzeugen. StalinistInnen und Bürgerliche sind sich einig darin, dass sie die Bolschewiki der russischen Revolution mit dem Stalinismus gleichsetzen wollen. Daher eignet sich diese ursprünglich gegen die StalinistInnen gerichtete Schrift auch vorzüglich zur Widerlegung bürgerlicher Geschichtslügen.
Weil die Verfasser ausgiebigen Gebrauch von Zitaten der betreffenden Persönlichkeiten – vor allem Lenin, Trotzki, Stalin – machen, kann man aus erster Hand nachvollziehen, wie ihre Ideen entstanden, wie sie sich voneinander abgrenzten und unterschieden und welche Rolle sie in der Geschichte gespielt haben. Aus diesem Grund bietet das Buch viele Anregungen und Anhaltspunkte für ein weitergehendes Studium der Schriften Trotzkis und vor allem Lenins.
Debatten in der russischen Arbeiterbewegung
Dabei wird zunächst die Entstehung des Bolschewismus als politischer Strömung innerhalb der russischen Arbeiterbewegung im Jahr 1903 behandelt und aufgezeigt, wie sich die Ideen des Marxismus gegen den Opportunismus der Menschewiki abgrenzten: Während die Menschewiki mit der liberalen Bourgeoisie zusammenarbeiten wollten, standen die Bolschewiki für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse. Hier haben wir es mit einem Grundkonflikt in der Arbeiterbewegung zu tun, der in unzähligen Variationen zu jeder Zeit und in jedem Land wieder aufgetaucht ist. Soll sich eine Arbeiterpartei den Bürgerlichen und ihren Interessen unterordnen oder eine von ihr vollständig unabhängige Politik verfolgen?
Anhand der ersten russischen Revolution im Jahr 1905 wird aufgezeigt, wie die Bolschewiki von Anfang an auf eine weltweite Revolution orientierten – im Gegensatz zu den Lügen des Stalinismus, der behauptet, es sei den Bolschewiki um den Aufbau des Sozialismus in einem Land gegangen. StalinistInnen zeichnen stets Lenin als den pragmatischen, kaltblütigen Strategen und stellen ihm einen schwankenden, ultralinken, radikale Phrasen dreschenden Trotzki gegenüber. Die Idee der Weltrevolution, die sie als „Export der Revolution“ bezeichnen, soll als Wahnvorstellung dieses einsamen Irren erscheinen, der daher sein Leben lang in der Arbeiterbewegung isoliert blieb. Mit dieser Vorstellung wird gründlich aufgeräumt und es wird dargestellt, wie in Wirklichkeit Stalin noch bis 1912 zwischen Menschewiki und Bolschewiki hin- und herschwankte: ganz und gar kein prinzipienfester Revolutionär, sondern von Anfang an Opportunist bis ins Mark, der Idealtyp des Bürokraten.
Die Debatten in der russischen Arbeiterbewegung um den Charakter der Revolution, aus denen Trotzkis Theorie der permanenten Revolution entstand, werden gründlich nachgezeichnet und erläutert. Es wird aufgezeigt, wie diese Theorie im Jahr 1917 dann glänzend bestätigt wurde, wie die Bolschewiki die Unterstützung der ArbeiterInnen und Bauern gewannen, wie sie die bürgerliche Kerenski-Regierung stürzten und den Krieg beendeten.
Dabei wird deutlich, dass das Bürgertum schon damals aufgehört hatte, eine fortschrittliche gesellschaftliche Klasse zu sein, von der man in irgendeinem fortschrittlichen Anliegen Unterstützung erwarten könnte, und dass sie das heute erst recht ist – eine Lektion, die die katastrophalen Auswirkungen von Bündnissen der Arbeiterparteien mit „fortschrittlichen“ Bürgerlichen erklärt – von der Niederlage der Revolutionen in Mitteleuropa nach dem 1. Weltkrieg, die unmittelbar den Aufstieg des Faschismus ermöglichten, bis zur Kapitulation der SYRIZA-Regierung 2015 in Griechenland.
Lenin und Trotzki gegen die Bürokratie
Gegen alle Versuche, der Position Lenins einen pazifistischen oder gar „patriotischen“ Anstrich zu geben, wird klargestellt, wie die Bolschewiki bei den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk zur Beendigung des Krieges mit Deutschland alles taten, um den ArbeiterInnen die wahren Ziele der Herrschenden zu erklären und damit die internationale Revolution voranzutreiben. Die Politik der Bolschewiki war durch und durch internationalistisch. Wie Lenin selbst schrieb:
„Wir mußten in der Zeit des Brester Friedens gegen den Patriotismus angehen. Wir sagten: Bist du Sozialist, so mußt du alle deine patriotischen Gefühle opfern im Namen der internationalen Revolution, die kommen wird, die noch nicht da ist, an die du aber, bist du Internationalist, glauben mußt.“
Wie lächerlich wirken da die späteren Beteuerungen der StalinistInnen, Lenin sei für eine „friedliche Koexistenz“ mit dem Imperialismus eingetreten! Wie lächerlich wirkt auch der heutige Versuch der bürgerlichen Lohnschreiberlinge, Lenin und die Führung der Bolschewiki als engstirnige russische Despoten darzustellen!
Auch während Lenins restlicher Lebenszeit orientierten die Bolschewiki kompromisslos auf die internationale Revolution – ausführlich wird erläutert, warum sie darin die einzige Möglichkeit für den Sieg des Sozialismus in Russland sahen. Das Ausbleiben der internationalen Revolution und das Aushungern der Sowjetmacht führten zur Degeneration des Arbeiterstaates und zum Aufstieg des Stalinismus. Grant und Woods zeichnen akribisch den Prozess nach, der konkret dahinter stand: Die Erosion der Klassenbasis der Revolution, also die Schwächung der Arbeiterklasse, deren Platz durch das gestärkte Kleinbürgertum gefüllt wurde. Auf dieser Grundlage kam es zum Aufstieg der Bürokratie in Staat und Partei, die die Zügel immer fester in die Hand nahm und die Arbeiterklasse aus dem politischen Leben drängte.
Die LeserInnen werden umfassend mit allen wesentlichen Inhalten von Lenins Schriften während der letzten Jahre seines Lebens vertraut gemacht. Im Zentrum steht darin der Kampf gegen die aufstrebende Bürokratie. Es wird unwiderlegbar nachgewiesen, wie Lenin Trotzki mit der Führung dieses Kampfes gegen Stalin betraut hat. Es wird auch aufgezeigt, wie Lenin den Stalinismus zu verhindern gedachte: Er forderte, dass die ArbeiterInnen und ihre Organisationen die Bürokratie und ihre Raffgier, Korruption, Verschwendungssucht und Misswirtschaft kontrollieren sollten. Lenin ging davon aus, dass die Entwicklung einer gesunden Arbeiterdemokratie für die Entwicklung zum Sozialismus unverzichtbar war.
Der stalinistischen Bürokratie machte jedes Anzeichen von unabhängiger Bewegung der Arbeiterklasse panische Angst. Damit ist sie sich mit den Bürgerlichen und den ReformistInnen von heute einig darüber, dass die wirkliche Triebkraft hinter der russischen Revolution – die einfachen ArbeiterInnen und Soldaten, die armen Bäuerinnen und Bauern auf dem Land – unbedingt vertuscht werden muss. Der Stalinismus beantwortet die Forderung nach Arbeiterdemokratie mit einem hilflosen Schulterzucken. Er stellt die russische Revolution als geradlinigen, widerspruchsfreien Prozess dar, in dem die Partei der Bolschewiki in einem Akt „von oben“ die Macht übernahm. Die Sozialdemokratie weigert sich, über Ideen wie die Rätedemokratie auch nur zu reden. Die Bürgerlichen tun aktiv alles, um den Kapitalismus mit bürgerlichem Parlamentarismus, der sich vor unseren Augen weltweit diskreditiert, als die Beste aller möglichen Welten darzustellen und erhalten darin von den ReformistInnen alle nötige Unterstützung.
Die russische Revolution ist der historische Beweis dafür, dass eine Welt, in der die arbeitenden Menschen die Macht haben, wirklich möglich ist. Die Herausgabe von „Lenin und Trotzki – wofür sie wirklich kämpften“ in deutscher Sprache ist unser Beitrag dazu, dass die Lehren daraus trotz aller Lügen und Verleumdungen erhalten bleiben. In Bezug auf die großen Klassenauseinandersetzungen nach dem 1. Weltkrieg schrieb Lenin dazu: „Mag die Bourgeoisie toben, bis zum Irrsinn wüten, übertreiben, Dummheiten machen, sich an den Bolschewiki im voraus rächen … indem die Bourgeoisie das tut, handelt sie, wie alle von der Geschichte zum Untergang verurteilten Klassen gehandelt haben. Die Kommunisten müssen wissen, daß die Zukunft auf jeden Fall ihnen gehört.“
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Lenin und Trotzki-wofür sie wirklich kämpften
Verlag AdV
320 Seiten, ISBN: 978-3-902988-09-6
Erschienen: März 2017
Preis: 20 Franken (zzgl. Versand)
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