Die Wahlen gingen völlig an den wichtigen Fragen vorbei. Die breite Enthaltung ist nicht Zeichen der Passivität, sondern zeugt von Reife – denn es gab keine Alternative. Die Aufgabe der Kommunisten ist es, die zunehmende Ablehnung gegenüber bürgerlichen Institutionen in einen organisierten Widerstand gegen dieses reaktionäre Parlament zu organisieren.
Der Beginn der Bombardierung Gazas fiel in die Schlussphase der eidgenössischen Wahlen. Statt mit Palästinasolidarität eine klare Trennlinie zwischen den Unterdrückern und Unterdrückten zu ziehen, wurde die Frage von allen Parteien totgeschwiegen. Zwei Tage vor Wahltermin unterzeichneten alle Parteien eine Konsenserklärung in Solidarität mit den Zionisten. Damit stellten sich alle Parteien – inklusive der gesamten Linken – geschlossen hinter den Schweizer Imperialismus. Keine Partei bietet den Lohnabhängigen eine Alternative.
Die Wahlen vom 22. Oktober fanden in der tiefsten Krise des Kapitalismus statt. Überall werden wir angegriffen: die angelaufene Welle an Massenentlassungen und Betriebe mit leeren Auftragsbüchern, die Inflation, die Krankenkassenprämien, das Gesundheitssystem, welches vor dem Kollaps steht, die Energieversorgung, die Klimakrise, die Verbreitung von Jugenddepressionen etc. Auf all das gaben die Parteien keine Antwort. Sie hatten das gleiche Programm wie immer. Und so kam es: Das Kräfteverhältnis im Parlament bleibt beim Alten, aber in der neuen Situation wird dessen Politik viel aggressiver sein.
Die Krise des gesamten Systems spitzt sich zu. Die Arbeiterklasse bezahlt. Jedes Jahr geht es uns schlechter, das Geld wird knapper und wir müssen länger arbeiten. In den letzten Jahren beschleunigt sich diese Entwicklung. Deshalb herrscht in den Köpfen der Arbeiterklasse nicht ein Status quo. Die ständigen Verschlechterungen und die Polykrise sind Hammerschläge auf das Bewusstsein.
Die Wahlen vermitteln ein Bild der Stabilität. Aber unter der Oberfläche gibt es in der Arbeiterklasse einen breiten Radikalisierungsprozess. In den turbulenten letzten Jahren haben Hunderttausende festgestellt, dass die bürgerliche Demokratie und ihre Institutionen nicht die Interessen der ganzen Gesellschaft vertreten. Sie sind für die Kapitalisten da und dienen ihren Interessen. Dem wird sich die Arbeiterklasse immer mehr bewusst. Die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zerschellen.
Die Wahlen 2023 sind komplett an diesem Bewusstseinswandel vorbeigegangen. Wenn man, wie die bürgerlichen Politologen, versucht, aus den Wahlergebnissen Schlüsse zu ziehen über die gesellschaftlichen Trends, können diese nur falsch rauskommen. Obwohl neun von zehn an Politik interessiert sind, drückt sich das nicht in den Wahlen aus. Denn mehr als die Hälfte traut den Politikern durchs Band nicht. Die wirklichen politischen Prozesse widerspiegeln sich also vor allem im zunehmenden Vertrauensverlust gegenüber Parlament und Regierung.
Die SVP und andere rechte bürgerliche Parteien haben einige Prozentpunkte gewonnen. In der Diskussion um den sogenannten Rechtsrutsch muss uns klar sein: Das Parlament ist eine bürgerliche Institution. Es war und bleibt fest in bürgerlicher Hand – seit 175 Jahren.
Drei Anmerkungen dazu: Erstens, die neue Legislatur arbeitet in einer neuen Periode. Sie hat die Aufgabe, die Krise auf den Rücken der Arbeiterklasse abzuladen. Diese muss sich auf harte Angriffe gefasst machen. Unsere Klasse muss schnell lernen zu kämpfen, denn die Angriffe werden erst aufhören, wenn wir zurückgeschlagen.
Zweitens: Die 72% Stimmen für bürgerliche Parteien entsprechen nur gut einem Fünftel der Schweizer Bevölkerung (Ausländer, Minderjährige, Nichtwähler eingerechnet). Das Kapital dominiert zwar das Parlament. Doch das reaktionäre Parlament hat einen historisch schwachen Rückhalt in der Gesellschaft.
Drittens: Die Schuld am leichten Erstarken der Rechten liegt bei der SP. Mit einem Programm gegen die Krise hätte sie eine absolute Mehrheit gewinnen und damit dieses reaktionäre Parlament verhindern können. Die soziale Basis dafür ist vorhanden: die Arbeiterklasse. Die absolute Mehrheit sind Nichtwähler. Über 53% der Stimmberechtigten enthalten sich, zum grössten Teil, weil keine Partei ihre Interessen vertritt. Sie könnte die SP mit sozialistischen Forderungen gewinnen!
Das muss sich eine sozialistische Partei zum Ziel setzen. Aber wenn man – wie die SP – weder sieht noch ausspricht, was ist, kann man auch nicht aufzeigen, wie man kämpfen kann. Folglich macht die SP trotz bester Bedingungen für antikapitalistische Politik das gleiche Resultat wie vor vier Jahren. Die Parteiführung bezeichnet das dennoch als gutes Resultat!
Ausserhalb des Bundeshauses hat das Parlament keinen Rückhalt. Die Krise lässt keinen Spielraum für Zugeständnisse im Parlament. Die Existenzbedingungen der Arbeiterklasse zwingen sie in den Kampf. Wer sagt, die Arbeiterklasse will nicht kämpfen, der lügt. Das Einzige, was es braucht: jemand der den Weg zum Kampf weist.
Die Wahlen sind kein Spiegel der Krisen geschüttelten Realität, wo die Arbeiterklasse ein Angriff nach dem anderen erlebt. Das Einzige, was die Wahlen ausdrücken, ist das Fehlen einer Partei, die ein Programm im Interesse der Arbeiterklasse fasst und den Kampf aufnimmt.
Der Absturz der Grünen widerspiegelt die Suche eines Teils der Arbeiterklasse und der Jugend nach einem politischen Instrument. 2019 mobilisierte die Klimabewegung breite Schichten. Es herrschten Illusionen in die Grünen. Doch vier Jahre Legislatur bewiesen: Eine weitere Partei, welche das Umweltproblem anzugehen versucht, ohne mit dem Kapitalismus zu brechen, macht keinen Unterschied! So schnell werden heute politische Kräfte getestet und zur Seite geschoben, wenn sie sich als unfähig erweisen.
Ein Teil dieser Bewegung hat klar erkannt: ohne Sturz des Kapitalismus sind keine Verbesserungen möglich. Der antikapitalistische Anspruch des letzten Positionspapiers der Jungen Grünen zeugt vom Vorwärtsschreiten dieses Bewusstseins. Dass der Kapitalismus gestürzt werden muss, ist nicht einfach eine «politische Haltung». Es ist eine objektive historische Notwendigkeit.
Die beständig tiefe Wahlbeteiligung drückt aus, wie angewidert die Arbeiterklasse und besonders die Jugend vom Parlamentarismus ist. Früher konnte die Enthaltung als Langeweile und Desinteresse verstanden werden, heute als bewusstes Abwenden von dieser Schwatzbude, die sich einen Dreck schert um die Arbeiterklasse. Das Abwenden von diesen Wahlen zeugt von Reife, denn es handelt sich oft um die entschiedene Ablehnung der angetretenen Parteien und ihrer Programme, die nichts am Kapitalismus ändern wollen.
Doch die Abwendung vom Parlament reicht nicht, um die Krise zu lösen. Es braucht den Kampf der Masse der Arbeiter gegen den Kapitalismus. Eine Massenorganisation, die heute bedingungslos die Interessen der Arbeiterklasse verteidigt, ist notwendig. Sie würde problemlos hunderttausende von Wählern und Unterstützern finden. Das wäre die Grundlage für den Sturz der herrschenden Klasse. Doch die SP schreckt vor dem ersten zurück und lehnt das zweite entschieden ab.
Trotzki schrieb 1938 im Übergangsprogramm, mit welchem Programm die Arbeiterklasse gewonnen werden kann. Die Aufgabe von Revolutionären ist es, ausgehend von den bestehenden Bedingungen einen Weg zum Sturz der herrschenden Klasse zu finden und im Kampf das Bewusstsein der Arbeiterklasse voranzutreiben:
«Die strategische Aufgabe der nächsten Periode – der vorrevolutionären Periode der Agitation, Propaganda und Organisation – besteht darin, den Widerspruch zwischen der Reife der objektiven Bedingungen der Revolution und der Unreife des Proletariats und seiner Vorhut (Verwirrung und Entmutigung der alten Generation, mangelnde Erfahrung der Jungen) zu überwinden. Man muss der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke muss in einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den augenblicklichen Voraussetzungen und dem heutigen Bewusstsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unabänderlich zu ein und demselben Schluss führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat.»
L. Trotzki: Das Übergangsprogramm, 1938
Es ist die Aufgabe der Kommunisten alles dafür zu tun, diese Massenkraft aufzubauen. Die Bedingungen, die dazu nötig sind, reifen rasch heran. Das Einzige, was fehlt, ist die kommunistische Organisation mit einer Verankerung in der Arbeiterklasse, die den Kampf aufnehmen und bis zum Sieg führen kann.
Während alle anderen in Identitätspolitik, Hysterie vor den Rechten und der Politik des kleineren Übels versinken, spricht die Schweizer Sektion der IMT, der Funke, klar aus, was nötig ist und macht die ersten Schritte in dieser Richtung. In dieser Vorbereitungsarbeit zu einer revolutionären Massenpartei schreiten wir rasch voran. Innert Monaten haben wir unsere Ränge verdoppelt. Wenn du den Kampf gegen die Herrschaft der Kapitalisten ernsthaft aufnehmen willst, dich konsequent auf die Seite der Unterdrückten stellst und für den Kommunismus kämpfen willst, dann bau mit uns die kommunistische Organisation der Schweiz und international auf.
Indem du dich mit anderen Kommunisten organisierst und weitere gewinnst, leistest du den grösstmöglichen Beitrag im Kampf gegen das reaktionäre Parlament und für den Sieg der Arbeiterklasse.
Arbeiterbewegung — von Martin Kohler, Bern — 10. 10. 2024
Nah-Ost — von Revolutionäre Kommunistische Internationale (RKI) — 09. 10. 2024