Wer die Gesellschaft verändern will, braucht klare Perspektiven. Wir veröffentlichen hier in den nächsten Tagen die «Perspektiven 2019». Der Funke erarbeitet jedes Jahr eine allgemeine Einschätzung der wirtschaftlichen und politischen Konjunktur in der Schweiz.
Hier geht es weiter zum Teil 2.
Um das geht's im ersten Teil:
Nach der Weltwirtschaftskrise 2008 befinden wir uns weiterhin in einer Phase der sozialen, ökonomischen und politischen Krise. Durch Protektionismus versuchen die KapitalistInnen in den einzelnen Ländern, die Folgen der Krise auf das Ausland abzuwälzen; die Leidtragenden davon sind die ArbeiterInnen weltweit. Die Politik der Banken ist unberechenbar und risikoreich. Trotz einer schwachen Erholung der Wirtschaft und einem leichten Aufschwung kann es deshalb sowohl in der Schweiz als auch weltweit jederzeit zu einem erneuten Ausbruch einer Krise kommen. In diesem Fall haben die Staaten international kaum mehr Mittel, die Banken zu retten oder die Wirkung dieser Krise abzuschwächen. Die Schweiz ist Teil des globalen Kapitalismus, weshalb man die Perspektiven der Schweizer Wirtschaft nur im Zusammenhang mit den Entwicklungen im Ausland betrachten kann.
Wir leben in einer Periode der scharfen und abrupten Veränderungen. Der Lauf der Dinge hat sich beschleunigt und innert relativ kurzen Perioden können weltweit wesentliche Verschiebungen im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen stattfinden. Die Welt ist eine ganz andere, nicht nur verglichen mit der von vor zehn Jahren, sondern auch bereits verglichen mit jener von Anfang 2018. Auch wenn die Veränderungen in der Schweiz sich nicht so dramatisch wie in einigen unserer Nachbarländer vollziehen, so spielen sich auch hier bedeutende Prozesse ab. Die ungleiche Entwicklung des Kapitalismus und der Klassenkämpfe auf Weltebene bedeuten nicht, dass diese voneinander losgekoppelt sind – im Gegenteil.
Die Rhythmen des Klassenkampfes zu antizipieren ist schon unter „normalen“ Bedingungen keine einfache Aufgabe. Nun befinden wir uns in einer neuen Normalität. Die mit dem pulsierenden Charakter des Klassenkampfes einhergehende chronische Instabilität der herrschenden Verhältnisse, so begrüssenswert sie für revolutionäre Marxisten auch sind, macht das Erarbeiten von Perspektiven für den Klassenkampf zu einer schwierigen Aufgabe. Dies zwingt uns umso mehr, bei der Erarbeitung einer «Perspektive» die aktuelle Situation zu überprüfen, Veränderungen einzuordnen und die politische Grosswetterlage einzuschätzen. Marxisten verwenden für ihre politische Arbeit wissenschaftliche Methoden. Nach diesen ist auch diese Perspektive verfasst. Sie soll die wahrscheinlichste Entwicklung des Schweizer Kapitalismus aufzeigen und die wesentlichen Klassenkämpfe behandeln. Dies dient als Grundlage, uns für die kommenden Klassenkämpfe in der Schweiz vorzubereiten. Alle Indikatoren deuten auf eine neue Sturmphase hin und es ist aktuell nicht eine Frage ob, sondern nur wann es zum nächsten akuten Krisenausbruch kommt.
Darauf stützen wir uns bei unseren täglichen Bemühungen, in der Schweiz den «subjektiven Faktor», eine revolutionäre Organisation, aufzubauen. Wir nehmen aktiv an den Kämpfen der Jugend und der Arbeiterschaft teil, zeigen in ihnen die absoluten Grenzen des im Kapitalismus Möglichen und die Notwendigkeit der sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft auf. Um eine Brücke zwischen dem aktuellen Bewusstseinsstand der ArbeiterInnenklasse und unserem Programm des Kampfes für den Sozialismus zu schlagen, brauchen wir eine Einschätzung der ökonomischen und politischen Lage sowie des sich daraus ergebenden aktuellen Stadiums des Klassenkampfs. Eine Perspektive haben bedeutet, eine Einschätzung der bestehenden Kämpfe, der Organisationen der Arbeiterbewegung und der nächsten Schritte vorzunehmen, die wir den Lohnabhängigen und der Jugend aufzeigen müssen. Die Grundlage dafür erarbeiten wir in diesem Dokument, nicht als fertige Anleitung, sondern als bewusste Einschätzung, die wir kontinuierlich dem wirklichen Verlauf des Klassenkampfes anpassen.
Die tickenden Zeitbomben unserer Zeit
Mehr als ein Jahrzehnt ist seit dem Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers in den USA vergangen, der den Ausbruch der weltweiten Wirtschaftskrise darstellte und eine neue Epoche eröffnete. Vor dem Hintergrund einer weltweiten Überproduktionskrise drückt sich die organische Krise des Kapitalismus in allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen aus. Die aktuelle Periode zeichnet sich durch unbefristetes tiefes Wachstum aus. Der Kapitalismus ist weltweit nicht mehr in der Lage, die Produktivkräfte zu entwickeln, so wie er es in der Vergangenheit noch tun konnte. Aber die ArbeiterInnenklasse ist momentan weder politisch noch organisatorisch in der Lage, ihn zu stürzen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass es gar kein Wachstum mehr gibt. Zyklische Wachstumsperioden bestehen weiter, doch sind sie schwach, ihre Basis ist fragil, und die Profitsteigerungen finden grösstenteils direkt auf Kosten der Lohnabhängigen statt. Die materielle Realität und das Bewusstsein der Lohnabhängigen werden also weiterhin von der Krise bestimmt. Die heutigen zyklischen Wachstumsperioden spielen sich im Rahmen einer neuen Periode ab, deren wichtigste Eigenschaft die weltweit verstärkte Konkurrenz auf praktisch allen Märkten ist. Ursache dafür ist die mal latente, mal akute Überproduktion. Sie zwingt die Kapitalisten, ihre Waren auf einem immer härter umkämpften Markt abzusetzen, um ihre Profite noch realisieren zu können. Von den Widersprüchen, die während der Krise 2008 an die Oberfläche getreten sind, ist kein einziger überwunden.
Die Mittel, welche die Bourgeoisie zur Bekämpfung der Krise eingesetzt hat, zeigen immer weniger Wirkung. Bei einem erneuten Krisenausbruch stehen den Bürgerlichen diese Werkzeuge nicht mehr zur Verfügung. Noch schlimmer: Die vorübergehend hinausgeschobenen Probleme werden noch viel stärker an die Oberfläche treten. Nennen wir hier die brennendsten, weil sie alle einen direkten Einfluss die Situation in der Schweiz haben:
Die Zinsen wurden weltweit von den Zentralbanken gesenkt, um Investitionen anzukurbeln. Diese Politik hat grösstenteils versagt, blieben doch die Investitionen in den entwickelten kapitalistischen Ländern historisch niedrig. Sie beruhigte jedoch das Finanzkapital, stabilisierte den Welthandel und führte zu riesigen, fiktiven Vermögenszuwachsen. Diese Politik kann nicht ewig andauern. Damit Zinssenkungen bei einem nächsten Einbruch wieder als Anti-Krisenmittel eingesetzt werden können, müssten die Zinsen dringend erhöht werden. Die US FED, die wichtigste Zentralbank, tut dies auch, und zwar so behutsam wie möglich. Doch bereits die minimen Erhöhungen führen zu Schockwellen – speziell in den sogenannten «aufstrebenden Märkten» (z. B. Türkei und Argentinien). Ebenso erhöhen diese Schritte das Risiko für Bankenpleiten, Bankrotte der sogenannten «Zombiefirmen»[1] und das Platzen der weltweiten Börsen- und Immobilienblasen. Dies erhöht das Risiko einer abrupten Umkehrung des weltweit fragilen konjunkturellen Aufschwungs.
Die tiefen Zinsen führten zu einer immer weiteren Verschuldung – was in Kauf genommen wurde. Anfang 2018 hat die weltweite Gesamtverschuldung (privat und staatlich) einen neuen Höchstwert von 247 Billionen US$ erreicht. Das Entspricht 318% des weltweiten BIP. Der Schuldenstand ist heute höher als vor dem Krisenausbruch von 2008. Auch die Banken haben einen neuen Rekordwert an Verschuldung: 61 Billionen $ (im Verhältnis zum BIP aber etwas weniger als 2009). In einem fragilen Umfeld mit zu erwartenden Zinserhöhungen könnte dieser Schuldenberg – wie bereits 2008 – rasch untragbar werden. Über die Schweizer Banken könnte dies die gesamte hiesige Wirtschaft bedrohen.
China wird als Zugpferd der weltweiten Konjunktur gesehen, umsomehr nach 2008. 2009 lancierte die chinesische Regierung das weltweit grösste Konjunkturpaket. Es trug viel dazu bei, dass die Weltwirtschaft nicht noch tiefer absackte. Trotzdem kühlt sich das Wachstum der chinesischen Wirtschaft kontinuierlich ab. Jedes Jahr wächst sie weniger. Im dritten Quartal 2018 war das Wachstum so tief wie davor nur 2009, während der Hochphase der Krise und vor den chinesischen Konjunkturpaketen. Die Kehrseite dieses enormen staatlichen Eingriffes in den Markt ist die enorme Verschuldung. Die Überproduktion wanderte von einem Sektor in den nächsten und drückt sich heute in der Stahlproduktion, Immobilienblasen und anderen Bereichen aus. Wer sich dem kapitalistischen Markt öffnet – was die chinesischen Machthaber bewusst getan haben – muss auch dessen Wertgesetz und Krisenhaftigkeit akzeptieren.
Protektionistische Massnahmen sind in Zeiten der Krise beliebte Mittel verschiedener nationaler Bourgeoisien, um ihre Profite auf Kosten der anderen Länder schützen. Dabei sollen negative Folgen wie die Arbeitslosigkeit «exportiert», also aufs Ausland abgewälzt werden. Seit 2012 haben sich die von der WTO registrierten protektionistischen Massnahmen verdreifacht. Trumps beginnender Handelskrieg mit China ist eine massive Verschärfung dieser Tendenz. Handelskriege, d. h. die Eskalation gegenseitiger protektionistischer Massnahmen, sind gefährlich, weil sie – wie nach der Krise von 1929 geschehen – eine Krise in eine längerfristige Rezession, eine Depression, verwandeln können.
Es zeigt sich erneut: Die Widersprüche des Kapitalismus können innerhalb des Kapitalismus nicht behoben, sondern nur zeitweilig überwunden werden. Diese Beobachtung machte Karl Marx bereits im Manifest: «Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.» Die Möglichkeit zur Eroberung neuer Märkte ist beschränkt, der aufkommende Protektionismus ist selber Ausdruck davon. Die heutige Zuspitzung der Widersprüche in zahlreichen Bereichen bereitet über kurz oder lang einen erneuten und tieferen Krisenausbruch vor. Aktuell mehren sich die Anzeichen, dass dies schon sehr bald geschehen wird. Da die traditionellen kapitalistischen Instrumente zur Begrenzung der Krise ausgeschöpft sind, stehen sie bei einem erneuten Ausbruch nicht mehr zur Verfügung. Ein solcher wird entsprechend weitreichende Konsequenzen auf die herrschenden Verhältnisse auf allen Ebenen haben.
Die verschiedenen Phänomene der kapitalistischen Krise haben unsere Internationale (siehe Marxist.com) und wir in unserer Zeitung «der Funke» bereits früh analysiert. Dort erklären wir auch, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt, die Krise zu überwinden. Die Bourgeoisie kann ein neues Gleichgewicht erreichen, indem sie immense Produktionskapazitäten zerstört und die ArbeiterInnenklasse näher in Richtung Misere herabdrückt. Dafür muss sie eine erheblich gesteigerte Ausbeutung und tiefere Lebensbedingungen durchsetzen. Die einzige Alternative im Interesse der grossen Mehrheit ist die Überwindung des Kapitalismus, die Machtergreifung der Ausgebeuteten und die Einrichtung eines Systems, das der Bedürfnisbefriedigung der grossen Mehrheit und nicht den Profitinteressen der Minderheit dient.
Ein kleines Land glaubt sich aus der Krise exportieren zu können.
Die wichtigsten Entwicklungen der Schweizer Wirtschaft sind in der letzten Kongressperiode die gleichen geblieben. Deshalb behalten die zentralen Feststellungen unserer Perspektivendokumente von 2017 und 2018 ihre Relevanz. Der Schweizer Kapitalismus gehört nach wie vor zu den stabileren Gliedern der Weltwirtschaft. Dies erklärt sich unter anderem durch die höchst parasitäre Stellung der Schweiz Bourgeoisie auf dem Weltmarkt. Der Schweizer Imperialismus charakterisiert sich einerseits durch die zentrale Position im globalen Finanzmarkt und andererseits durch Monopole, v.a. bei hochspezialisierter Maschinerie, Metallen, Uhren und im Bereich Chemie/Pharmazie. Diese vier Sektoren machen 87% der Exporte aus. Alleine aus den Direktinvestitionen flossen 2017 86 Milliarden (12% des BIP) an Erträgen in die Kassen der Schweizer Grosskonzerne. Eine Handvoll ebendieser Konzerne haben weltweite Monopolstellungen: ABB ist bei den Industrierobotern auf Platz 2, Nestlé in der Nahrungsmittelindustrie auf Platz 1, Novartis steht auf Platz 2 der Pharmaindustrie und die Schweizer Uhrenindustrie ist ebenfalls führend. Mehr als jeden zweiten Franken der gesamten Wertschöpfung wird über den Export von Waren und Dienstleistungen erzielt. 80% aller Exporte werden von 0.3% der Firmen erwirtschaftet, die mehr als 250 Vollzeitangestellte beschäftigen. Diese erwirtschaften zusammen 35% des BIPs und beschäftigen 30% der Lohnabhängigen. Durch diese Abhängigkeit ist der Schweizer Kapitalismus anfällig auf verschiedene Entwicklungen der globalen Krise, die wir in den vergangenen Dokumenten schon ausführlich behandelt haben. Dieses Jahr gehen wir daher nur auf die wichtigsten potentiellen Krisenherde ein.
Der Schweizer Kapitalismus ist über die Grosskonzerne, die Banken und die Versicherungen mit dem Weltmarkt aufs Engste verwoben. Während diese also von ihrer parasitären Stellung auf den Weltmärkten profitieren können, so übertragen sie auch jede Veränderung und Erschütterung im Ausland – und damit auch jede Krise – in die Schweiz. Wir haben verschiedene Formen der Anfälligkeit des Schweizer Kapitalismus auf Störungen der weltweiten Produktion und des Austausches in vergangenen Dokumenten bereits ausführlich behandelt. Die Entwicklungen auf dem Weltmarkt – allen voran der EU, den USA und in Asien – entscheiden über Stabilität und Wachstum des Schweizer Kapitalismus. Dieser schaffte es, die weltweite ungleiche Entwicklung der Konjunktur relativ erfolgreich zu nutzen, nämlich durch Verschiebungen des Fokus weg von der kriselnden EU, hin zu den US-amerikanischen und asiatischen Märkten. Dies hat jedoch seine Grenzen, und bei einem neuerlichen weltweiten Krisenausbruch gibt es für die Schweizer Exportindustrie keinen Plan B. Dieses Jahr gehen wir auf die aktuell wichtigsten potentiellen Krisenherde ein: Die sich zuspitzenden protektionistischen Tendenzen, die von den Banken ausgehenden Gefahren, die Grenzen der SNB-Politik und schlussendlich die sich verschärfenden Ausbeutung der Arbeitenden.
Protektionismuspanik
Der aufziehende Protektionismus stellt ebenfalls eine grosse Gefahr für die Schweizer Bourgeoisie dar. Bisher haben Trumps Importzölle die Schweiz nur schwach getroffen. Stahl- und Aluminiumexporte in die USA machen nur gerade 0.008% des BIP aus. Das Risiko des Handelskriegs liegt aber in seiner Eskalation, bestehend aus gegenseitigen Strafzöllen.
Wäre es zum Beispiel zwischen den USA und der EU zu gegenseitigen Strafzöllen in der Automobilindustrie gekommen, hätte dies die Schweizer Zulieferbranche unausweichlich hart getroffen. Diese macht 9 Milliarden (ca. 1.3% des BIP) aus – bereits einiges mehr als die Stahl- und Aluminiumexporte. Strafzölle zwischen grossen Wirtschaftsblöcken sind für die Schweiz speziell gefährlich. Als kleine Wirtschaftsmacht kann sie zu wenig Druck für Separatverhandlungen aufbauen und wird zwischen den sich bekriegenden Blöcken zerquetscht.
Schweizer Konzerne haben zwar oft Niederlassungen in verschiedenen Ländern und können durch die Verlagerung der Produktion zwischen den Standorten den Strafzöllen ein Stück weit ausweichen. Trotzdem betreffen die Strafzölle sie direkt. Das verursacht immer Kosten. Die Strafzölle auf Stahl und Aluminium (zusammen mit anderen Faktoren) haben bereits zu Turbulenzen in der Automobilindustrie geführt. Das spüren Schweizer Zulieferer wie die EMS Chemie oder Autoneum bereits heute.
Trumps aggressive Rhetorik ist eine Gefahr für die bislang fast grenzenlose Profitmaximierung der helvetischen Bourgeoisie. Um bei der eigenen Bevölkerung zu trumpfen, droht Trump der Pharmaindustrie, weil sie die nicht regulierten Medikamentenpreise in den USA regelmässig erhöhen. Jeder Droh-Tweet führt jeweils zu einem Fall der Pharma-Aktien an den Börsen. Um Strafzöllen vorzubeugen, pausierten alle grossen Pharmamultis (inklusive Novartis) die Preiserhöhungen oder reduzierten sie sogar. Das zeugt von der Angst, die sie vor solchen Eingriffen haben, und bremst das Profitwachstum dieser Unternehmen.
Der schwächelnde EU-Markt konnte dank der zyklischen Erholung in den USA und dem Wachstum in Asien kompensiert werden. Viele exportorientierte Firmen schöpften diese Aufschwünge vorübergehend voll aus. Die krassen Krisenmassnahmen der SNB spielten eine wichtige stabilisierende Wirkung. Krisen sind der kapitalistischen Produktionsweise inhärent, die aktuelle Epoche ist vielmehr in quasi-permanentem Krisenmodus mit entsprechend chronischer Instabilität. Ein neuer offener Ausbruch der Krise steht bereits am Horizont. Das BIP der Schweiz ging im 3. Quartal 2018 bereits um 0,2% zurück. Gerade die Exportabhängigkeit und die Konzentration werden dazu führen, dass ein erneuter Konjunktureinbruch scharf auf die Schweizer Wirtschaft – und damit auch bei der Schweizer Arbeiterschaft – durchschlagen wird.
Die Bedeutung des Rahmenabkommens
Das Gezeter um das Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU steht für die ArbeiterInnenklasse unter dem Stern der Flankierenden Massnahmen (FLAM). Das Rahmenabkommen ist ein Angriff auf die FLAM, sprich ein Angriff auf den Lohnschutz, ergo ein Instrument der Bourgeoisie, den Ausbeutungsgrad zu erhöhen. Vom ungehinderten Lohndumping profitieren sowohl Teile von Schweizer Baufirmen, die in Zusammenarbeit mit europäischen Agenturen billige Arbeitskräfte einschleusen. Für die Schweizer Bourgeoisie, besonders für die Exportindustrie, geht es zudem darum, den Zugang zum Binnenmarkt der EU zu erhalten und weiterzuentwickeln. Der Bundesrat warnt: «Ohne regelmässige Aktualisierung der bestehenden Marktzugangsabkommen entstehen Rechtsunsicherheiten und neue Marktzugangshürden, was zu einer Erosion des bestehenden Marktzugangs führen würde.»[2]
Die EU ihrerseits übt stetig steigenden Druck auf die Schweiz aus, das vorliegende Rahmenabkommen anzunehmen. Hierzu sind zwei Gründe auszumachen. Die EU muss Härte gegenüber ihren Mitgliederstaaten angesichts des Brexits beweisen. Es geht darum zu zeigen, dass ein Austritt aus der EU nur Nachteile bringt und dass kein Staat Sonderprivilegien geniessen kann. Die Schweiz bekommt diese Härte zu spüren, weil demonstriert werden soll, dass die EU gegenüber nicht-EU-Staaten am längeren Hebel sitzt und ihre Interessen durchsetzt, wiederum ohne Sonderprivilegien zu gewähren. Dieser Druck wird auch nach dem Brexit, egal wie er aussehen möge, nicht abnehmen – Die EU muss den Zusammenhalt je länger je mehr erzwingen. Entweder ist man bereit, die Spielregeln der EU vollumfänglich zu akzeptieren, oder man trägt die Konsequenzen2. Insbesondere das süddeutsche Kapital[3] übt seinerseits Druck auf die EU aus, die Schweiz dazu zu zwingen, die Hürden zum Schweizer Markt abzubauen. Insbesondere die Lohnschutzmassnahmen der Schweiz stehen hier im Vordergrund.
In der Schweiz sind die Gewerkschaften und – abgesehen vom linksliberalen Flügel – die SP gegen das vorliegende Rahmenabkommen. Dies, weil eine Aufweichung der FLAM die Löhne in der Schweiz stark unter Druck setzen würde. Die SVP ist aus propagandistischen Gründen dagegen (sie kann im Wahljahr das Thema einer drohenden Machtübernahme durch die EU ausschlachten) – mit dem Ziel, die FLAM aufzuweichen, ist sie sehr wohl einverstanden.
Die Verhandlung des Rahmenabkommens wird zu einer Verschärfung des Klassenkampfes führen. Eine Annahme wäre eine Niederlage für die ArbeiterInnenbewegung und hätte einen unmittelbaren Angriff auf die ArbeiterInnenklasse auf Ebene der Löhne zur Folge. Eine Ablehnung würde eine mittelfristige Erschwerung des Markzuganges für die Exportindustrie bedeuten. Hinzu kommt, dass eine Art Rechtsunsicherheit für die Unternehmen entstehen würde, was mit ungünstigeren Akkumulationsbedingungen gleichzusetzen ist. Die Unternehmen werden versuchen, die ArbeiterInnenklasse für die eingebüssten Profite zahlen zu lassen. Die Verteidigung der FLAM, also der Kampf gegen das Rahmenabkommen, ist schlussendlich eine Klassenfrage.
Die verzweifelte Aufholjagd der Grossbanken
Die Schweizer Banken erbringen knapp 10 % der nationalen Wirtschaftsleistung. Auch hier herrscht eine hohe Kapitalkonzentration. Die zwei Schweizer Grossbanken machen zusammen die Hälfte aller Bankbilanzen aus und kontrollieren die Hälfte der Forderungen zwischen den Banken (48 von 93 Milliarden), was dazu führt, dass alle anderen Banken von diesen zwei Grossbanken finanziell abhängig sind. Obwohl sie sich vom Nahtod im Zuge des Krisenausbruchs erholt haben, bleibt die Profitabilität der Schweizer Grossbanken weit hinter dem Höhepunkt vor der Krise zurück. Die grossen kapitalistischen Länder (USA, Deutschland) wurden durch die Krise dazu gedrängt, die Verluste ihrer Finanzplätze durch den Kapitalabfluss an die Schweizer Banken zu stoppen. Dazu zwangen sie die Schweiz, die Attraktivität ihres Finanzplatzes zu verringern. Durch den daraus resultierenden «Fall» des Bankgeheimnisses und den automatischen Informationsaustausch sind sie in ihrem Kerngeschäft, der privaten Vermögensverwaltung, direkter der internationalen Konkurrenz ausgesetzt. Das versuchten sie mit grösseren Risiken zu kompensieren. Dazu gehört der Fokus auf «aufstrebende Märkte». Diese Länder weisen extreme Vermögens- und Einkommensungleichheit auf. Diese grossen und neuen Vermögen sind interessant, die Klienten aber riskanter: Politische Skandale und Geldwäscherei werden häufiger zum Problem. Im Geschäftsbericht von 2016 erklärt die UBS, sich auf Mexiko, Brasilien, die Türkei, Russland, Israel und Saudi-Arabien zu konzentrieren. Das liest sich fast wie eine Liste der Länder mit grossen politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen.
Kapitalisten können nicht «freiwillig» auf lukrative Märkte verzichten. Kapital muss vermehrt werden, wenn nötig durch Spekulation. Durch die tiefen Margen stehen die Grossbanken zusätzlich unter Druck. Deshalb hat der Handel mit komplexen Derivaten – wozu die berüchtigten «Subprimes» gehört haben – wieder zugenommen. CS und UBS besitzen zusammen komplexe Derivate im «Wert der halben Weltwirtschaft»[4]: 47'300 Milliarden. Nach dem Zusammenbruch von 2008 hat ihr Wert erneut gefährlich zugenommen. Goldman Sachs wies 2007 – kurz vor dem Bankrott – komplexe derivate Produkte im Wert von 35’000 Milliarden in den Büchern auf. «Ihr Nominalwert entsprach 50-mal der Bilanzsumme und etwa 1500-mal dem Eigenkapital der Bank.» Vergleicht man das mit den Grossbanken heute, kommt man auf ähnliche Verhältnisse: die CS hat 2017 Derivate mit einem Nominalwert von 28’000 Milliarden (36-mal die Bilanzsumme und 687-mal das Eigenkapital). Die UBS 18’500 Milliarden (20-mal die Bilanz und 361-mal das Eigenkapital). Zusammen entspricht das 71-mal dem Schweizer BIP.
Die CS hat sich zusätzlich auf «Leveraged Loans» spezialisiert, also Kredite, welche die Übernahme von Unternehmen durch Private-Equity-Firmen finanzieren. Das risikoreiche Geschäft wächst rasant. In den USA hat sich der Markt seit 2012 auf 1'100 Milliarden $ versechsfacht. Davon kontrolliert die CS alleine 46.5 Milliarden US$. 2018 war sie der drittgrösste Player in diesem Markt. Zahlreiche Untersuchungen (unter anderem der IMF und Moody’s) warnen davor, dass diese Produkte die Finanzstabilität gefährden könnten[5]. Diese Spekulationsorgie ist risikoreich, weil beim Ausbruch der Krise das «Rating» dieser Produkte heruntergesetzt wird. Damit sinkt ihr Buchwert. Das kann schnell zu einem extremen Ungleichgewicht in den Bilanzen der Banken führen – und damit zu Bankstürmen und Zahlungsunfähigkeit. Wenn das passiert, drehen sich wie 2008 die Kreditflüsse um, alle wollen dann Bares sehen, und die Produktion und der Handel wird weltweit einer heftigen Verengung ausgesetzt.
Die heutige Periode ist gezeichnet durch die Überproduktionskrise. Die Spekulationsorgie der Banken ist ein Ausdruck dieser Überproduktionssituation. Die Märkte sind tendenziell gesättigt, profitable Investitionsmöglichkeiten sind daher rar. Auch in der Schweiz haben gewisse Unternehmen so viel Bargeldreserven angehäuft, dass sie nicht wissen, wohin damit. Gewisse Kapitalisten «investieren» diese Reserven, indem sie ihre eigenen Aktien zurückkaufen. Sie geben Milliarden für spekulative Buchungen ohne jegliche realen Werte aus. Sie frisieren ihre Bilanzstatistiken, um so den Aktienkurs künstlich zu verbessern. Nestlé setzt dazu über 20 Milliarden ein, die CS 5.9 Milliarden, der Hörgerätehersteller Sonova 1.5 Milliarden etc.
Die Politik der SNB
Die Nationalbank (SNB) ist ein zentraler Pfeiler der Krisenpolitik. Wie ihr europäisches und US Pendant griff auch die SNB während der letzten zehn Jahre zu radikalen Massnahmen. Dazu gehörte die Inszenierung der staatlichen UBS-Rettung 2008, die künstliche Wechselkurs-Untergrenze 2011 und seit der Aufhebung dieser Untergrenze 2015 die Einführung von Negativzinsen und die enorme Aufblähung ihrer Bilanz. Zweck dieser Übung war, den Schweizerfranken nach Aufgabe des fixen Wechselkurses stabil zu halten und die Konjunktur zu stützen.
In der Periode der Unsicherheit und der Erschütterungen seit 2008 wurde der Schweizer Franken noch mehr als sonst zu einem sicheren Kapitalparkplatz für Kapitalisten aus aller Welt. Durch den Zufluss an Kapital in die Schweiz ist er latent überbewertet. Die monetäre Stabilität – und damit das Überleben der Exportindustrie in der Schweiz – wurde zu einem enormen Preis erkauft. Dazu gehört erstens die Einführung der Negativzinsen. Doch die Geldmenge musste noch weiter vergrössert werden. Dies tat die SNB, indem sie Wertpapiere in ausländischen Währungen kauft. Solche Devisenkäufe tätigte sie in enormem Ausmass. Ihr Aktienbesitz wuchs während den letzten fünf Jahren von 22 Milliarden US$ auf über 82 Milliarden US$[6]. Mittlerweile besitzt die SNB mehr Aktien von Facebook als Zuckerberg selber. Ihr Portfolio «spiegelt» einmal querbeet den ganzen Aktienmarkt. Die Bilanz der Nationalbank wuchs innert zehn Jahren von 20% des BIP auf 125%.
Heute steht die SNB vor dem Problem, dass sie bei einem erneuten Konjunktureinbruch keine traditionellen währungspolitischen Werkzeuge mehr zu Verfügung hat, um zu intervenieren. Bereits heute haben sich die Zentralbanken und die SNB weltweit von jeglicher währungspolitischen Orthodoxie verabschiedet und reagieren rein empirisch auf die Krise des Kapitalismus. Die Zinsen sind bereits im Keller und die Bilanz riesig. Diese kann weiter aufgebläht werden, solange die Schweizerfranken Abnehmer finden. Das wird wohl auch getan werden. Welche Risiken dies beinhaltet, kann heute nicht vorausgesagt werden, sie reichen jedoch von schlagartigen inflationären Tendenzen über einen Vertrauensverlust in den Franken und somit bis zu einem Einsturz des CHF-Wechselkurses. Fest steht, dass die aktuelle Situation die Bourgeoisie zu Schritten zwingt, die sie bis anhin niemals getan hätte und deren Konsequenzen nicht abzuschätzen sind.
Hier geht es weiter zum Teil 2.
Fussnoten:
[1] Als Zombiefirmen werden Unternehmen bezeichnet, deren tiefe Profitmarge sie zwingt, ausstehende Kredite und Zinsen mit neuen Krediten zu decken. Dies ist nur durch die sehr tiefen Zinsen möglich. Werden diese erhöht, können sie die Zinsen für ausstehende Kredite nicht mehr decken und werden Konkurs gehen.
[2] https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Keine-neuen-Verhandlungen-EU-macht-Drohungen-konkreter/story/10859523 (17.01.2019).
[3] https://www.nzz.ch/schweiz/die-eu-hat-den-schweizer-lohnschutz-im-visier-ld.1385082 (12.05.2018).
[4] Allein die Derivate von UBS und CS haben den Wert der halben Weltwirtschaft, Swissinfo.ch, 15.09.2018.
[5] Leveraged Loans: Die Credit Suisse ist schlauer als alle Notenbanker, finnews.ch, 4.10.2018.
[6] Wie die Nationalbank ihre Unabhängigkeit verlor, Sonntagszeitung, 6.8.2018.
Nordamerika — von Alan Woods, marxist.com — 27. 11. 2024
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024