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In erster Linie unterstrich die ganze Debatte ein weiteres Mal, dass AusländerInnen (ImmigrantInnen) die Schuld für Probleme auf dem Arbeitsmarkt tragen würden. Arbeitslosigkeit und Lohndruck sollen durch das Gesetz gehemmt werden. Das kann gar nicht funktionieren, denn „die AusländerInnen“ sind gar nicht schuld.
Welches Problem?
Der Ausbruch der Krise fällt in der Schweiz zusammen mit der vollen Implementierung der Personenfreizügigkeit und ihrer Ausweitung auf Rumänien und Bulgarien. Durch die Krise des Kapitalismus, die seit 2008 anhält, hat sich das durchschnittliche Wirtschaftswachstum pro Kopf in den sechs Jahren (seit 2009) halbiert. Dies führte auch in der Schweiz bei einem Grossteil der Bevölkerung zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen. Dazu kommt, dass die Schweizer KapitalistInnen die Personenfreizügigkeit bewusst brauchen, um in einer Situation der verschärften internationalen Konkurrenz die Lohnkosten in der Schweiz zu senken. Wie in der Tabelle unschwer zu erkennen ist, verdienen ArbeiterInnen ohne Schweizer Pass substanziell weniger.
Lohnerhöhungen sind mager und werden durch erhöhte Abgaben, Mieten und Krankenkassenprämien vollständig weggefressen (siehe Verteilungsbericht des SGB). Verantwortlich dafür ist in erster Linie die Krise des Kapitalismus. Lohndruck und grössere Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt sind einerseits Folgen der Krise und andererseits Teil der Strategie der Kapitalisten, die Konsequenzen der Krise auf den Buckel der Lohnabhängigen abzuschieben.
Es ist illusorisch zu glauben, dass die SVP irgendein Interesse daran hat, die Bedingungen der Schweizer Lohnabhängigen nachhaltig zu verbessern. Die UnternehmerInnen, welche die SVP vertritt, z.B. in der Baubranche, profitieren von den tieferen Löhnen. Deshalb wurde in die Umsetzungsvorlage auch eine Ausnahme eingefügt, die Saisonniers ausdrücklich ausschliesst. Das politische Ziel aller bürgerlichen Parteien ist es, die Verantwortlichkeit für diese Situation weg von den Unternehmern und hin zu einem Teil der Lohnabhängigen zu schieben, nämlich zu den migrierten Angestellten. Diese werden gleichzeitig durch die KapitalistInnen und den bürgerlichen Staat bewusst diskriminiert. Ziel ist, Opfer als Täter hinzustellen und die Klasse der Lohnabhängigen ideologisch zu spalten. Dies ist besonders geschickt, weil alle Lohnabhängigen ein gemeinsames Interesse haben, geeint für höhere Löhne aller Angestellten zu kämpfen.
Die Vertreter der traditionellen Arbeiterorganisationen, wie der Gewerkschaften und der sozialdemokratischen Partei, tragen ein Stück der Verantwortung dafür, dass es die SVP bis heute erfolgreich schafft, einen Teil der Lohnabhängigen gegen einen anderen Teil auszuspielen. Da die Schweiz historisch ein Immigrationsland ist, wurde es zu einer Tradition der hiesigen Bourgeoisie, die Arbeitslosigkeit durch die Limitierung der Immigration zu regulieren. Das galt für die 70er Jahre, als während der Wirtschaftskrise über 200’000 Saisonniers des Landes verwiesen wurden. In den 90er Jahren wurde das Saisonnierstatut abgeschafft, doch die Kategorie der Kurzaufenthalter und Entsendeten der Personenfreizügigkeit hat diese Kategorie de facto wieder eingeführt. Diese Praxis wurde von den Gewerkschaften im besten Fall geduldet, im schlimmsten unterstützt. Auch deshalb müssen wir diese Episode der MEI genau anschauen, um zu sehen, was anders hätte gemacht werden können.
Welches Spiel spielt die SVP?
Der Machtaufstieg der SVP verläuft parallel zu den oben erklärten Verhältnissen. Kurz vor der Abstimmung im Februar 2014 schrieben wir: „In der Schweiz gaukelt derweil der Bürgerblock, trotz winterlichem Grau, den Lohnabhängigen noch immer ihre Schönwetterprognose vor. Eine Schicht der Bourgeoisie will alles in bester Ordnung wissen. Für eine andere Schicht, welche durchaus Probleme erkennt – eine Aussage, welche unter der hiesigen Bourgeoisie schon beinahe als Landesverrat durchzugehen vermag – sind die Ausländer Schuld, wie uns dies die SVP in ihrem Diskurs um die Initiative „Gegen Masseneinwanderung“ wieder mal deutlich machen will.“ (Ausgabe 31) Doch die Geister, die ich rief, werd ich nicht mehr los! Die Vorlage der MEI war als Propagandamittel gedacht. Mit knapp 20’000 Stimmen Vorsprung wurde sie hauchdünn angenommen. Niemand – nicht einmal die SVP-Strategen selber – rechneten mit diesem Resultat. Damit
hatte die Schweiz ihren Brexit schon 2014! Und die Reaktion der Schweizer Bourgeoisie war absolute Sprachlosigkeit.
Die Parallelen zum Brexit springen ins Auge. Laut der VOX-Wählerbefragung haben „vier Fünftel der Personen, die dem Bundesrat misstrauen, ein Ja eingelegt“, was den Anti-Establishment-Charakter aufzeigt. Das Resultat sei ebenfalls „Ausdruck eines allgemeineren Zwiespalts hinsichtlich der (subjektiv wahrgenommenen) Vor- und Nachteile der Globalisierung“ gewesen (gfs.bern).
Die Umsetzung der MEI
Die verschiedenen Probleme und die Einzelheiten der gesetzlichen Umsetzung haben wir an anderer Stelle genauer analysiert. Fest steht, dass die Forderung der Initiative nicht umgesetzt wurde. Da es sich um eine höchst demagogische und xenophobe Initiative handelt, betrauern wir dies nicht lange.
Dass aber der Impuls eines „Inländervorrangs“ vom Chefökonom des Gewerkschaftsbundes kam, hinterlässt einen fahlen Nachgeschmack. Er schlug als erstes in der NZZ vor, inländische Arbeitslose positiv zu diskriminieren. Dazu kommt, dass nun die SP die volle Verantwortung für die parlamentarische Bluff-Umsetzung übernommen hat. Noch dazu sind es „linke“ Exponenten wie Cédric Wermuth, die sich auf der Frontseite von „20 Minuten“ als Bilateralen-Retter darzustellen versuchen. Damit sind die werten Parteigenossen auch noch ins letzte Fettnäpfchen getreten.
Dies spielt den demagogischen Manövern der SVP nach ihrem „Erfolg“ in die Hände. Die SVP war zwar erfreut über den Abstimmungssieg, ihr Ziel war es aber nie, die Bilateralen Abkommen gänzlich aufzukünden. Da die EU nicht bereit war zu verhandeln, blieb dem Parlament nichts Anderes übrig, als die Initiative nicht umzusetzen. Die SVP kann dies natürlich ausnützen und als weiteren Verrat am „Volkswillen“ hinstellen. Dass die SP nun die Verantwortung für den Bluff übernimmt, kommt für die SVP wie gerufen. Trotzdem lanciert sie kein Referendum gegen die Umsetzungsvorlage. Albert Rösti überzeugte an der Delegiertenversammlung seine Truppen mit einer Reaktion, man wolle nun sechs Monate zuwarten, denn „Die Erfahrung mit der Masseneinwanderung habe schliesslich gezeigt, dass der Volkswille von Parlament und Bundesrat nicht respektiert werde“ (NZZ). Die SVP ist trotz allem Zeter und Mordio mit der Umsetzung nicht unzufrieden. Die lautstarken Klagen nach „Rechtssicherheit“ der Kapitalisten – die sie eigentlich vertreten – waren auch für sie ein Problem.
Und die Sozialdemokratie?
Wie hätte sich die Sozialdemokratie in diesem Labyrinth verhalten sollen? Erstens hätte erklärt werden müssen dass die Diskriminierung von „ausländischen“ ArbeiterInnen nichts bringt. Diese sind nämlich nicht Täter, sondern Opfer. Dazu schwächt ihre Diskriminierung den Kampf für Verbesserungen der gesamten ArbeiterInnenklasse, weil ihre prekärere Situation genutzt wird, die Bedingungen der ganzen ArbeiterInnenschaft unter Druck zu setzen. Zweitens hätte aufgezeigt werden müssen, wie man gegen Lohndruck und Arbeitslosigkeit kämpft, nämlich mit einem vereinten Kampf gegen die KapitalistInnen. Und drittens darf der juristische Bluff des Parlamentes, der die KapitalistInnen wieder einmal aus ihrem eigenen braunen? Sumpf befreit, nicht als progressive Lösung verkauft werden! Im Gegenteil, man hätte maximalen Druck auf die SVP aufbauen sollen, das Referendum zu ergreifen oder für immer zu schweigen. Nichts dergleichen wurde berücksichtigt.
Roger Nordmann (Nationalrats-Fraktionspräsident der SP) braucht sogar das Modell, welches die rechts-aussen Partei MCG in Genf eingeführt hat, als sein Vorbild. Dort müssen offene Stellen im öffentlichen Dienst 10 Tage lang exklusiv dem Arbeitsamt vorgelegt werden, bevor sie weiter ausgeschrieben werden dürfen. Nordmann zitiert die Zahlen des MCG Kantonsrats Pogia, der erklärt, dass nun 60-70 der Stellen via Schweizer Arbeitsämter vergeben werden. Da es keinen Vergleichswert gibt, ist es natürlich nicht messbar, ob das überhaupt etwas verändert hat. Zuerst negieren die Vertreter der SP das Problem des Lohndruckes und dem Druck des Arbeitsmarktes – und dann schlagen sie eine Lösung vor, die von Rechtsaussen entwickelt wurde.
Was gibt es für Alternativen?
Konkurrenz zwischen Lohnabhängigen und dadurch entstehender Lohndruck gehören zum Kapitalismus so wie der immer ungerechter verteilte Reichtum. Deshalb spürten die ArbeiterInnen der sich entwickelnden Industrialisierung einen Drang zur Selbstorganisation. Durch Gewerkschaften kann das gegenseitige Ausspielen der Lohnabhängigen gemindert werden. Dazu muss die Gewerkschaft aber ALLE Lohnabhängigen vertreten. Am Beispiel der Schweiz heisst das, dass ungeachtet von Pass, genauem Wohnort oder Aufenthaltsstatus die Interessen der gesamten ArbeiterInnenschaft vertreten werden müssten.
Dass die Personenfreizügigkeit erhöhte Konkurrenz bringen würde, war allen klar. Deshalb wurden die Flankierenden Massnahmen (FlaM) eingeführt. Die FlaM sollten die Entwicklung des Lohnniveaus überwachen und bei erwiesenem Lohndruck Gesamtarbeitsverträge geltend machen oder eine Art Mindestlöhne erlassen. Die Arbeitgeber haben dabei aber faktisch ein Vetorecht. Doch erstens waren diese Gesetze völlig ungenügend und zweitens hat der Grossteil der Gewerkschaften gar nie gelernt, diese anzuwenden, geschweige denn, sie zum Aufbau der Verankerung in den Betrieben zu nutzen.
Solche staatlichen Instrumente heben den Lohndruck niemals auf. Doch sie können als Instrumente genutzt werden, um aufzuzeigen, wie die ArbeitgeberInnen bewusst die Löhne kürzen. So hätten gemeinsame gewerkschaftliche Kämpfe geführt werden können, in denen die Arbeitenden zusammen zeigen, dass Errungenschaften nur kämpfend verteidigt oder verbessert werden.
Die Projekte der Unia Genf und Tessin für verbesserte staatliche Lohnkontrollen gehen in diese Richtung. In Genf kontrollieren Gewerkschaftsdelegierte Arbeits- und Lohnbedingungen und machen Gesetzesbrüche öffentlich (Siehe Interview mit Alessandro Pelizzari). Solche Projekte müssen unterstützt werden, da sie den Angestellten Vertrauen geben, die eigenen Rechte einzufordern und dadurch Vertrauen in die eigene Kraft schaffen.
Weder Staat noch Parlament werden diese Probleme für uns lösen. Das Umsetzungsgesetz der MEI wird schlicht nichts verändern – ausser, dass erneut klar wird, dass man Lohndruck mit der Diskriminierung von AusländerInnen bekämpft. Unsere Aufgabe ist es nicht nur zu zeigen, dass das völliger Humbug ist, sondern dass solche Übel nur gemeinsam und im Kampf gegen das ganze herrschende politische System überwunden werden können.
Caspar Oertli
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