Am 7. März 2008 betrat Nicolas Perrin, der Direktor der SBB-Cargo Division, die Halle des SBB-Werkes Bellinzona. Auf ihn warteten die 430 ArbeiterInnen, welche eine Betriebsversammlung abhielten. Der Streikführer Gianni Frizzo stellte die einfache Frage: „Verlagern Sie den Unterhalt der Lokomotiven, ja oder nein?“ Perrin bejahte und wurde sogleich aus dem Werk gejagt. Ein beispielhafter Streik, welcher weit über das Tessin hinaus seine Spuren hinterliess, begann.
Der Streik in den Werkstätten der SBB-Cargo in Bellinzona dauerte 33 Tage. Die drohende Massentlassung, die Schliessung der Werkstätten und die Privatisierungsversuche konnten durch einen konsequent geführten Arbeitskampf verhindert werden. Doch wie kam es zu diesem Streik, mit welchen Methoden wurde er geführt und welche Lehren kann die ArbeiterInnenklasse angesichts der Weltwirtschaftskrise ziehen?
SBB-Cargo
Die SBB-Cargo, welche seit 1998 teilprivatisiert worden war, schrieb Jahr für Jahr, unter anderem wegen „Fehlern“ des Managements, Verluste. Diese „Fehler“, unter anderem das Ausbleiben von Investitionen, wurden wohl bewusst gemacht. Dies, um eine gänzliche Privatisierung des Güterverkehrs, wie die Wirtschaftsverbände damals immer stärker forderten, vorzubereiten.
Geplant war, die Werkstätten in Bellinzona Stück für Stück nach Yverdon zu verlagern, obwohl die Officina nachweislich profitabel arbeitete. Bereits im April 2007 wurden 50 Jobs in Bellinzona abgebaut. Im Gegenzug versprach die SBB den ArbeiterInnen aber, die übrigen Jobs in Bellinzona zu belassen und 30 Millionen Franken zu investieren. Im März 2008 stellte sich heraus, dass die Konzernspitze gelogen hatte. Die ArbeiterInnen fackelten nicht lange und legten ihren Betrieb still.
Der Streik
Während eines Monats befanden sich die ArbeiterInnen im Streik und hielten ihren Betrieb besetzt. Die zwei Forderungen waren von Anfang an klar: Rücknahme der vom SBB-Verwaltungsrat geplanten „Restrukturierungen“ und Garantien für den Erhalt des Industriewerkes in Bellinzona. Am 5. April wurden die „Sanierungsmassnahmen“ zurückgezogen und die Arbeitsplätze in Bellinzona vorläufig erhalten. Die ArbeiterInnen hatten gesiegt. Auch verschiedentliche weitere Angriffe konnten, unter anderem mit einer Warnstreikdrohung im Herbst 2008, abgewehrt werden.
Demokratie und ArbeiterInnenkontrolle
Sogleich nach dem Streikbeschluss durch die Betriebsversammlung wurde ein Streikkomitee gewählt. Die Betriebsversammlung stimmte über alle grundsätzlichen Entscheidungen kollektiv ab. So entstand innerhalb kürzester Zeit eine ArbeiterInnendemokratie im Betrieb. Die Betriebsversammlung wählte die erfahrensten ArbeiterInnen ins Führungsgremium. In erster Linie waren dies KollegInnen, welche sich schon jahrelang gewerkschaftlich engagiert hatten und welche bereits Ende der 90er Jahre einen Verein zu Verteidigung der Officina gegründet hatten. Nach Beendigung des Streiks wurde das Streikkomitee, welches bis heute diesen Namen trägt, weiterhin als Vertretung der ArbeiterInnen gegenüber der Betriebsleitung und der SBB aufrechterhalten. Das Streikkomitee hatte von da an auch Zugang zu sämtlichen relevanten Datensätzen des Betriebs. Diese ArbeiterInnenkontrolle stellte natürlich einen schweren Eingriff in die privatrechtlichen Beziehungen und somit in die kapitalistische Ordnung dar. Die ArbeiterInnen besassen und besitzen heute noch denselben Informationsstand über das Funktionieren des Betriebs wie die ManagerInnen. Der russische Revolutionär Leo Trotzki erklärte im Übergangsprogramm, dass der erste Schritt zur tatsächlichen Kontrolle über eine Industrie in der Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses liegt. Die KapitalistInnen begründen Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse in der Regel mit ökonomischen Sachzwängen. Lohnzurückhaltung, Entlassung, Flexibilisierung der Arbeitszeiten usw. seien unabdingbar, aufgrund nicht näher ausgeführter „Sachzwänge“. Durch das Geschäftsgeheimnis ist es den KapitalistInnen möglich, den wahren Zustand des Unternehmens bzw. der Branche zu verschleiern. Erst durch den Einblick in die Geschäftsbücher können die ArbeiterInnen den Schleier lüften. Nur so sind sie imstande, die tatsächliche wirtschaftliche Lage und das Funktionieren des kapitalistischen Systems zu erfassen. Dies wiederum ist der erste Schritt zur Umwälzung der bestehenden Verhältnisse. Die ArbeiterInnenkontrolle war also ein sehr radikaler Schritt.
Besetzung und Solidarität
Die ArbeiterInnen traten aber nicht nur einfach in den Streik, sondern besetzten sogleich die ganze Officina und stellten sicher, dass weder weitergearbeitet noch Material abtransportiert werden konnte. Sie schufen sich so nicht nur ein organisatorisches Zentrum, sondern setzten auch die „bürgerliche Rechtsordnung“ auf dem Areal der Officina ausser Kraft. Dieses Zentrum nutzten die ArbeiterInnen sogleich, um ihren Kampf in die Bevölkerung hineinzutragen. In den 33 Tagen des Kampfes kam es zu unzähligen Massendemonstrationen (mehrere davon mit weit über 10‘000 TeilnehmerInnen), Solidaritätsaktionen, Geldsammlungen etc. Die Solidarität durchdrang den ganzen Tessin. Die Betriebsbesetzung zusammen mit der riesigen Solidaritätswelle und der bedingungslosen Unterstützung durch Gewerkschaften waren wichtige Faktoren, welche zum Sieg führten. Doch ein entscheidender Faktor muss noch ausgeführt werden: Die Rolle der Führung.
Die Rolle der Führung
Gianni Frizzo erklärte rund ein Jahr nach dem erfolgreichen Streik in einem Interview: „Wichtig ist, innerhalb des Betriebes zwei oder drei Persönlichkeiten zu schaffen, zwei oder drei Bezugspunkte für die Arbeiter, die eine Legitimität und eine Glaubwürdigkeit erlangen, die stärker ist als jene der Gewerkschaftsspitzen.“ Er sprach also genau von dem, was in der Officina Bellinzona vorhanden war. Seit den 90er Jahren haben sich einige KollegInnen, unter ihnen auch Gianni, zusammen mit einigen kämpferischen GewerkschafterInnen im Komitee „Giù le mani dall`Officina“ zusammengeschlossen. Sie haben stets die aktuelle Lage des Betriebes diskutiert und versucht, die KollegInnen zu sensibilisieren. Als es dann 2008, nachdem schon in den Jahren zuvor Stellen abgebaut worden waren, zu einer Massenentlassung kommen sollte, waren sie bereit. Sie hatten sich vorbereitet und genossen in der Belegschaft einiges an Autorität, welche sie sich in den Jahren zuvor mit ihrer Arbeit und mit der konsequenten Verteidigung der Interessen der ArbeiterInnenschaft erarbeitet hatten. Diese Gruppe wurde sofort als natürliche Führung, auf Grundlage des demokratischen Organes der Betriebsversammlung, gewählt. Diese Betriebsgruppe war schliesslich der wichtigste Faktor für den erfolgreichen Kampf. Ein klassenbewusster Kern von ArbeiterInnen im Betrieb ist unerlässlich, um einen solchen Kampf zu gewinnen. Der Kampf um die Officina stellt für uns heute ein leuchtendes Beispiel dar, wie ein Streik erfolgreich sein kann.
Ein, zwei, hunderte Officina
Dieser Modellstreik war und ist für die gesamte ArbeiterInnenklasse von grosser Bedeutung. Heute müssen, mehr denn je, die Lehren daraus gezogen werden. In Anbetracht der Weltwirtschaftskrise könnten wohl die ArbeiterInnen aus Griechenland, Italien oder Spanien enorm von diesen Erfahrungen profitieren. Die embryonale Arbeitermacht von Bellinzona angewandt auf hunderte Betriebe in ganz Europa könnte eine riesige Besetzungswelle auslösen und würde, wie oben bereits angemerkt, der erste Schritt zur tatsächlichen Kontrolle über die Wirtschaft darstellen. Erste Besetzungen und Selbstverwaltungen sind bereits im Gange, wie dies zum Beispiel bei Vio.Me, einer Fabrik in Thessaloniki, Griechenland, der Fall ist. Weitere werden folgen. Nehmen wir das lebendige Beispiel des heroischen Kampfes der ArbeiterInnen der SBB Werkstätte von Bellinzona und schaffen ein, zwei, hunderte Officina.
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