Die Arbeiter bei Vetropack haben eine Woche lang gestreikt. Es war ein inspirierender Kampf. Mit der Krise der Industrie wird es vermehrt zu Schliessungen und Massenentlassungen kommen. Wir müssen die Lehren ziehen: Wie kann die Arbeiterklasse antworten?
Die Glasfabrik Vetropack in St-Prex (VD) ist die Einzige, die in der Schweiz aus Altglas neue Flaschen herstellt. Doch für das Unternehmen, das in den letzten vier Jahren 249 Millionen Franken Profit gemacht und 98 Millionen Franken an Dividenden ausbezahlt hat, ist der Standort nicht rentabel. Sie schliessen die Fabrik auf Ende August und setzen die 181 Arbeiter auf die Strasse.
Leben und Familien werden zerrüttet. Altglas, das in der Schweiz recycelt wird, muss nach Italien und wieder zurückgefahren werden. Das ist komplett absurd. Doch Entscheidungen im Kapitalismus werden nicht nach dem Kriterium getroffen, was für die Menschen und ihre Umwelt gut ist, sondern für die Taschen der Kapitalisten.
Die Arbeiter der Glasfabrik waren nicht bereit, das kampflos hinzunehmen. An der Vollversammlung vom 24.5. entschieden sie, zusammen mit den Gewerkschaften Unia und Syna, in den unbefristeten Streik zu treten. Nach drei Tagen Streik und einem ersten Zugeständnis durch die Bosse, nahmen sie auf Vorschlag der Gewerkschaften die Produktion wieder auf – blockierten allerdings weiterhin die Ein- und Auslieferung. Nach sieben Tagen hoben sie den Streik auf und traten in Verhandlungen über einen besseren Sozialplan.
Wie immer in solchen Situationen, bewiesen die Arbeiter ihre Kreativität. Da der Schmelzofen nicht einfach abgestellt werden kann, produzierten sie defekte Flaschen, um den Verkauf zu verhindern und die Kapitalisten um ihren Gewinn zu bringen. Es ist die grundlegendste Lektion: Konfrontiert mit den Angriffen der Bosse, haben die Arbeiter immer einen Weg, gemeinsam zurückzuschlagen. Im Wissen, dass es breiteren Druck braucht, appellierten sie auch an die Solidarität in der Bevölkerung. Das führte zu einem Marsch mit 700 Teilnehmenden im Städtchen von Saint-Prex.
Das sind richtige Ansätze. In einem Moment, in dem die Schweizer Arbeiterklasse die grundlegendsten Lektionen aus der Schule des Klassenkampfes wieder neu lernen muss, sind solche Streiks ein Vorbild für die gesamte Klasse.
Dank dem Streik haben die Bosse einen Teil der Entlassungen um einen Monat aufgeschoben und einem Sozialplan mit höheren Abfindungen zugestimmt. Ein Teilsieg – aber mit einem sehr bitteren Nachgeschmack: Die Fabrik wird trotzdem geschlossen. 181 Arbeiter verlieren ihre Jobs.
Schauen wir in die nahe Zukunft. Der Kapitalismus steckt in seiner tiefsten Krise. Darum kommt auch die Schweizer Industrie nicht herum. In der internationalen Blockbildung ist Europa die Verliererin, und mit ihr die Schweiz. Dafür werden die Kapitalisten die Arbeiterklasse bluten lassen. Schon seit zwei Jahren häufen sich die Massenentlassungen. «Konkurswelle in der Schweiz – Das ist erst der Anfang», titelte der Tagesanzeiger im Juni.
Vor diesem Hintergrund müssen wir die Frage stellen, mit welchem Ziel man in einen Kampf gegen solche Angriffe der Kapitalisten (Schliessungen, Massenentlassungen) geht. Ist es «Keine Entlassungen!» oder ist es «Keine Entlassungen ohne Sozialplan!»? Letzteres war der Slogan der Gewerkschaften. Heisst: Die Entlassungen wurden schon im Vornherein akzeptiert.
Das reflektiert die reformistischen Ansichten der Gewerkschaftsführer. Im Kapitalismus sind die Unternehmen in privaten Händen. Die Besitzer und ihre Manager entscheiden über Investitionen und Anstellungen – und zwar nach dem Kriterium des Profits und der Konkurrenzfähigkeit auf dem kapitalistischen Markt.
Wenn du das Privateigentum als Tatsache akzeptierst, dann schlagen dir die «Marktgesetze» des Kapitalismus wie eiserne Naturgesetze entgegen, mitsamt seinen «Marktbereinigungen» in Zeiten der Krise. Gegen Schliessungen und Massenentlassungen kann man nichts machen. Bleibt nur, den harten Aufprall mit einem Sozialplan abzufedern und darauf zu «hoffen» (wörtlich in der Unia-Zeitung), dass ein neuer Kapitalist den Betrieb im letzten Moment aufkauft, «um die industriellen Arbeitsplätze am Standort zu erhalten».
Das verdammt die Arbeiter zur Ohnmacht. Genau aus diesem Grund braucht es in solchen vermeintlich «gewerkschaftlichen» Arbeitskämpfen mehr revolutionäre Kommunisten, die mit einem grösseren Blick an die Frage herangehen.
In der heutigen Periode wird das Akzeptieren der kapitalistischen «Marktgesetze» für die Arbeiterklasse bedeuten, dass ihre Existenz und ihre Familien fundamental bedroht werden. Die Arbeiterklasse muss sich für die Gegenoffensive rüsten. Unser Standpunkt muss sein: Wir Arbeiter zahlen eure Krise nicht! Keine Schliessung, keine Entlassung!
Wenn die Kapitalisten nicht mehr fähig sind, gute und sichere Jobs zu erhalten, dann können wir nicht länger tolerieren, dass sie über unser Leben bestimmen. Die Arbeiter sind nur so lange ohnmächtig, wie sie die Stellung der Kapitalisten in Betrieb und Gesellschaft als notwendig und gegeben hinnehmen. Aber wer bringt jeden Tag die ganze Wirtschaft zum Laufen? Wer hat das Know-How der Produktionsabläufe und macht die ganze Arbeit? Es sind die Arbeiter. Sie brauchen weder kapitalistische Eigentümer noch deren Management, das die Profitlogik für sie durchboxt.
Es ist an der Zeit, dass die arbeitenden Menschen, die dieses Land aufgebaut haben, die Kontrolle darüber übernehmen. Es ist an der Zeit, dass sie es planen, organisieren und nach ihren Bedürfnissen gestalten, damit alle den Reichtum geniessen können, den wir produzieren.
Nach der Bekanntgabe der Schliessung im März haben die Gewerkschaften wertvolle Zeit verstreichen lassen, weil sie sich an die Regeln der Sozialpartnerschaft hielten. Wozu? Die Kapitalisten hatten ihre Entscheidung getroffen. Sie verstehen nur die Sprache des Kampfes. Die Gewerkschaften hätten sofort die Gegenoffensive vorbereiten müssen. Sie hätten den Arbeitern offen und ehrlich aufzeigen müssen: «Es gibt einen Ausweg, er ist radikal, er wird hart, aber er ist der einzige Ausweg. Und er ist möglich!»
Eine Fabrikschliessung stellt die Arbeiter vor eine Alles-oder-Nichts-Situation. Da bleibt nur noch ein Ausweg: der permanente Besetzungsstreik. Es ist der Kampf um die Kontrolle der Fabrik. Die Arbeiter organisieren sich, um den Abtransport von Maschinen zu verhindern, um sich gegen die Räumung durch die Polizei zu schützen und schliesslich um die Produktion unter der Leitung der Arbeiter selbst weiterzuführen.
Die Arbeiterbewegung kennt zahlreiche Beispiele, wo die Arbeiter erfolgreich gegen Schliessungen gekämpft haben. Sogar in der Schweiz des 21. Jahrhunderts: Die 430 Arbeiter der SBB-Cargo in Bellinzona hatten 2008 mit einem heroischen Besetzungsstreik von 33 Tagen das Werk und alle Stellen erhalten. Und oft auch unter scheinbar noch aussichtsloseren Bedingungen. In Brasilien haben die Arbeiter von Flasko 2003, auch dank der Hilfe der Kommunisten, ihre Fabrik übernommen, die vom Boss komplett heruntergewirtschaftet wurde und hoch verschuldet war. Sie etablierten wöchentliche Vollversammlungen und wählten ihre eigene Führung, um die Administration und Produktion ohne die Bosse weiterzuführen. Unter der Arbeiterkontrolle steigerten sie nicht nur ihre Produktivität, sondern auch ihre Löhne und konnten ihre Arbeitszeit senken. Sie organisierten eine breite Bewegung in der Bevölkerung und schützten die Fabrik wiederholt vor Räumungen oder dem Verkauf.
Bei Vetropack waren die Ansätze da: Die Fabrik war besetzt, die Kontrolle über den Ofen von den Arbeitern organisiert. Sie hatten sogar einen Vorschlag erarbeitet, um ökologischer und effizienter zu produzieren. Wieso sollten sie die Kontrolle den Eigentümern zurückgeben? Wieso sollten sie die Schliessung akzeptieren?
«Eine geschlossene Fabrik ist eine besetzte Fabrik!» war der Slogan in der brasilianischen Besetzungsbewegung. Und sie fügten an: «Eine besetzte Fabrik muss verstaatlicht werden!». Denn nur dann, wenn das Unternehmen aus den privaten Händen der Kapitalisten in die Hände der Allgemeinheit übergeht, kann es aus der schändlichen Profitlogik herausgebrochen werden. Nur so können sich die Arbeiter gegen die drohende Rückkehr des Eigentümers schützen, nur so sind sie nicht mehr von den Zwängen des Marktes abhängig, nur so können grosse Investitionen getätigt werden. Die Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle wäre ein erster Schritt zur Möglichkeit einer rationalen, sozialistischen Planung nach den Bedürfnissen der Menschen.
Natürlich wird der heutige bürgerliche Staat nicht freiwillig Kapitalisten enteignen, um den Arbeitern die Kontrolle zu überlassen. Er muss durch den Kampf der Arbeiterklasse gezwungen werden. Das erfordert die Ausweitung des Kampfes.
Stell dir vor, was bei Vetropack hätte sein können: Der Betrieb wäre unbefristet besetzt und unter Kontrolle der Arbeiter. Vollversammlungen und eine gewählte Führung würden die Produktion und den Kampf zur Verteidigung der Fabrik organisieren. Sie hätten eine Erklärung verfasst, die klar aufzeigt: Der Angriff auf unsere Arbeitsplätze ist ein Angriff auf die Arbeitsplätze unserer ganzen Klasse. Die Kapitalisten setzen ihren Profit über das Menschenleben und die Umwelt. Wir müssen organisiert zurückschlagen!
Auf dieser Grundlage hätten sie einen Aufruf an die Arbeiter aller Unternehmen gerichtet, bei denen Massenentlassungen geplant sind: Für ein Treffen in der besetzten Fabrik – der ersten eroberten Bastion des Widerstandes! –, um gemeinsame Schritte zu beschliessen.
Sie hätten einen Aufruf an alle Klimaaktivisten gerichtet: Für eine Klimakonferenz in der besetzten Fabrik! Die Klimabewegung ist abgeflaut, weil ihr eine Perspektive fehlt, nicht weil die Jugend nicht mehr kämpfen will. Was für einen Effekt hätte ein Aufruf der Vetropack-Arbeiter gehabt, denn die ökologische Absurdität der Schliessung ist so offensichtlich! Das hätte einer ganzen Schicht der Jugend beweisen können, dass die Arbeiterklasse die Klimakrise lösen können wird. Hunderte hätten in den aktiven Kampf gezogen werden können. Jeder hätte eine konkrete Aufgabe in einem gemeinsamen Plan erhalten: An jeder Schule, in jedem Quartier ein Aktionskomitee zu gründen – mit dem ersten Zwischenziel, die Strassen von Lausanne mit 50’000 Menschen zu fluten, das Regierungsgebäude zu blockieren und die Verstaatlichung zu fordern!
Mit einem solchen Hebel und Druck aus der Klasse wäre die Forderung nach der Verstaatlichung von Vetropack unter Arbeiterkontrolle in den Bereich des Möglichen gerückt. Der Standort in Saint-Prex hätte gesichert werden können.
Noch wichtiger jedoch: Selbst wenn der Erhalt am Ende nicht gelungen wäre, wäre es ein gigantischer Schritt vorwärts gewesen. Aus dem Kampf um den Erhalt von 181 Arbeitsplätzen wäre der Kampf der ersten Tausenden, Zehntausenden von Arbeitern und Jugendlichen der Schweiz geworden.
Die Wut dieser Zehntausenden über die Lebenskostenkrise, die Umweltkrise, Krieg, Zerstörung, Rassismus und Unterdrückung, über die gesamte kapitalistische Barbarei, findet heute noch keinen Ausdruck, weil sie noch nicht sehen, wie wir uns wehren können. Eine besetzte Fabrik in Saint-Prex, unter der Kontrolle der Arbeiter und mit einer weitsichtigen Führung, hätte zum Leuchtfeuer des Klassenkampfes in der Schweiz werden können.
Die Situation ist für die Arbeiter niemals aussichtslos. Wenn sie sich ohnmächtig fühlen, dann weil sie noch nicht genug organisiert sind und das politische Verständnis noch fehlt. Das ist niemals die Schuld der Arbeiter, es ist eine Frage der politischen Führung. Das beginnt bei uns. Wir brauchen mehr Kommunisten. Und wir müssen bessere Kommunisten werden: Wir müssen lernen, in jedem Kampf den Blick zu heben und den Ausweg aufzuzeigen.
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