Die heutige Weltlage ist durch den Ausbruch einer ganzen Reihe blutiger Konflikte gekennzeichnet: in der Ukraine, in Gaza, im Kongo, im Sudan. In der Epoche des Imperialismus würde das kapitalistische System, das sich selbst überlebt hat, die Menschheit lieber in einem Meer von Blut ertränken, als friedlich in den Mülleimer der Geschichte zu wandern. Auf der anderen Seite ist die Weltlage von einer revolutionären Wut gegen Krieg und Imperialismus geprägt.

Dieses Jahr haben wir eine brandneue Auswahl von Lenin über den imperialistischen Krieg veröffentlicht, als Waffe für eine neue Generation kommunistischer Kämpfer. Wir veröffentlichen hier die Einleitung von Jorge Martín in deutscher Übersetzung. Wir empfehlen all unseren Lesern, ihr Exemplar von «Lenin: selected writings on imperialist war» jetzt für 22.- CHF zu bestellen.

Diese Einleitung stellt diese unschätzbare Sammlung von Schriften in ihren Kontext und erklärt, wie Lenin und die Bolschewiki vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg und der Machtergreifung der russischen Arbeiterklasse im Oktober 1917 gegen den Imperialismus kämpften und wie sie das revolutionäre Programm des Kommunismus bei jedem Schritt mit den Massen verbanden.


Dieser Band ist eine Sammlung von Lenins Schriften zur entscheidenden Frage der Haltung revolutionärer Marxisten zum Krieg, insbesondere im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg. Das Studium dieser Texte ist heute wichtig, da die Frage des Krieges wieder auf der Tagesordnung steht und viele in der Arbeiterbewegung, darunter einige, die sich selbst «Kommunisten» nennen, schändlicherweise eine sozialchauvinistische Position der Unterstützung ihrer eigenen herrschenden Klasse eingenommen haben.

Die marxistische Position zum Krieg wurde von Marx und Engels zu einer Zeit entwickelt, als der Kapitalismus noch eine relativ fortschrittliche Rolle spielte und die Bourgeoisie eine Reihe fortschrittlicher und sogar revolutionärer Kriege geführt hatte. Lenin erklärte, dass in der Zeit zwischen der Grossen Französischen Revolution von 1789 und der Pariser Kommune von 1871 die meisten Kriege in Europa «bürgerlich-fortschrittliche nationale Befreiungskriege» waren und als Konsequenz:

«… alle aufrechten, revolutionären Demokraten, ebenso wie alle Sozialisten, […] bei solchen Kriegen stets den Sieg desjenigen Landes (d.h. derjenigen Bourgeoisie) [wünschten], das zur Beseitigung oder Untergrabung der gefährlichsten Stützpfeiler des Feudalismus, des Absolutismus und der Unterdrückung fremder Völker beitrug.»[1]

Das 20. Jahrhundert kündigte den Beginn einer völlig anderen Periode an, der des Imperialismus. Dies hatte Auswirkungen auf die Position der Marxisten. Zu diesem Zeitpunkt wurde Europa von imperialistischen Mächten dominiert und die Idee einer «nationalen Verteidigung» oder eines gerechten «nationalen Krieges» galt nicht mehr. Vielmehr wurden Kriege nun von verschiedenen Gruppen von Sklavenhaltern geführt, die gegeneinander «für eine ‚gerechtere‘ Neuaufteilung der Sklaven» kämpften, wie Lenin es ausdrückte.[2]

Die Zweite Internationale, die sich formal auf den Marxismus stützte, hatte den bevorstehenden Kriegsausbruch zwischen imperialistischen Mächten diskutiert und eine klare Position dagegen bezogen. Die Stuttgarter Konferenz der Sozialistischen Internationale im Jahr 1907 hatte eine Resolution angenommen, in der klar dargelegt wurde, dass «Kriege […] also im Wesen des Kapitalismus [liegen]; sie werden erst aufhören, wenn die kapitalistische Wirtschaftsordnung beseitigt ist».[3]

Der Hauptteil der Resolution war von August Bebel verfasst worden und spiegelte die marxistische Sicht auf den Krieg im Allgemeinen wieder, es fehlten jedoch konkrete Einzelheiten zu den Massnahmen, die die Arbeiter gegen Krieg und Militarismus ergreifen müssen. Die russische Delegation (Lenin und Martow) erarbeitete gemeinsam mit Rosa Luxemburg eine Reihe von Änderungsanträgen. Diese wurden dem Ausschuss «Militarismus und internationale Konflikte» vorgelegt, der sie akzeptierte. Lenin erklärte:

«Diese Anträge besagten 1., dass der Militarismus ein Hauptwerkzeug der Klassenunterjochung ist, verwiesen 2. auf die Aufgabe der Agitation unter der Jugend und betonten 3. die Aufgabe der Sozialdemokratie, nicht nur gegen den Ausbruch von Kriegen oder für die rasche Beendigung bereits ausgebrochener Kriege zu kämpfen, sondern auch die durch den Krieg herbeigeführte Krise auszunutzen, um den Sturz der Bourgeoisie zu beschleunigen»[4].

Im Ausschuss für Krieg und Militarismus auf dem Stuttgarter Kongress konnten Lenin und Luxemburg auch auf die halbanarchistischen Ideen des französischen Ultralinken Gustave Hervé antworten und betonten damit die marxistische Grundposition zum Krieg:

«Der bekannte Hervé, der in Frankreich und Europa so viel Staub aufgewirbelt hat, vertrat in dieser Frage einen halbanarchistischen Standpunkt, indem er naiv beantragte, jeden Krieg mit Streik und Aufstand zu ‘beantworten’. Einerseits begriff er nicht, dass der Krieg ein unvermeidliches Produkt des Kapitalismus ist und dass das Proletariat die Beteiligung an einem revolutionären Krieg nicht von vornherein ablehnen kann, da in kapitalistischen  Gesellschaften solche Kriege möglich sind und es sie tatsächlich gegeben hat. Anderseits begriff er nicht, dass die Möglichkeit, den Krieg zu ‘beantworten’, vom Charakter der durch den Krieg hervorgerufenen Krise abhängt. Von diesen Bedingungen ist die Wahl der Kampfmittel abhängig, wobei dieser Kampf (und dies ist der dritte Punkt des Missverständnisse oder des Unverstands des Hervéismus) nicht allein die Ersetzung des Krieges durch den Frieden, sondern die Ersetzung des Kapitalismus durch den Sozialismus zum Ziele haben muss. Es handelt sich nicht allein darum, den Ausbruch des Krieges zu verhindern, sondern darum, die durch den Krieg hervorgerufene Krise zur Beschleunigung des Sturzes der Bourgeoisie auszunutzen»[5].

Ironischerweise schwenkte Hervé, der kein materialistisches Verständnis der Frage hatte und vom Kampf gegen Militarismus und Krieg im Allgemeinen besessen war, hart in die entgegengesetzte Richtung und schloss sich 1914 dem chauvinistischen Lager der «nationalen Verteidigung» an.

Eine ähnliche Resolution wie die von Stuttgart wurde 1910 auf dem Kopenhagener Kongress der Sozialistischen Internationale und 1912 auf dem Basler Kongress angenommen. Die Sozialistische Internationale hatte klar erklärt, dass der bevorstehende Krieg ein imperialistischer Krieg sei und dass dies die Pflicht der sozialistischen Parteien sei bestand darin, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen vorzugehen.

Der Verrat von 1914

Als jedoch 1914 der Krieg ausbrach, verriet die Sozialistische Internationale ihre eigenen Beschlüsse und unterstützte das imperialistische Gemetzel voll und ganz. Eine nach der anderen stimmten in Deutschland, Frankreich, Belgien und Grossbritannien dieselben sozialistischen Parteien, die für die Resolutionen gegen den imperialistischen Krieg gestimmt hatten, nun für Kriegskredite, erklärten einen Waffenstillstand im Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital und traten in Regierungen der nationalen Einheit mit der herrschenden Klasse ein und erlagen dem Sozialchauvinismus.

Dies war ein grosser Schock, auch für Lenin, der zunächst dachte, die Ausgabe der SPD-Zeitung «Vorwärts», in der die Unterstützung von Kriegskrediten angekündigt wurde, sei eine Fälschung des Generalstabs der deutschen Armee. Tatsächlich waren die Hauptparteien der Zweiten Internationale, einschliesslich der grossen und einflussreichen SPD, obwohl sie oberflächlich immer noch marxistische Ideen und Programme verteidigten, gründlich vom Reformismus infiziert. Die obersten Schichten der sozialistischen Organisationen, die sich in einer Zeit des anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwungs des Kapitalismus entwickelt hatten, waren vom Kapitalismus kooptiert worden. In «Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus» (1916) erläuterte Lenin die sozialen Wurzeln des Chauvinismus und Revisionismus, die er mit dem Aufstieg des Imperialismus in Verbindung brachte. Die Extraprofite aus der Ausbeutung der Kolonien ermöglichten es der herrschenden Klasse in den imperialistischen Ländern, die oberste Schicht der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen aufzukaufen und so eine Arbeiteraristokratie zu schaffen. Sie waren nichts weiter als «Agenten der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung», wie Lenin es ausdrückte.[6]

Diejenigen, die den internationalistischen, antiimperialistischen Prinzipien der Bewegung treu blieben, befanden sich in einer kleinen Minderheit, allen voran die russischen Bolschewiki und die serbische Partei, die als einzige nicht für Kriegskredite stimmten, sowie prominente, aber zunächst isolierte Einzelpersonen, wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in Deutschland, James Connolly in Irland, John Maclean in Schottland, Eugene V. Debs in den USA und der grosse Balkan-Marxist Christian Rakowski. Andere, die sich dem Krieg widersetzten, taten dies aus einer hoffnungslos pazifistischen oder neutralen Position heraus, wie etwa die britische Independent Labour Party und die Italienische Sozialistische Partei.

In dieser Anfangsphase war Lenin isoliert im Exil (ursprünglich im von Österreich besetzten Galizien, dann in der sichereren neutralen Schweiz) und hatte nur sehr wenige Möglichkeiten, Kontakt und Korrespondenz mit den Bolschewiki in Russland aufrechtzuerhalten. Er startete einen entscheidenden Kampf, um die Prinzipien des Marxismus in der alles entscheidenden Frage des Krieges zu verteidigen. Er sah seine Hauptaufgabe darin, theoretische Klarheit und eine klare Grenzlinie herzustellen, nicht nur zwischen den Revolutionären und den Sozialpatrioten, sondern auch zwischen den Revolutionären und den schwankenden Elementen (repräsentiert durch Karl Kautsky) und mit jedem, der nicht bereit war, mit den Sozialpatrioten einen klaren Bruch zu vollziehen.

Die Hauptideen, für die er kämpfte, waren, dass der Krieg ein imperialistischer Krieg ist und von der Arbeiterklasse in allen Ländern bekämpft werden muss; dass die Führer der Sozialdemokratie die Bewegung verraten haben; dass die Zweite Internationale tot ist und eine neue Internationale aufgebaut werden muss; und dass der einzige Weg, den Krieg zu beenden, die Revolution ist. Er vertrat auch entschieden Stellung gegen den Pazifismus und erklärte, dass ein imperialistischer Frieden nur der Auftakt zu einem neuen imperialistischen Krieg sei.

Zimmerwald

Mit der Zeit, als der Krieg – von dem alle dachten, dass er höchstens ein paar Monate dauern würde – immer länger und tödlicher wurde, bekamen die Stimmen innerhalb der Arbeiterbewegung, die sich gegen das imperialistische Massaker aussprachen, immer mehr Gehör. Die schweizerische und die italienische Partei beriefen offiziell eine Konferenz der sozialistischen Kriegsgegner ein. Sie fand vom 5. bis 8. September 1915 in Zimmerwald in der Schweiz statt.

Zur Vorbereitung der Konferenz verfasste Lenin eine Broschüre, in der er die Position der Bolschewiki zu allen wichtigen Aspekten der Opposition gegen den imperialistischen Krieg darlegte. Die von Sinowjew mitunterzeichnete Broschüre «Sozialismus und Krieg» wurde in deutscher Sprache gedruckt und an alle Zimmerwald-Besucher verteilt.[7]

Das Dokument war eine Zusammenfassung der wichtigsten Ideen, die Lenin seit Beginn des Krieges verteidigt hatte. Er erklärte, dass Marxisten keine Pazifisten seien.

Der marxistische Ansatz zum Krieg geht von dem Verständnis aus, dass Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist und daher auch unter dem Gesichtspunkt der Interessen der Arbeiterklasse angegangen werden muss. Marxisten sind nicht gegen alle Kriege, sondern gehen von einer konkreten Analyse des Charakters eines jeden Krieges aus. Ihre Einstellung zu einem Krieg wird nicht dadurch bestimmt, wer den ersten Schuss abgibt oder wer «der Aggressor» ist, da imperialistische Mächte immer einen Vorwand finden oder erfinden, um einen Krieg zu rechtfertigen. Es gibt reaktionäre imperialistische Kriege, die Marxisten ablehnen, aber es gibt auch fortschrittliche Kriege. Revolutionäre befürworten nationale Befreiungskriege und Kriege unterdrückter Nationen gegen den Imperialismus. Revolutionäre befürworten auch den Klassenkampf der unterdrückten Klassen gegen die herrschende Klasse.

Wie Lenin später hinzufügte, als er die Position der deutschen Gruppe «Internationale», bestehend aus Luxemburg, Liebknecht und Zetkin, kommentierte, befürworten Marxisten auch Kriege, die ein siegreicher proletarischer Staat gegen Versuche der Bourgeoisie, ihn zu zerschlagen, führt.[8]

Marxisten lehnen die Idee der «nationalen Verteidigung» in einem imperialistischen Krieg ab, da sie in Wirklichkeit das Recht einer Räubergruppe bedeutet, die Kolonialländer auf Kosten einer gegnerischen Räubergruppe auszuplündern. Die Rechte kleiner Nationen werden von den imperialistischen Mächten als Vorwand benutzt.

Tatsächlich argumentierte Lenin in Bezug auf den Ersten Weltkrieg, dass der einzige Fall, in dem der Krieg einen «nationalen» Charakter habe und daher als fortschrittlich angesehen werden könne, der Fall Serbiens sei, das von Österreich-Ungarn angegriffen worden sei. Aber auch hier wurden die nationalen Aspekte überlagert durch den allgemein imperialistischen Charakter des Krieges und die Tatsache, dass hinter Serbien die Interessen des russischen Imperialismus standen. Interessanterweise wurde Lenins Einschätzung von den serbischen Marxisten nachdrücklich geteilt – ihr Verständnis der revolutionären Position gegenüber dem Krieg in der imperialistischen Epoche wurde durch die Balkankriege vor dem Ersten Weltkrieg geschärft und sie vertraten daher eine prinzipielle Position.[9]

In Kriegszeiten wie in Friedenszeiten muss die Arbeiterklasse zur Verteidigung ihrer eigenen Interessen ihre Klassenunabhängigkeit wahren und darf keine Koalitionen oder Vereinbarungen mit der Kapitalistenklasse eingehen. Marxisten lehnen «nationale Einheit» oder einen «Burgfrieden» (Klassenfriede) im Namen der «nationalen Verteidigung» ab.

Lenin behielt einige seiner schärfsten Ausdrücke für seine Angriffe auf die Opportunisten, die vor allem durch Kautsky vertreten wurden. Sie waren «im Allgemeinen» und «im Prinzip» gegen den Krieg, entschuldigten sich dann aber für diejenigen, die für die Kriegskredite gestimmt hatten und dem Sozialchauvinismus erlegen waren. Sie lehnten den Krieg in Worten ab, weigerten sich jedoch, ihn in der Praxis zu bekämpfen. Auch in der Frage der Notwendigkeit eines klaren Bruchs mit den Sozialchauvinisten schwankten sie.

Auch dies war für Lenin ein entscheidender Punkt. Die Zweite Internationale hatte die Sache der Arbeiterklasse verraten; eine neue Internationale war notwendig.

Wie sollte der Kampf gegen den imperialistischen Krieg geführt werden? Lenins Ausgangspunkt war, dass die einzige Möglichkeit, den Krieg zu beenden, darin bestand, ihn in einen Bürgerkrieg umzuwandeln, einen revolutionären Krieg zum Sturz des kapitalistischen Systems. Ein imperialistischer Frieden wäre lediglich die Fortsetzung des imperialistischen Krieges und würde neue räuberische Eroberungskriege vorbereiten. Der einzige konsequente Kampf gegen den Krieg war der Kampf, die Arbeiterklasse an die Macht zu bringen.

Darüber hinaus wies Lenin auf Fälle von Verbrüderung zwischen Soldaten verschiedener Länder hin und betonte die Notwendigkeit, systematisch in diese Richtung zu arbeiten. Angesichts der Einschränkung demokratischer Rechte in allen kriegführenden Ländern plädierte er für die Ergänzung der legalen und parlamentarischen Arbeit durch Untergrund- und illegale Arbeit. Im Allgemeinen befürwortete er die Unterstützung aller Arten revolutionärer Massenaktionen des Proletariats.

Die Teilnehmer der Zimmerwalder Konferenz liessen sich grösstenteils in drei Gruppen einteilen. Der rechte Flügel lehnte den Krieg ab, allerdings überwiegend aus pazistischer, nicht revolutionärer Position, und war gegen einen klaren Bruch mit den Sozialchauvinisten. Der linke Flügel um Lenin und die Bolschewiki bestand nicht nur auf der Ablehnung des Krieges, sondern bestand auch darauf, dass die Sozialisten, die den Krieg unterstützt hatten, denunziert werden müssten; sie forderten, dass sozialistische Abgeordnete gegen Kriegskredite stimmen sollten; sie erklärten, dass der Krieg nur mit revolutionären Mitteln beendet werden könne; und sie betonten die Notwendigkeit eines klaren Bruchs und der Bildung einer neuen Internationale. Zwischen diesen beiden Gruppen stand eine Gruppierung des Zentrums, die sich in einigen Schlüsselfragen auf die Seite der Linken stellte, jedoch nicht vollständig.

Es wurde schnell klar, dass die Linke in der Minderheit war. Einer der deutschen Delegierten, Georg Ledebour, drohte mit seinem Rücktritt, wenn in der endgültigen Resolution ein Aufruf an die sozialistischen Abgeordneten enthalten würde, gegen die Kriegskredite zu stimmen.

Am Ende einigte man sich auf eine gemeinsame Erklärung mit den wichtigsten Ideen der Linken. Diese war von Trotzki entworfen worden, der, obwohl er nicht offiziell der Zimmerwald-Linken angehörte, in allen grundlegenden Fragen auf ihrer Seite stand.

Das Zimmerwald-Manifest erklärte, der Krieg sei imperialistisch und müsse bekämpft werden. Darin wurde argumentiert, dass die Internationale und die Parteien, die für die Kriegskredite gestimmt, sich nationalen Einheitsregierungen angeschlossen und sich für sozialen Frieden eingesetzt hatten, die Arbeiterklasse im Stich gelassen hätten. Schliesslich erinnerte das Manifest die Arbeiter daran, dass man dem Krieg mit den Methoden entgegentreten müsse, die in den Resolutionen früherer sozialistischer Konferenzen dargelegt wurden.

Es war jedoch klar, dass einige entscheidende Fragen ausser Acht gelassen wurden, weshalb die Linke auf der Konferenz zwei zusätzliche Erklärungen abgab, in denen sie auf die Mängel des Hauptmanifests hinwies.[10] In der ersten Erklärung wurde erklärt, dass das Manifest keine Kritik an den Opportunisten enthalte. Die zweite Erklärung kritisierte, dass die Aufnahme der Forderung, dass sozialistische Abgeordnete gegen Kriegskredite stimmen müssen, blockiert wurde, indem einige deutsche Delegierte mit dem Verlassen der Konferenz drohten.

Die Linke machte also deutlich, dass das Manifest zwar einen Fortschritt darstelle, es aber eine Reihe von Punkten gäbe, die klarer oder energischer hätten zum Ausdruck gebracht werden müssen. Sie waren daher einen teilweisen Kompromiss hinsichtlich der politischen Klarheit eingegangen, um die Einheit mit dem Zentrum aufrechtzuerhalten und sich gleichzeitig die Freiheit zu bewahren, ihre Position umfassend darzulegen und öffentlich dafür zu werben.

Wie wir sehen, herrschte selbst unter den Kriegsgegnern immer noch Verwirrung, und viele hatten nicht alle notwendigen Schlussfolgerungen gezogen, insbesondere im Hinblick auf die Notwendigkeit eines klaren Bruchs mit dem Opportunismus und die Notwendigkeit, eine neue Internationale zu gründen.

Sieben Monate nach der Zimmerwald-Konferenz fand vom 24. bis 30. April 1916 in Kiental, in der Schweiz, ein Folgetreffen statt, an dem 43 Delegierte teilnahmen. Davon unterstützten zwölf die von Lenin angeführte Zimmerwalder Linke, ein Anstieg um vier seit der letzten Konferenz. Die öffentliche Meinung der Arbeiterklasse zum Krieg hatte sich noch weiter verändert, was der Linken in Kiental eine stärkere Position verschaffte. Bei einigen Themen gelang es der Linken, zwanzig Stimmen zu bekommen. Sogar der rechte Flügel der Antikriegssozialisten geriet von unten unter Druck, eine radikalere Haltung einzunehmen, zumindest in Worten. Das angenommene Manifest war somit in zwei wichtigen Aspekten ein Fortschritt gegenüber Zimmerwald: Es enthielt eine explizite Kritik an den sozialpatriotischen Führern der Sozialistischen Internationale und forderte offen die sozialistischen Abgeordneten auf, gegen Kriegskredite zu stimmen und mit den Regierungen der nationalen Einheit zu brechen.

Die Hauptdebatte bei Kiental drehte sich um die Frage, wie die Krise der sozialistischen Bewegung gelöst werden sollte. Die Zimmerwalder Linke rief die Arbeiter offen dazu auf, die theoretischen und organisatorischen Vorbedingungen für die Vorbereitung der Gründung einer neuen Internationale zu schaffen, während die Rechte und das Zentrum wollten, dass die Internationale ihr führendes Gremium, das Internationale Sozialistische Büro, wieder einberuft, um den Kampf dort zu führen.

Revolutionärer Defätismus

In diesem Zusammenhang vertrat Lenin eine Position des «revolutionären Defätismus»:

«Aber für uns russische Sozialdemokraten kann es keinem Zweifel unterliegen, dass vom Standpunkt der Arbeiterklasse und der werktätigen Massen aller Völker Russlands die Niederlage der Zarenmonarchie, der reaktionärsten und barbarischsten Regierung, die weitaus die meisten Nationen und grössten Bevölkerungsmassen Europas und Asiens unterjocht hat, das kleinere Übel wäre.»[11]

Dabei betonte Lenin, dass die Niederlage der Zarenmonarchie das geringere Übel sei vom Standpunkt der russischen Arbeiter. Die deutschen Sozialchauvinisten begründeten die Unterstützung ihrer eigenen herrschenden Klasse auf den Kriegszielen Deutschlands, die angeblich «progressiv» gewesen seien, da es gegen die reaktionärste Kraft in Europa kämpfte: die russische Autokratie. Aber natürlich bestand Lenin darauf, dass die Hauptaufgabe der deutschen Arbeiter der Kampf sei gegen ihre eigenen herrschende Klasse.

Als Lenin die Idee aufstellte, dass die Niederlage der eigenen Regierung das geringere Übel sei, wandte er sich an die Kader, die fortgeschrittensten Schichten der revolutionären Sozialdemokratie, und nutzte dabei die schärfsten Formulierungen, um Schwankungen zu beseitigen und eine klare Linie zu ziehen und sich von den verwirrten Elementen abzugrenzen. Bei wichtigen Fragen bog Lenin den Stock in die entgegengesetzte Richtung seiner Gegnern, um einen Punkt hervorzuheben. Das war ein klares Beispiel dafür. Daher ist der Slogan des revolutionären Defätismus vielleicht eine der am meisten missverstandenen und falsch interpretierten Formulierungen Lenins.

Zunächst stellte Lenin klar, dass dies nicht die Durchführung von Sabotageakten oder abenteuerlichen Aktionen bedeutete:

«Das bedeutet keineswegs, dass man ‘Brücken sprengen’, erfolglose Militärstreiks inszenieren und überhaupt der Regierung helfen soll, den Revolutionären eine Niederlage beizubringen.» [12]

Zweitens wurde der Slogan zwischen 1914 und 1916 vor allem im Rahmen der Polemik gegen die Unentschlossenen und die Zentristen verwendet. Tatsächlich wurde der Slogan in keiner der Agitationen der Bolschewiki in Russland in dieser Zeit verwendet. In dem klassischen Werk «St. Petersburg Between the Revolutions» sagt Robert B. McKean:

«Eine Textanalyse von 47 Flugblättern und Aufrufen, die zwischen Januar 1915 und dem 22. Februar 1917 illegal von bolschewistischen Militanten veröffentlicht wurden, ist äusserst aufschlussreich. In keinem einzigen Flugblatt wurde der leninistische Slogan erwähnt, dass die Niederlage Russlands das geringere Übel sei».[13]

Der grösste Teil der bolschewistischen Agitation vor der Revolution konzentrierte sich darauf, die Politik der Regierung gegen die Arbeiterklasse anzugreifen und sich für einen revolutionären Kampf als einzige Möglichkeit zur Beendigung des Krieges einzusetzen, wobei die Parolen einer demokratischen Republik, der Achtstundentag, betont wurden und die Verteilung des Bodens. Das war die konkrete praktische Bedeutung der «Niederlage der eigenen Regierung» – die Fortsetzung der revolutionären Agitation gegen die Regierung, selbst während des Krieges, ungeachtet der Tatsache, dass eine solche Agitation diese Regierung in ihren Kriegsanstrengungen zwangsläufig schwächen musste.

Das zeigt sich auch im Resolutionsentwurf der linken Delegierten der Zimmerwalder Konferenz, verfasst von Karl Radek, aber gemeinsam mit Lenin vorgelegt, mit dem er in der Schweiz eng zusammenarbeitete. Die Resolution betonte die Notwendigkeit eines revolutionären Kampfes gegen die kapitalistischen Regierungen und erklärt die Notwendigkeit:

«… alle die Kämpfe, alle von unserm Minimalprogramm geforderten Reformen auszunützen, um diese Kriegskrise, wie jede soziale und politische Krise des Kapitalismus zu verschärfen, zu einer Attacke auf seine Grundlagen zu erweitern».[14]

Abschliessend werden die Worte aus Liebknechts Brief an die Konferenz zitiert: «Burgkrieg, nicht Burgfriede ist die Losung!»[15]

Die Resolution enthielt jedoch keinen Hinweis darauf, dass die Niederlage der eigenen Regierung das geringere Übel sei.

Lenin verfasste auch eine eigene Resolution für die linken Delegierten. Darin erklärte er, dass Sozialisten «die Friedensforderung, die unter den arbeitenden Massen wächst» nutzen sollten, um ihre revolutionäre Agitation zu intensivieren, und dass sie «diese Stimmung für die revolutionäre Agitation ausnutzen und dabei keine Rücksicht nehmen auf die mögliche Niederlage des «’eigenen’ Vaterlandes» sollten. An dieser Stelle sollte auch darauf hingewiesen werden, dass Lenin – der pazifistische Illusionen und sogar die Verwendung des «Friedens»-Slogans energisch zurückgewiesen hatte – in dieser Resolution ausdrücklich darauf hinwies, dass die revolutionäre Agitation auf dem Wunsch nach Frieden basieren müsse unter den Massen. Er erklärte, dass dieser Ausdruck der Ablehnung der «bürgerlichen Lüge von der Vaterlandsverteidigung und die beginnende Klärung des revolutionären Bewusstseins der Massen» sei.[16] Auch hier wird in Lenins Text nicht erwähnt, dass die Niederlage der eigenen Regierung das geringere Übel sei.

Lenin zielte auf die Opportunisten, die überall vor ihrer eigenen Regierung kapitulierten und versuchten, dem Klassenkampf ein Ende zu setzen, «sozialen Frieden» zu schaffen, um die Kriegsanstrengungen zu unterstützen. Lenin stellte die Frage daher negativ: Revolutionäre Agitation sollte nicht eingeschränkt werden durch die Tatsache, dass sie zur Schwächung und Niederlage der Regierung führen könnte. Ganz im Gegenteil.

Nach der Februarrevolution

Als im Februar 1917 in Russland die Revolution ausbrach und Lenin im April ins Land zurückkehren konnte, verwarf er den Gedanken, dass die Niederlage der eigenen Regierung das geringere Übel sei, völlig, denn er wandte sich nun an die Massen im Kontext einer Revolution. In all seinen Schriften und Reden nach der Februarrevolution können wir sehen, wie er unterschied zwischen der Stimmung einer «ehrlichen Vaterlandsverteidigung», die unter der Masse der Arbeiter und Bauern herrschte, die die Revolution durchgeführt hatten; und der reaktionären Vaterlandsverteidigung der herrschenden Klasse, die von den Sozialchauvinisten wiedergegeben wurde. Infolgedessen betonte Lenin die Notwendigkeit, das Programm der Bolschewiki geduldig zu erläutern und dabei Slogans zu verwenden, die dazu dienen, das Verständnis dieser Schichten zu erhöhen.

«Die Massen gehen an die Frage nicht theoretisch, sondern praktisch heran. Unser Fehler ist das theoretische Herangehen. […] In Anbetracht dessen, dass unter den breiten Massen die Stimmungen des Oboronzentums [Stimmung der Vaterlandsverteidigung] unzweifelhaft vorhanden sind, dass diese Massen den Krieg nur als Notwendigkeit, nicht aber weil sie Eroberungen wollen, gelten lassen, muss man ihnen besonders gründlich, beharrlich, geduldig auseinandersetzen, dass mit einem Frieden, der kein Gewaltfrieden ist, der Krieg nicht beendet werden kann ohne den Sturz des Kapitals. […] Die Soldaten fordern eine konkrete Antwort – wie den Krieg beenden? […] Wir müssen uns nur auf das Klassenbewusstsein der Massen stützen. […] Wenn die Massen erklären, dass sie keine Eroberungen wollen – glaube ich ihnen. Wenn Gutschkow und Lwow sagen, dass sie keine Eroberungen wollen – so sind sie Betrüger. Wenn ein Arbeiter sagt, dass er die Landesverteidigung will – so spricht aus ihm der Instinkt des unterdrückten Menschen.» [17]

Hier können wir Lenins konsequente revolutionäre Methode erkennen. Die Schlussfolgerung, die er daraus zog, bestand nicht darin, der Vaterlandsverteidigung zu verfallen, sondern darin, zu erklären, dass nur dann eine wirkliche Position der Vaterlandsverteidigung eingenommen werden kann, wenn die Arbeiter die Macht übernehmen.

Tatsächlich waren die Bolschewiki zwischen Februar und Oktober 1917 mehrmals bemüht, sich gegen die verleumderischen Behauptungen der Provisorischen Regierung zu verteidigen, sie seien für die Desorganisation der Armee oder für einen Separatfrieden mit Deutschland.

«Es ist unmöglich, diesen Krieg zu beenden vermittels der Weigerung der Soldaten nur einer Seite, den Krieg fortzusetzen, vermittels der einfachen Einstellung der Kriegshandlungen durch eine einzelne kriegführende Seite.

Die Konferenz protestiert erneut mit allem Nachdruck gegen die niederträchtige Verleumdung, die die Kapitalisten über unsere Partei verbreiten, gegen die Behauptung, wir sympathisierten mit einem Separatfrieden (Sonderfrieden) mit Deutschland. Wir halten die deutschen Kapitalisten für ebensolche Räuber wie die russischen, englischen, französischen und übrigen Kapitalisten, den Kaiser Wilhelm für einen ebensolchen gekrönten Räuber wie Nikolaus II., wie die Monarchen Englands, Italiens, Rumäniens und alle anderen.»[18]

Im Juni 1917 reproduzierte Lenin ein Flugblatt, das von bolschewistischen Agitatoren in der Armee verteilt wurde:

«Hütet euch aber auch vor Provokateuren, die, getarnt als Bolschewiki, versuchen werden, euch zu Unruhen und Revolten aufzurufen, um die eigene Feigheit zu verbergen! […] Die wirklichen Bolschewiki rufen euch nicht zu Revolten, sondern zu bewusstem revolutionärem Kampf.»[19]

Tatsächlich gab es kurz vor der Oktoberrevolution eine Zeit, in der das Oberkommando der Armee und Teile der herrschenden Klasse offen auf eine militärische Niederlage Russlands hinarbeiteten, um die Revolution im Blut zu ertränken. Tatsächlich stellten sie ihre Klasseninteressen über das nationale Interesse. An diesem Punkt entwickelte Lenin seine Argumente weiter und erläuterte die Massnahmen, die notwendig wären, um den kapitalistisch-imperialistischen Krieg in einen gerechten Krieg umzuwandeln:

«Die Verteidigungsfähigkeit, die militärische Macht eines Landes mit nationalisierten Banken ist grösser als die eines Landes, in dem die Banken in Privathänden bleiben. Die militärische Macht eines Bauernlandes, in dem sich der Boden in den Händen von Bauernkomitees befindet, ist grösser als die eines Landes mit gutsherrlichem Grundbesitz.»[20]

Das grundlegende Argument ist dasselbe: Die Arbeiter müssen die Macht übernehmen. Aber die Art und Weise, wie das Argument präsentiert wird, ist unterschiedlich, wenn man das Publikum berücksichtigt, an das sich die Bolschewiki wandten, und die konkrete Stimmung der Massen zu dieser Zeit.

Während einer Debatte auf dem Ausserordentlichen Vierten Allrussischen Sowjetkongress über die Ratifizierung des Brest-Litowsk-Friedensvertrags mit Deutschland im März 1918 erläuterte Lenin die Änderung:

«Wir waren Defätisten unter dem Zaren, aber unter Zereteli und Tschernow waren wir keine Defätisten»[21].

Das heisst, während die zaristische Autokratie an der Macht war, waren die Bolschewiki revolutionäre Defätisten, aber das hörten sie auf, als der Zarismus gestürzt und die Provisorische Regierung gegründet wurde.

Lenin selbst erklärte die Bedeutung dieser Änderung in einer Diskussion während des dritten Kongresses der Komintern im Jahr 1921:

«Am Anfang des Krieges hatten wir Bolschewiki nur eine Losung: Bürgerkrieg – und zwar unerbittlich. Wir haben jeden als Verräter gebrandmarkt, der nicht den Bürgerkrieg predigte. Aber als wir im März 1917 nach Russland zurückkamen, da trat in unsrer Haltung eine vollständige Änderung ein. Als wir nach Russland kamen und mit den Bauern und Arbeitern sprachen, sahen wir, dass sie alle für die Landesverteidigung sind. Aber selbstverständlich in ganz anderem Sinne als die Menschewisten, und wir konnten diese schlichten Arbeiter und Bauern doch nicht Schufte und Verräter schimpfen. Wir nannten das ‘gewissenhafte Landesverteidigung’. […] Unsere erste Haltung am Anfang des Krieges war richtig, da galt es, einen klaren, entschlossenen Kern zu bilden. Die spätere Haltung war auch richtig, da galt es, die Massen zu gewinnen.»[22]

Hier sehen wir das aussergewöhnliche Können Lenins. Erstens führte er einen unversöhnlichen Kampf um Prinzipien, nicht nur gegen die offenen Verräter, sondern auch gegen diejenigen, die zu Kompromissen bereit waren oder nicht bereit waren, aus dem erfolgten politischen Bruch alle notwendigen Konsequenzen zu ziehen.

Er kämpfte nicht nur gegen diejenigen zu seiner Rechten, sondern auch gegen diejenigen, die linke, genauer gesagt «ultralinke» Fehler machten. Dies war beispielsweise in seiner Kritik an der Junius-Broschüre der Fall.[23] Er lobte den Text als einen wichtigen Durchbruch, da er die Existenz eines internationalistischen und revolutionären Flügels in der deutschen Sozialdemokratie zeige, wo der Verrat den grössten Schaden angerichtet habe. Gleichzeitig bestand er jedoch darauf, auf bestimmte Mängel des Dokuments hinzuweisen, das ohne sein Wissen von Rosa Luxemburg (unter dem Pseudonym Junius) verfasst worden war, und diese einer detaillierten Kritik zu unterziehen. Einer dieser Fehler bezog sich auf die nationale Frage und die Möglichkeit nationaler Kriege in der Epoche des Imperialismus, zu der Luxemburg eine andere Position vertrat als Lenin.

Nachdem Lenin auf diese Weise durch einen unerbittlichen Kampf mit anderen Strömungen eine prinzipielle Position etabliert und die Avantgarde für eine korrekte Position gewonnen hatte, übernahm er dann, ohne seine Prinzipien auch nur ein Jota zu ändern, den zweiten Teil der Aufgabe: die Massen für sich zu gewinnen diese Position. Und das erforderte die Fähigkeit, dieselben Ideen auf eine Weise zu erklären, die die Masse der Arbeiter und Bauern verstehen konnte und die mit ihren Erfahrungen und ihrem Bewusstsein in Zusammenhang stand.

In diesem Zusammenhang muss Lenins Kritik an Trotzki in «Die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Krieg» aus dem Jahr 1915 verstanden werden.

Trotzki war zu dieser Zeit Herausgeber einer täglichen Antikriegszeitung in Paris, Nashe Slovo, und daher war seine Zielgruppe eine andere als die, die Lenin ansprach. Der Slogan «die Niederlage des eigenen Landes ist das geringere Übel» konnte in einem Papier, das darauf abzielte, breitere Schichten zu erreichen, nicht verwendet werden.

Es bestand eine allgemeine politische Übereinstimmung zwischen Lenin und Trotzki hinsichtlich des Kampfes gegen den imperialistischen Krieg, wie ihre enge Zusammenarbeit in Zimmerwald und Kiental bezeugte, doch Trotzki hegte Illusionen in die Möglichkeit, die Einheit der Partei wiederherzustellen, was Lenin entschieden ablehnte. In dieser Frage hatte Lenin recht.

Die Bolschewiki an der Macht

Eine letzte Beobachtung. Die Russische Revolution wurde bekanntlich auf der Grundlage der Losung «Frieden, Brot und Land» geführt, die nach Ansicht der Bolschewiki nur durch die Machtübernahme der Arbeiter und Bauern erreicht werden konnte, daher die Losung «Alle Macht den Sowjets». Nach der Machtübernahme nach der Oktoberrevolution war das Friedensdekret eines der ersten, das die Sowjetregierung erliess.[24] Darin erfüllten die Bolschewiki ihre Versprechen und boten allen kriegführenden Ländern einen echten demokratischen Frieden ohne Annexionen an.

Darüber hinaus lehnten die an der Macht befindlichen Bolschewiki alle Geheimverträge ab, die sie veröffentlicht hatten, was die imperialistischen Mächte in grosse Verlegenheit brachte. Dazu gehörte beispielsweise der Vertrag von London, in dem Grossbritannien, Frankreich und Russland Italien territoriale Zugeständnisse versprachen, die aus Österreich-Ungarn im Austausch für italienische Unterstützung im Krieg herausgelöst werden sollten; und die Konstantinopel- und Sykes-Picot-Abkommen zwischen Grossbritannien, Frankreich und Russland zur Teilung des Osmanischen Reiches, obwohl sie den Arabern Selbstverwaltung im Austausch für den Aufstand gegen die Türken versprochen hatten.

Lenin vertrat die Idee, dass die Sowjetmacht einen echten Verteidigungskrieg führen würde, einen revolutionären Krieg gegen Deutschland und andere imperialistische Mächte, die den neuen Arbeiterstaat bedrohten, wenn dieser Vorschlag für einen demokratischen Frieden abgelehnt würde. Das sollte nicht sein. Tatsächlich war der Zustand der Demoralisierung in der russischen Armee so gross, dass mit dem Sieg der Revolution eine starke Tendenz zur Desintegration der Armee einsetzte.

Während der Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk Anfang 1918 zwischen den von Trotzki geführten Sowjets und den Mittelmächten gelang es den Bolschewiki kaum, die Linie an der Front zu halten. Sie zögerten und hofften, dass in Deutschland eine Revolution ausbrechen würde. In Deutschland brach tatsächlich eine Revolution aus, allerdings erst im November desselben Jahres. Das deutsche Oberkommando war sich der schlimmen Lage der russischen Armee voll bewusst und erzwang einen belastenden Frieden von den Sowjets. Ab Februar 1918 musste eine völlig neue Armee geschaffen werden, die Rote Armee der Arbeiter und Bauern, deren Aufgabe es war, die Revolution und die Sowjetmacht zu verteidigen. Aber das würde den Rahmen dieses Bandes sprengen.

Lenins Schriften über den Kampf gegen den imperialistischen Krieg sind heute eine Fundgrube für Revolutionäre. Aus einer detaillierten Untersuchung der von ihm verteidigten Prinzipien – die eine Weiterentwicklung der von Marx und Engels dargelegten Prinzipien unter neuen Bedingungen darstellten – und auch aus der Art und Weise, wie er diese Prinzipien dann in seiner praktischen Agitation anwendete, die darauf abzielte, die Massen zu gewinnen, lässt sich viel lernen. Wir hoffen, dass diese Auswahl, auch wenn sie keineswegs erschöpfend ist, den revolutionären Kommunisten von heute bei diesem Unterfangen helfen wird.


[1] Lenin, «Sozialismus und Krieg», Lenin Werke, Band 21, S. 300, Dietz Verlag Berlin, 1960; online: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1915/krieg/index.htm.

[2] Ebenda.

[3] «Resolution über den Militarismus und die internationalen Konflikte», online: https://web.archive.org/web/20210428025530/https:/sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/lenin/1907/stuttgarter-sozialistenkongress-resolution-ueber-den-militarismus-und-die-internationalen-konflikte

[4] Lenin, «Der Sozialistenkongress zu Stuttgart», Lenin Werke Band 13, S. 72, Dietz Verlag Berlin, 1959. Der Begriff «Sozialdemokratie» bedeutete damals «revolutionär sozialistisch». Alle revolutionären Marxisten nannten sich vor 1914 Sozialdemokraten. Erst 1919, mit der Gründung der Kommunistischen Dritten Internationale, begannen sie, sich Kommunisten zu nennen.

[5] Ebd., Hervorhebung hinzugefügt.

[6] Lenin, «Imperialismus, die höchste Stufe des Kapitalismus», in Lenin Werke Band 22, Dietz Verlag Berlin, 1972; hier im Shop bestellen: https://shop.derfunke.ch/de/der-imperialismus-als-hochstes-stadium-des-kapitalismus.html.

[7] Lenin, «Sozialismus und Krieg», Lenin Werke Band 21, Dietz Verlag Berlin, 1960, S. 296ff; hier online: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1915/krieg/index.htm.

[8] Siehe Lenin, «Das Militärprogramm der Proletarischen Revolution», Lenin Werke Band 23, Dietz Verlag Berlin 1975, S. 72ff; hier online: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1916/10/militaer.htm. Und Lenin, «Über die Junius-Broschüre», Lenin Werke Band 22, Dietz Verlag Berlin, 1971, S. 310ff; hier online: http://www.mlwerke.de/le/le22/le22_310.htm.

[9] Siehe «Die Position serbischer Sozialisten während des Ersten Weltkriegs», In Defence of Marxism, 2023, online verfügbar auf englisch unter marxist.com/the-position-of-serbian-socialists-during-wwi.htm.

[10] Siehe «Zwei Erklärungen der Zimmerwalder Linken»; hier online auf Englisch: https://www.marxists.org/history/international/social-democracy/zimmerwald/two-declarations.htm.

[11] Lenin, «Der Krieg und die russische Sozialdemokratie», in Lenin Werke Band 21, Dietz Verlag Berlin, 1960, S. 19.

[12] Lenin, «Über die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Krieg», Lenin Werke Band 21, Dietz Verlag Berlin, 1960, S. 273-274.

[13] Robert B. McKean, «St. Petersburg Between the Revolutions», Yale, 1990, S. 361, eigene Übersetzung

[14] «Zimmerwalder Linke: Vorschlag der Resolution und des Manifestes», nach: Horst Lademacher (Hg.): »Die Zimmerwalder Bewegung. I. Protokolle”. Den Haag – Paris 1967, S. 117-126, Hervorhebung im Original; online: https://web.archive.org/web/20210428023806/https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/komintern-1/vorgeschichte/zimmerwalder-linke-vorschlag-der-resolution-und-des-manifestes.

[15] Ebd., Hervorhebung im Original.

[16] Alle Zitate dieses Absatzes in Lenin, «Resolutionsentwurf der Zimmerwalder Linken” in Lenin Werke Band 21, Dietz Verlag Berlin, 1960, S. 350.

[17] Lenin, «Rede in der Versammlung der bolschewistischen Mitglieder der Allrussischen Konferenz der Arbeiter- und Soldatendeputiertenräte», https://web.archive.org/web/20210428035323/https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/lenin/lenin-1917/wladimir-i-lenin-rede-in-der-versammlung-der-bolschewistischen-mitglieder-der-allrussischen-konferenz-der-a-s-raete#sdfootnote1sym.

[18] Lenin, «Resolution über den Krieg», Lenin Werke Band 24, S. 264, Dietz Verlag Berlin, 1959.

[19] Lenin, «Der Bolschewismus und Zersetzung» der Armee” in Lenin Werke Band 24, S. 576 – 577, Dietz Verlag Berlin, 1959.

[20] Lenin, «Der Kampf gegen die Zerrüttung und der Krieg», Lenin Werke, Band 25, S. 372, Dietz Verlag Berlin, 1974.

[21] Lenin, «Schlusswort zum Referat über die Ratifizierung des Friedensvertrags», Lenin Werke Band 27, S. 181-182, Dietz Verlag Berlin, 1960. Zereteli und Tschernow waren menschewistische und sozialrevolutionäre Minister in Kerenskis provisorischer Regierung.

[22] Lenin, «Reden auf der Beratung der Mitglieder der deutschen, polnischen, tschechoslowakischen, ungarischen und italienischen Delegation, 11. Juli», Lenin Werke Band 42, S. 333 , Dietz Verlag Berlin, 1971

[23] Lenin, «Über die Junius-Broschüre», Lenin Werke Band 22, S. 310-325, Dietz Verlag Berlin, 1971.

[24] Lenin, «Dekret über den Frieden», Lenin Werke Band 26, S. 239-243, Dietz Verlag Berlin, 1972.