Wer die Gesellschaft verändern will, braucht klare Perspektiven und muss sich auf bevorstehende Ereignisse, Veränderungen und plötzliche Wendungen und Überraschungen vorbereiten.
Wir publizieren hier das politische Perspektivendokument vom Kongress der Marxistischen Strömung der Funke von Februar 2017.
Die Krise des Kapitalismus ist weiterhin das bestimmende Element der heutigen Weltsituation. Auch das Jahr 2016 war geprägt von politischen Erschütterungen und einer generellen Destabilisierung des ökonomischen und sozialen Gleichgewichts. Auf ökonomischer Ebene herrscht keine Aussicht auf eine nachhaltige Erholung. Die Stagnation und die dadurch ausgelöste Angst vor einer neuerlichen Rezession, gepaart mit einer rasant zunehmenden Ungleichheit zwischen den KapitalistInnen, welche weiterhin reicher werden, und der Klasse der Lohnabhängigen, deren Lebensstandard weiter abnimmt, hat zu einem zunehmenden Vertrauensverlust in die herrschende Ordnung und ihrer Institutionen geführt. Die Wahl von Donald Trump, der Brexit und die Ablehnung des Referendums in Italien sind Ausdruck dieses Misstrauens. Im gleichen Jahr konnten wir aber auch den Aufstieg von Bernie Sanders und die Wiederwahl von Jeremy Corbyn beobachten. Diese Phänomene zeigen ganz klar, dass die Menschen nach einer Alternative zum Status Quo suchen.
Wir haben immer wieder betont, dass die heutige Situation zu schnellen, sprunghaften Veränderungen führen kann und dass das politische Pendel dabei sowohl nach links als auch nach rechts ausschlagen kann. Im Allgemeinen ist beides konkreter Ausdruck einer Radikalisierung in breiten Teilen der Bevölkerung. Die Ereignisse der letzten Jahre zeigen, dass sich diese Prozesse beschleunigen. Stellten solche politischen Erdbeben zu Beginn der Krise eher einen ausserordentlichen Bruch mit dem Status Quo dar, so ist das Aussergewöhnliche heute längst zur neuen Normalität geworden. Es wird deutlich, wie sich die wirtschaftliche Krise in politischen, erdbebenartigen Veränderungen ausdrückt. Gleichzeitig verstärken diese die wirtschaftliche Unsicherheit weiter.
Die Schweiz ist bislang sowohl sozial, politisch wie auch wirtschaftlich vergleichsweise stabil geblieben. Nichtsdestotrotz ist die Schweiz keine Insel und unsere Strömung hat wiederholt aufgezeigt, wie die globale Krise in verschiedenster Weise auch in der Schweiz ihre Spuren hinterlässt. Die letztjährige Ausgabe unseres Perspektiven-Dokuments stand unter dem Eindruck der internationalen wirtschaftlichen Verlangsamung, den Auswirkungen der Aufhebung des Franken-Mindestkurses und der Unternehmenssteuerreform III (USR3). Wir haben damals die Entwicklung des Bewusstseins und die Radikalisierung der Jugend untersucht und daraus ableitend, wie sich die Sparmassnahmen auf das politische Bewusstsein der SchülerInnen auswirken. Unsere in der letzten Perspektive formulierte These hat sich eindrücklich bestätigt, als im September 2016 die Züricher KantonsschülerInnen massgeblich an der Organisation einer Demo gegen Sparmassnahmen beteiligt waren. Da diese Prozesse noch immer wirken, werden wir sie auch in diesem Dokument aufgreifen.
Das Schweizer Kapital ist aufgrund der überwältigenden Bedeutung des Aussenhandels wie kaum ein anderes von den weltwirtschaftlichen Entwicklungen abhängig. Diese sind äusserst beunruhigend für die hiesige Bourgeoisie: Das Wachstum des Welthandels ist so niedrig wie noch nie seit dem Ausbruch der Finanzkrise. Seit 2012 ist dieses nur noch circa halb so gross wie in den vorhergehenden Dekaden (1970-2010). Auch die Wachstumsprognosen für die Weltwirtschaft für 2017 und 2018 werden laufend nach unten korrigiert und betragen noch etwa 3.5%, während das Weltwirtschaftswachstum 2010 noch bei 5% lag. Die darüberhinausgehenden Prognosen für Welthandel und Wachstum sind ebenfalls düster.[1] Die Wahl Trumps zum US-Präsidenten befeuert, von der OECD bis zur Europäischen Zentralbank (EZB), zusätzlich die Befürchtungen, dass sich eine neue Welle des Protektionismus (also einer nationalstaatlichen Orientierung) erhebt. Auch in der Schweiz verurteilen die ultraliberale Denkfabrik Avenir Suisse[2] und die bürgerlichen Vertreter im Bundesrat, allen voran Ueli Maurer, Johann Schneider-Amman und Didier Burkhalter, drohende Handelshemmnisse.
Bürgerliche PolitikerInnen und Kommentatoren, Zentralbanken (allen voran die EZB) und internationale Denkfabriken (OECD) sehen „politische Schocks“, wie den Brexit, die Wahl Trumps, das Scheitern des italienischen Verfassungsreferendums und die anstehenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich (mögliche Wahl des FN) als Ursache für „wirtschaftlichen Schocks“. Als MarxistInnen gehen wir jedoch über diese simplen, vermeintlich kausalen Zusammenhänge hinaus. Wir erkennen die aktuelle Krisenhaftigkeit als Wechselwirkung zwischen den Limitierungen und der Entwicklungsmöglichkeit des Kapitalismus. Engels formulierte dies folgendermassen: „Die Produktionsweise rebelliert gegen die Austauschform“[3]. Die Überproduktionskrise ist die wichtigste Charakteristik dieser Krise. Sie ist ein Ausdruck davon, wie das kapitalistische System an seine Grenzen stösst. Die anarchische Organisation der Produktion und die Konzentration des Kapitals in den Händen der Monopole führen zu einem konstanten Überangebot an Waren, welche nicht gewinnbringend abgesetzt werden können.
Die Perspektiven zur Warenabsetzung und somit der Profitrealisierung von Schweizer Unternehmen in den entwickelten kapitalistischen Ländern ist dementsprechend düster. Bei Ausbruch der Krise 2008 beschwor die Bourgeoisie: „die Schwellenländer werden uns vor der Krise retten.“. Heute wagen sich nur noch wenige, diesen Trugschluss zu wiederholen. Zentral für diese späte Einsicht ist die Krise des chinesischen Kapitalismus.
„In den letzten 5 Jahren entfiel etwa 80% des weltweiten Wirtschaftswachstums auf die sogenannten „aufstrebenden Märkte“, insbesondere China. Sie waren die Lokomotive der Weltwirtschaft vor und nach dem Absturz des Jahres 2008“[4], erklärt die Weltperspektive der IMT 2016. Die Abkühlung hat nicht nur direkten Einfluss auf die Weltwirtschaft (und damit auf die Schweiz), sondern wird noch zusätzlich verstärkt durch die extreme Abhängigkeit anderer „Entwicklungsländer“ gegenüber China. Das gilt für andere asiatische Länder sowie für Lateinamerika, welche grosse Mengen an Rohstoffen nach China exportieren und dafür mit dringend benötigten internationalen Geldern entschädigt werden. Wie wir später sehen werden, drückt sich die Krise bereits in sinkenden Lieferungen nach China und anderen „aufstrebenden Märkten“ aus.
China, die bevölkerungsreichste Volkswirtschaft der Welt, zeigte bis vor kurzem Rekordwerte an Wirtschaftswachstum von über 10%. Seit einiger Zeit kühlt sich dieses Wachstum aber ab. Das grosse Ankurbelungsprogramm der Regierung in der Höhe von 586 Milliarden Dollar konnte Chinas Wirtschaft kurzzeitig stabilisieren. Die aktuell offizielle Wachstumsrate von 6.9% ist aber die tiefste seit 1990. Diese Zahlen sind jedoch nicht verlässlich und laut dem China Momentum Indicator der Agentur Fathom wuchs die chinesische Wirtschaft gerade einmal um 2.4%.[5]
Die Grundlage der chinesischen Krise ist die Überproduktion, die sich in den stetig zunehmenden Überkapazitäten[6], also einer sinkenden Auslastung, ausdrückt. Eine Studie der EU-Handelskammer Anfangs 2016 zeigt anhand von acht Sektoren (Stahl, Zement, Schiffsbau, Aluminium, Raffinerie, Glas, Papier und Chemie) auf, dass die Auslastung dieser Sektoren im Durschnitt von 81% (2008) auf 74% (2014) gesunken ist.[7] In weiteren 12 Sektoren, von der Konsumgüterindustrie bis zur Verkehrsausrüstung, sank die Auslastung im Durchschnitt gar von 78.3% 2010 auf 66.6% 2015. China hat in den vergangenen 20 Jahren gigantische Produktionskapazitäten aufgebaut und produziert heute beispielsweise die Hälfte des Stahls und 57% des Zements weltweit.[8]
Die Auswirkungen dieser Überproduktion sind vielseitig. Zum einen überschwemmt China die ganze Welt mit Billigprodukten, mit denen andere Produzenten kaum mithalten können. Durch die gigantischen Überkapazitäten Chinas wird es in den industrialisierten Ländern zu Werkschliessungen kommen. Es verwundert daher kaum, dass die EU mehrere Klagen gegen China wegen sogenannten „Dumpingpreisen“ führt und europäische StahlarbeiterInnen gegen ihren Arbeitsplatzverlust demonstrieren. Zum anderen befeuert die Überproduktion aber auch die sozialen Spannungen in China selber, da, um dieser Lage Herr zu werden, früher oder später auch in China Produktionsanlagen abgeschaltet werden müssen. Alleine in der Stahlindustrie rechnet China Daily mit dem Verlust von 3 Millionen Arbeitsplätzen.[9]
Dass sich die Krise in China zuspitzt, zeigen auch eine zunehmende Kapitalflucht aus dem Yuan (70 Milliarden monatlich, knapp eine Billion in den 12 Monaten vor Mitte 2016) und drei Börsencrashs seit Juni 2015, welche symptomatisch für das Misstrauen in die chinesische Wirtschaft sind. Gerade vor dem Hintergrund des explosiven Wachstums der chinesischen Verschuldung (auf allen Ebenen, von Privathaushalten über private Unternehmen und die staatlichen Institutionen), von 200% des BIP (2012) auf 300% (2016)[10], ist keine Stabilisierung der Situation in Sicht. Diese Situation der Instabilität beeinflusst also die Charakterisierung der aktuellen und zukünftigen Wirtschaftslage weltweit.
[1] OECD Wirtschaftsausblick Ausgabe 2016/2, November 2016, www.keepeek.com/Digital-Asset-Management/oecd/economics/oecd-wirtschaftsausblick-ausgabe-2016-2_eco_outlook-v2016-2-de#.WE0qm79DSk8
[2] „Schweizer Aussenwirtschaftsstrategie auf drei Pfeilern“, November 2016, http://www.avenir-suisse.ch/61868/aussenhandel_schweizer-aussenwirtschaftsstrategie-auf-drei-pfeilern/
[3] Friedrich Engels: „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, in: Karl Marx/Friedrich Engels – Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR
[4] International Marxist Tendency: „Crisis and Class Struggle: World Perspectives 2016”, März 2016, http://www.marxist.com/crisis-and-class-struggle-world-perspectives-2016-part-one.htm
[5] Weltperspektive IMT 2016
[6] Im Kapitalismus ist die Reinvestition von Kapital in die Produktionsmittel ein essentieller Prozess für jeden Kapitalisten. Nur so kann die Produktivität gesteigert werden. Dies ist notwendig, um die eigene Marktposition zu festigen, anderen KapitalistInnen gegenüber einen Vorteil zu erlangen oder zumindest in der Konkurrenz nicht unterzugehen. Der gleiche Akkumulationsprozess bedingt aber andererseits auch die Ausbeutung der ArbeiterInnen durch die Extraktion von Mehrwert und dessen Realisierung. Der Lohn, den die ArbeiterInnen erhalten, entspricht nicht dem Wert, den sie selbst durch ihre Arbeit geschaffen haben, sondern muss zwangsweise immer kleiner sein. Wäre dem nicht so, dann gäbe es keinen Profit und somit könnte die Reinvestition von Kapital in die Produktionsmittel nicht mehr stattfinden, gegeben, dass nur die ArbeiterInnen der Ware Wert beifügen können. Es resultiert daraus die Tatsache, dass die Gesamtheit der ausbezahlten Löhne an die Arbeiterklasse es letzteren nicht ermöglichen, sämtliche Waren, welchen sie Wert beigefügt hat, zu kaufen. Die Folge dieses Zwangs zur stetigen Reinvestition und Produktivitätssteigerung auf der einen und der beschränkten Nachfrage auf der anderen Seite sind, dass an einem gewissen Punkt mit den erreichten Produktionskapazitäten mehr produziert werden könnte, als die Märkte aufnehmen können. Da die Kapitalisten die überschüssige Produktion aber auf dem gesättigten Markt nicht mehr absetzen und damit nicht ihren gesamten Mehrwert realisieren können, werden sie ihre Produktion unter ihre eigentlichen Möglichkeiten senken. Die Folge sind sogenannte „Überkapazitäten“: Die Unternehmen sind nicht mehr voll ausgelastet und besässen eigentlich bereits die Produktionsmittel (die Produktionskapazitäten), um mehr zu produzieren.
[7] European Chamber: Overcapacity in China. An Impediment to the Party’s Reform Agenda. Februar 2016.
[8] Die Welt, 22.02.2016: Chinas Überkapazitäten bedrohen Europas Industrie.
[9] ibid.
[10] Der Funke: China und der Keynesianismus: Chinas Schuldenkrise und die drohende Rezession
Die Schweizer Wirtschaft ist über den Export-Sektor eng mit China verbunden. 2013 verdoppelten sich die Schweizer Ausfuhren nach China beinahe auf 20 Milliarden CHF und blieben danach auf hohem Niveau. Während die Exporte in die USA 2009-2015 noch moderat wuchsen, so stagnierten die Exporte nach Deutschland seit Krisenausbruch auf einem hohen Niveau.[11] Auch wenn die USA und Deutschland absolut gesehen wichtigere Märkte als China sind, so stellte letzterer seit Krisenausbruch ein für die schweizerische Exportindustrie interessanter, da expandierender Markt dar.
2015 gingen beinahe 7% der Gesamtexporte nach (Festland-)China. Wenn die Sonderverwaltungszone Hongkong dazugerechnet wird, wächst dieser Wert auf 15.5% und wird somit bedeutender als Nordamerika und Deutschland.[12] Die Schweizer Bourgeoisie setzte seit geraumer Zeit auf die Expansion in diesen grossen Markt. Das wiederspiegelt das Freihandelsabkommen, welches Mitte 2014 in Kraft getreten ist. Speziell für China ist der Vertragsabschluss eine Übung für zukünftige grössere Freihandelszonen und ein Zeichen des Willens an die WTO und andere Freihandelsinstitutionen, sich stärker an die Regeln des freien Marktes und den Schutz des Privateigentums zu halten. Für die Schweizer Wirtschaft eröffnete dieses Freihandelsabkommen einen grossen Exportmarkt. In Zeiten blockierter multilateraler Handelsliberalisierung in der WTO setzt die Schweizer Bourgeoisie auf die Entwicklung von bilateralen Freihandelsabkommen, besonders um den Marktzugang in der Dritten Welt zu verbessern.
Auch die Schweizer Banken und Finanzinstitute kamen im China-Geschäft nicht zu kurz. Sie konnten unlängst ein Abkommen abschliessen, welches den Handel mit der chinesischen Währung in der Schweiz erlaubt und so im nächsten Jahr zu Standorteröffnungen in der Schweiz durch alle grossen chinesischen Banken führen soll[13]. Nicht nur lassen sich da Kommissionen für Schweizer Finanzinstitute im internationalen Devisenhandel und in übrigen in Renminbi[14] getätigten Handelsgeschäften machen. Bei zunehmender Kapitalflucht aus China dürfte das eine oder andere Geschäft für den Schweizer Finanzplatz anfallen.
Natürlich ist der chinesische Markt nur eine relative Stütze der Schweizer Exportindustrie: andere „aufstrebende Märkte“, wie Indien mit 2015 beinahe 7.5% aller schweizerischen Exporte[15], kamen ab 2012 ebenfalls für einen immer wichtiger werdenden Anteil an den Schweizer Exporten auf. Mit der Abschwächung des chinesischen Wirtschaftswachstums schwinden die Exportmöglichkeiten, wie bereits erläutert, in andere Märkte der Dritten Welt. Die Krise in China selbst zieht jedoch speziell, von der chinesischen Nachfrage abhängige, Schweizer Unternehmen mit in die Krise. Dies ist, neben der Aufzugfabrik Schindler, besonders in der Uhrenindustrie eine Realität, allen voran Swatch und Richemont.
Nach Produkten der chemisch-pharmazeutischen Industrie (30%) und Maschinen, Apparate, Elektronik (11%), fallen etwa 7.7% aller Schweizer Ausfuhren auf die Uhrenindustrie.[16] Diese exportierte 2015 etwa 28 Millionen Uhren im Wert von 21.5 Milliarden CHF.[17] Die grössten Märkte sind Hong Kong, die USA, Japan und China. Doch der Uhrenexport sinkt seit Sommer 2015. Im September 2016 gingen die Verkäufe in Hongkong um 40% zurück. Rechnet man Hong Kong und China zusammen, ist dieser Markt innerhalb von zwei Jahren um mehr als ein Drittel geschrumpft, von 4.1 auf 2.6 Milliarden CHF. Am Beispiel der Swatch Group sieht man deutlich, dass diese Entwicklung ihre Spuren hinterlässt. Der grösste Uhrenproduzent weltweit macht 20% des Umsatzes in China und 49% seines Umsatzes mit chinesischen KonsumentInnen (im Land und als TouristInnen).
Dieser Rückgang ist eine direkte und indirekte Folge der Wirtschaftskrise in China. Erstens: Innenpolitischer Druck und Flügelkämpfe in der chinesischen Bürokratie haben die Regierung gezwungen, eine Anti-Korruptionskampagne zu fahren. Diese hat sofort zu einem einschneidenden Fall des Uhrenverkaufs in Hong-Kong geführt, da die Uhren ein beliebtes Bestechungsmittel waren und die Parteibonzen sich nun bemühten, in der Öffentlichkeit mit solchen Prunksymbolen aufzufallen. Andererseits hat der fallende Kurs des Renminbi, welcher Ausdruck der zunehmenden Kapitalflucht ist, die Kaufkraft in Hongkong-Dollar gesenkt. Das erklärt einen Teil der fallenden Verkaufszahlen in China. Es sind diese konjunkturellen Faktoren, welche die strukturellen Probleme des Uhrenmarktes (siehe weiter unten) zum Aufbrechen in Form einer Überproduktionskrise bringen. Die Produzenten und Händler bleiben auf ihren Uhren sitzen. Der Absatzmarkt von China ist nicht der Einzige. Zwei Drittel der 30 wichtigsten Absatzmärkte schrumpfen und die schwindenden Verkaufszahlen betreffen alle Uhrensegmente, von Billig- bis Luxusuhren.
Diese Situation hat bereits zu Anpassungen in den Betrieben geführt: Zulieferer, aber auch die Uhrenhäuser selber, haben zu Entlassungen gegriffen (so Monnier SA, Vaucher Manufacture Fleurier (VMF), Fossil, Richemont). Die Zulieferer berichten von bis zu 40% tieferen Bestellungen[18]. Der Uhrenkanton Neuchâtel verzeichnet mit 6.1%[19] die höchste Arbeitslosenquote der Schweiz, mehr als 2 Prozentpunkte über dem Durchschnitt. In der Uhrenindustrie ist sie gegenüber dem Vorjahr um 15% angestiegen[20].
Beim zweitwichtigsten Uhrenproduzenten der Welt, Richemont, ging der Umsatz um 13% zurück, der Gewinn um 53%. Bei Swatch sind die Zahlen ähnlich. Die Realisierung des Profites im Verkauf der Uhren bereitet den Firmen demnach erhebliche Probleme. Dies ist ein typischer Ausdruck der Überproduktion. Richemont bietet den Detailhändlern, welche auf älteren Modellen sitzen bleiben, einen kostenlosen Umtausch gegen neue Modelle an, was erhebliche Kosten verursacht. Swatch fährt eine aggressive Strategie, einerseits der vertikalen Integration[21], andererseits der Verteidigung des Marktanteils. Firmenchef Hayek erklärt. «Unsere Strategie ist langfristig angelegt. Wichtig ist, dass wir die Marktanteile halten, besser ausbauen können. Dazu investieren wir.»[22] Hier offenbart sich die „reinigende Wirkung“ der Überproduktionskrise, welche sich in einer Kapitalzentralisation bei den grossen Monopolisten manifestiert: Starke Unternehmen bauen den Marktanteil aus, schwächere gehen ein. Richemont hat bereits bei mehreren Marken zu Entlassungen gegriffen. Nun sollen noch weitere 211 Stellen gestrichen werden, während dieses Jahr gleichzeitig rekordhohe 800 Millionen CHF an Dividenden ausgeschüttet werden. 700 Uhren-ArbeiterInnen verschiedener Standorts und Marken mobilisierten Mitte November für eine Vollversammlung und forderten korrekterweise die (teilweise) Offenlegung der Geschäftsbücher. Selbst die Gewerkschaftsspitze war überrascht über diese eindrückliche Mobilisierung.
Die Konjunkturaussichten lassen nicht auf eine rasche Erholung schliessen. An diesem Sektor lässt sich aufzeigen, welchen Einfluss die direkten und indirekten Folgen der weltweiten Krise auf eine Branche haben. Dabei ist klar, dass die Uhrenbranche durch ihren Luxusanteil nicht eine ausschlaggebende Branche ist. Doch es zeigt sich beispielshaft, wie die konjunkturellen Probleme die bestehenden (strukturellen) Probleme aufbrechen[23] lassen und so den grundlegenden Zug der Krise, die Überproduktion, entblössen.
[11] Bundesamt für Statistik (BfS), Ausfuhr nach Handelspartnern (Länder), je-d-06.05.04
[12] Ibid.
[13] NZZ, 25.3.2015: „Die Schweiz als Renminbi-Hub“
[14] Chinesische Währung
[15] Bundesamt für Statistik (BfS), Ausfuhr nach Handelspartnern (Länder), je-d-06.05.04
[16] Bundesamt für Statistik (BfS); Aussenhandel nach Waren, je-d-06.05.02
[17] Verband der Schweizerischen Uhrenindustrie FH, „Die Lage der Uhrenindustrie 2015 – in der Schweiz und weltweit“
[18] Bilan 2.10.16: „Les horlogers sous pression en 2016“
[19] ibid.
[20] Ne.ch, Neuchâtel: „LES CHIFFRES DU CHÔMAGE – AOÛT 2016“
[21] Die Swatch Group beherrscht knapp 20% des Weltuhrenmarktes. Durch die Tochtergesellschaft „ETA SA“ haben sie eine Monopolstellung, da ein Grossteil der anderen Schweizer Uhrenhersteller die Uhrwerke bei ETA kauft. Diese haben Zuliefererverträge aufgekündigt, wurden aber von der Wettbewerbskommission dazu gezwungen, weiterhin Uhrwerke an Konkurrenten auszuliefern, da es für diese sonst zu Engpässen gekommen wäre. Das Aufkaufen der Zulieferer wurde von allen Grossen der Branche verfolgt. Gleichzeitig verfolgen diese eine aggressive Werbe und Verkaufsstrategie mit eigenen Shops. Da sie von der Herstellung der Teile bis zum Verkauf alles selber kontrollieren, spricht man von „vertikaler“ Integration. So können alle Abläufe in jedem Schritt der „Wertschöpfungskette“ optimiert und Konkurrenten aus dem Markt vertrieben werden.
[22] FuW 5.2.15: „Hayek sieht die Uhrenindustrie nicht in der Krise“
[23] Als strukturelle Probleme zählen erstens die Entwicklung der Branche hin zur fast ausschliesslichen Fokussierung auf (mechanische) Luxusuhren (durchschnittliche Exportpreis ca. 700.- CHF pro Uhr). Dabei wurden auch einfach die Verkaufspreise erhöht, ohne technische Verbesserungen vorzunehmen. Das bringt grosse Risiken. Dazu kommt, dass die Jagd nach den Zulieferern (siehe „vertikale Integration“) und die neue „Swissness“-Reglementation für kleinere Betriebe grosse Probleme verursacht (durch Monopole wird es unmöglich, über 60% der Uhr hierzulande herzustellen). Schlussendlich wurde der Trend hin zu „Smartwatches“, laut gewissen Kommentatoren, verschlafen. All diese strukturellen Probleme verstärken nun die Krise. Das weltweite überschüssige Inventar soll sich auf gleich viel belaufen, wie in 24 Monaten verkauft wird (TdG, 15.7.16).
Wie wir gezeigt haben, hat die Entwicklung in China einen indirekten Einfluss auf die Schweiz. Einen direkteren Einfluss haben die Entwicklungen im Euroraum, allen voran die Beziehung zu Deutschland. 2015 gingen 43% aller Schweizer Exporte in die EU, ganze 14% der Exporte gingen nach Deutschland. Beim Import ist die Verflechtung des Schweizer Kapitals mit seinen europäischen und deutschen Partnern noch höher: 72% der Importe stammen aus der EU, 28% der Importe aus Deutschland. Diese Abhängigkeit steigt noch weiter: Die Exporte nach Deutschland haben in den ersten drei Quartalen 2016 um 14.4% zugelegt[24]. Dies erklärt, weshalb ist die Entwicklung des europäischen und deutschen Kapitalismus so wichtig für die Schweizer Bourgeoisie. Doch auch hier schwächelt das Wachstum merklich (aktuell bei 0.4% des BIP). Und bei jedem neuen „Schock“ wird vor dem Abrutschen in die Stagnation gewarnt. Wie bei China kann die Verflechtung mit Deutschland bis zu einem gewissen Grade stabilisierend wirken, sich dann jedoch auch in sein Gegenteil verkehren.
Wie wir stets betont haben, ist die Frankenstärke ein Ausdruck der Krise des europäischen Kapitalismus. Die Aussichten der europäischen Kapitalisten, ihr Kapital profitabel in der Produktion zu investieren, sind wegen der Überproduktion tief. Sie horten ihr Geld im Schweizer Franken als klassischer Fluchtwährung. Knapp zwei Jahre nach dem Ende der Wechselkurs-Untergrenze stabilisierte sich der Kurs um die 1.09 CHF pro Euro und die Konsequenzen für den Schweizer Kapitalismus können nun genauer eingeordnet werden.
Der europäische Markt spielt besonders für die Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM- Industrie) eine herausragende Rolle. Rund 60% aller MEM- Güter werden in die EU und über 27% nach Deutschland exportiert[25]. (43% respektive 14% für die Gesamtausfuhr, siehe oben). Die Periode des fixen Wechselkurses gab den Unternehmen Zeit, sich auf die neuen Bedingungen einzustellen. Nach der Freigabe setzten sie sofort ihre Pläne um. Die Panik um den Schock-Moment nutzten sie, um die Auswirkungen der Frankenstärke rücksichtslos auf die ArbeiterInnen abzuwälzen und dabei zu Massenentlassungen und erhöhter Ausbeutung zu greifen. Tatsächlich wurden in diesem Sektor seit Anfang 2015 etwa 10’000 Stellen gestrichen. Darüber hinaus wurde die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in diesem Sektor im Durchschnitt um 20 Minuten erhöht. Über die Lohnentwicklung können noch keine Angaben gemacht werden. Es muss jedoch von stagnierenden Tendenzen ausgegangen werden. Während sich der Franken gegenüber dem Euro um über 11% aufwertete, fiel der Unterschied zwischen den Verkaufspreisen im Inland und im Ausland der Swissmem-Unternehmen im Durchschnitt um 6%[26]. Dies ist ein Indikator dafür, dass die wechselkursinduzierte Verschlechterung der Profitbedingungen zu einem gewichtigen Anteil auf die Produktions- und hier in erster Linie auf die Arbeitsbedingungen, abgewälzt wurden
Der Schock der Frankenstärke für die MEM-Industrie ist ungleich verteilt. Die grossen Industriefirmen können dank ihrer multinationalen Strukturen die Auswirkungen durch verschiedene interne Massnahmen, wie etwa dem Abwickeln der Verträge in Fremdwährungen oder Produktionsverschiebungen, wegstecken. Kleine und mittlere Unternehmen (KMU’s) haben jedoch grösste Schwierigkeiten.[27] Auf der einen Seite drücken grosse Unternehmen ihre Einkaufspreise bei Zulieferern. Auf der anderen Seite berichtet der Präsident von Swissmechanic, dem Branchenverband der MEM-KMU, über Zinsen von bis zu 8% für Kredite an KMU’s, obwohl heute negative Leitzinsen[28] üblich sind. Die schweizerische Bankiervereinigung (SBV) ihrerseits bemerkt eine Abnahme von Krediten in der Schweiz, Hypotheken ausgenommen[29]. Weder die Unternehmen noch die Banken glauben an eine Wiederherstellung der Profitabilität und somit an die Möglichkeit für gewinnbringende Investitionen.
Auch wenn die Auswirkungen der Frankenstärke real sind, fällt auf, dass die Kapazitätsauslastung kaum gefallen ist und sich weiterhin um 85% bewegt.[30] Mit einer momentan noch relativ stabilen Nachfrage aus Deutschland ist es weniger ein Problem der Warenabsetzung und damit der Realisierung des Profits. Es geht vielmehr um die eigentliche Profitabilität. Doch wenn die Krise in Europa wieder zuschlägt, dann werden sich Einbrüche der MEM-Exporte, wie sie im Moment in Märkten wie Indien, Südkorea, der Türkei oder Brasilien stattfinden, auf einer höheren Stufe reproduzieren. Zur Krise der Profitabilität gesellt sich dann eine eigentliche Absatzkrise. Während der Bund die Profitbedingungen zu einem gewissen Grad beeinflussen kann, massgeblich durch die Umsetzung der USR 3 (siehe weiter unten), wird sich eine Absatzkrise in enormen Angriffen auf die Angestellten ausdrücken, wahrscheinlich in einer weiteren Welle an Massenentlassung. Die Gewerkschaften müssen die Angestellten der MEM-Industrie darauf vorbereiten, solche Angriffe unmittelbar mit Kampfmassnahmen abzuwehren.
Während die Industrie-Produktion um 0.9% abnahm[31], wuchs das BIP im ersten Halbjahr 2016 dennoch um 0.5%. Dies ist unter anderem auf Staatsausgaben und auf das weitere Wachstum der Chemie- und Pharmaexporte zurückzuführen. Die Branchen, welche stärker wuchsen, sind mit dem Staat verbunden: Die Branche „Erziehung und Unterricht“ wuchs um 2%, das Gesundheits- und Sozialwesen um 1%[32]. Genau diese Ausgaben werden aber mit den rigorosen Sparbemühungen gekürzt, so dass beispielsweise auch hier in Zukunft weniger Stellen geschaffen werden, und somit auch weniger zum Wirtschaftswachstum beitragen werden kann.
Die Chemie-Branche baute die Produktion um 10.4% aus, die Pharmazeutik um 8.6%(Vergleich zum Vorjahr)[33]. Trotz (oder gerade wegen) dieser guten Ausganglage strich der Chemie-Sektor kontinuierliche Stellen (während sechs der letzten acht Quartale). In der Pharmazeutik nahm das Beschäftigungszuwachs langsam ab.
Bauausgaben machen etwa 10% des BIP aus[34]. Während dieser Sektor zur relativen Stabilität der Wirtschaft seit 2008 beigetragen hatte, ist seit Mitte 2015 eine Abkühlung bemerkbar. Diese war auf dem überhitzten Markt zu erwarten. Der erste konjunkturelle Schluckauf ist ein wichtiges Anzeichen kommender Veränderungen. Solange die Leitzinsen jedoch auf dem aktuell tiefen Niveau bleiben, wird es auch zu keinem tiefen Einbruch in der Bauwirtschaft kommen. Allerding hängt über der Bauwirtschaft das „Damoklesschwert“ der Blasenbildung im Immobiliensektor. Vier von zehn Hypothekarschuldnern würden demnach bei einem geringen Anstieg der Hypothekarzinsen zahlungsunfähig[35]. Obwohl das Szenario von steigenden Zinsen im Moment nicht wahrscheinlich ist, könnte der gleiche Effekt durchaus auch bei einem weiteren Konjunkturschock eintreten, wodurch auch der Bauboom ein rapides Ende nehmen würde.
Der eigentliche Motor jeglicher wirtschaftlichen Entwicklung, die produktiven Investitionen, ist jedoch auch in der Schweiz seit Jahren rückläufig. Im 2. Quartal 2016 fielen die Ausrüstungsinvestitionen[36] um 0,9%[37]. Genauso wie ihre europäischen Gegenspieler sind die Profitaussichten der schweizerischen Bourgeoisie gering. Sie haben keinerlei Vertrauen darauf, dass der heute investierte Franken sich in den kommenden Jahren mittels Produktion und Zirkulation[38] wird vermehren können.
Die stagnierenden Tendenzen des schweizerischen Kapitalismus widerspiegeln sich dann auch in der Anzahl neu geschaffener Stellen. Das SECO warnt, dass die Beschäftigung im zweiten Quartal 2016 innerhalb von 12 Monaten um 4500 Vollzeitstellen (-0.1%) abgenommen hat. Das kontrastiert mit der Entwicklung im Zeitraum ein Jahr davor, wo die Beschäftigung noch um 46’600 Vollzeitstellen (+1.2%) zugenommen hat[39]. Dementsprechend stieg die Arbeitslosigkeit laut SECO im Jahresverlauf um 0.1% auf 4.6% (ILO-Standard). Im Fünfjahresvergleich ist das immerhin ein Plus von 0.6%[40]. Zudem hat die Zuwanderung im letzten Jahr abgenommen, was einen ähnlichen Effekt hat, wie der Export von Arbeitslosigkeit.
Hingegen sind im Bereich der Löhne wichtigere Entwicklungen im Gange. Bereits zum zweiten Jahr in Folge steigt der Nominallohn nur 0.5%, der tiefste Wert seit der Jahrtausendwende[41]. Nur dank der Deflation (2015: 1.5%, 2016: 0.5%) wird das Lohnwachstum real etwas erhöht. Dabei fällt auf, dass die Zahlen für 2015 zeigen, dass sogar in Branchen mit Gesamtarbeitsvertrag (GAV) das Lohnniveau nominal kaum gewachsen ist: Maschinen- und Fahrzeugbau +0.1%, Detailhandel +0.7%, Baugewerbe -0.2%.[42]
Die ansatzweise in der MEM- und in der chemisch/pharmazeutischen Industrie ersichtliche erhöhte Ausbeutung der ArbeiterInnen zeigt sich eindeutig im Bau. Bereits 2015 erarbeiteten 1.1% mehr Angestellte 4.25% mehr „Arbeitsvolumen“.[43] Es ist ein Armutszeugnis für die Gewerkschaften, allen voran für die Unia, dass die Baubranche, welche für ihre guten GAVs berühmt ist, stagnierende Löhne (LMV: +0.2% Reallohnerhöhung), längere Arbeitszeiten und somit höhere Ausbeutungsraten aufzeigen. Dies führte in Hinsicht auf die aktuellen und kommenden Verhandlungen (Innenausbau in der Romandie, eventuell Bauhauptgewerbe 2017) bereits zu ersten Kämpfen.
[24] EZV (Zoll), MM 20.10.2016: „3. Quartal 2016: Wachstumstrend setzt sich fort“
[25] Siehe: Swissmem, „Exportdaten“ Jan-Sep 2016 vs. Jan-Sep 2015, http://www.swissmem.ch/industrie-politik/ueber-die-mem-industrie.html
[26] Tagesanzeiger, 29.10.2016: „Swissmem-Firmen strichen 2500 Jobs“.
[27] Siehe dafür bspw.: Swissmechanic, Medienmitteilung, „Werkplatz Schweiz: Patrons schaffen gegen Arbeitslosigkeit“, 11.11.2016
[28] https://www.cash.ch/news/top-news/viele-industrie-kmu-kampfen-ums-uberleben-501057
[29] Schweizerischer Bankiervereinigung, „Bankenbarometer 2016. Die konjunkturelle Entwicklung der Banken in der Schweiz”, September 2016, p. 23
[30] Swissmem Halbjahresmedienkonferenz vom 31. August 2016, Zürich, Referat von Peter Dietrich.
[31] KOF, ETHZ, MM 6.10.2016: „KOF Konjunkturprognose Herbst 2016: Zurück zu moderatem Wachstum“
[32] Credit Suisse: Branchenmonitor Schweiz, 3. Quartal 2016: „Industrie rafft sich auf“
[33] Credit Suisse: Branchenmonitor Schweiz, 3. Quartal 2016: „Industrie rafft sich auf“
[34] Baumeisterverband „2015 – Zahlen und Fakten“
[35] Unternehmerzeitung, „der Ballon muss weiter sinken“, 16.12.16, http://www.unternehmerzeitung.ch/uz-praxis/geld/immobilienblase/
[36] Ausrüstungsinvestitionen = Maschinen und Geräte, Geschäftsausstattung, Fahrzeuge, aber keine festen Bestandteile von Bauwerken (destatis.de)
[37] KOF, ETHZ, MM 6.10.2016: „KOF Konjunkturprognose Herbst 2016: Zurück zu moderatem Wachstum“
[38] Der Geldfluss durch Kauf und Verkauf von Waren und Dienstleistungen
[39] SECO: Konjunkturtendenzen Herbst 2016 (Daten bis Mitte September 2016)
[40] ibid.
[41] BFS, 03 „Arbeit und Erwerb“: „Arbeitsmarktindikatoren 2016“
[42] BFS: Statistik, T1.10 Nominallohnindex, 2011-2015
[43] BFS, 03 „Arbeit und Erwerb“: „Arbeitsmarktindikatoren 2016“
Die weiterhin anhaltende Stagnation der Weltwirtschaft und die langsame, aber konstante Übertragung der Folgen der Krise auf die Schweiz hinterlassen auch im Bewusstsein der Schweizer Lohnabhängigen tiefe Spuren. Im neuen Sorgenbarometer der Credit Suisse steht weiterhin die Arbeitslosigkeit, die von 46% der Befragten (Stimmberechtigten) als eine der Hauptsorgen genannt wurde, an erster Stelle.[44] Darauf folgen, wie schon in den Jahren zuvor, die Einwanderung, die Altersvorsorge und das Asylwesen. Aus der Tatsache, dass Themen wie Persönliche Sicherheit und Terrorismus weit abgeschlagen sind, kann man annehmen, dass auch die Frage der Migration vor allem mit wirtschaftlichen Ängsten verbunden wird. [45]
Dass die Prozentzahlen für die vier Top-Sorgen trotzdem stark zurückgegangen sind, kann damit erklärt werden, dass die Panik, welche nach dem Frankenschock, aber auch im Zuge der Flüchtlingskrise geschürt wurde, langsam abebbt und die Krise als neuen Normalzustand akzeptiert wird. Da Jugendliche und MigrantInnen nicht erfasst werden, entsteht jedoch ein verzerrtes Bild der Situation, welches von der CS optimistisch gewertet wird.
In der letztjährigen Perspektive haben wir die widersprüchlichen Auswirkungen der Krise auf das Bewusstsein beschrieben. Wir haben gesagt, dass sich daraus vor allem Wut und Angst entwickeln, dass die Angst im Moment dominiert und sich in einer gewissen Passivität ausdrückt. An dieser Analyse hat sich grundsätzlich nichts verändert. Radikalisierungsprozesse finden vor allem in der Jugend, rund um die Frage des Antirassismus und den Kampf gegen den Bildungsabbau statt. Aber auch in Teilen der ArbeiterInnenschaft, wie in der Uhrenindustrie, in einzelnen Industriebetrieben in der Romandie und vor allem im öffentlichen Sektor entwickeln sich Ansätze eines radikalisierten Bewusstseins. In diesen punktuellen qualitativen Veränderungen sehen wir erste Differenzierungsprozesse für eine sich verschärfende Phase des Klassenkampfes.
Grundsätzlich ist der Prozess der Radikalisierung kein geradliniger, der sich nur in die eine oder andere Richtung entwickelt. Die Unsicherheit über die eigene Zukunft und das erodierende Vertrauen in die bestehenden Institutionen und das System als Ganzes können vor allem auf politischer Ebene zu sehr widersprüchlichen Phänomenen führen. Grundsätzlich kann man festhalten, dass eine allgemeine Polarisierung sowohl nach links als auch nach rechts ein Grundmuster der Radikalisierung darstellt. Ausserdem nimmt gerade in der Schweiz, aufgrund der hohen Heterogenität der arbeitenden Klasse in Bezug auf die Lebenssituation ihrer verschiedenen Schichten, aber auch aufgrund der Schwäche der organisierten ArbeiterInnenbewegung, die Bewusstseinsentwicklung in der Krise eine sehr ungleiche und widersprüchliche Form an. So existieren zunehmende Fremdenfeindlichkeit und Rassismus parallel zu einem sich im Keim heranbildendem Klassenbewusstsein und einem zunehmend rebellischen Geist der Jugend.
Die Auswirkungen der Krise auf das Bewusstsein der Lohnabhängigen zeigen sich offensichtlich auch in der Unterstützung für die politischen Parteien. Die Krise hat das Vertrauen der Massen in die politischen Institutionen, die in den vergangenen Jahrzeiten traditionell die Regierungen besetzten, systematisch zerstört. Unter diesen Umständen stellen wir seit dem Beginn der Krise den Aufstieg der rechtspopulistischen Parteien in verschiedenen Ländern fest. Die Politik des „Sündenbocks“, derer sich die Rechtspopulisten bedienen, gibt dem Gefühl von Hoffnungslosigkeit einen politischen Ausdruck. Der Brexit, die Wahl Trumps und der drohende Wahlsieg des FN sind die offensichtlichen politischen Konsequenzen, wenn sich der Kollaps der etablierten politischen Parteien nicht in der Stärkung der Linken manifestiert.
Bei diesen rechtspopulistischen Parteien handelt es sich zum Teil um länger existierende, aber eher unbedeutende Organisationen, welche nun rasant an Unterstützung gewinnen, wie der Front National in Frankreich. Zum Teil handelt es sich aber auch um neue Formationen wie die AfD in Deutschland. Die Politik dieser Parteien ist in ihren Grundzügen überall dieselbe. Mit einer rassistischen Hetzpolitik wird versucht, die Ängste der Bevölkerung mit Scheinlösungen zu bewirtschaften. Wo es die Linke nicht schafft, Antworten auf die Krise zu finden oder sogar selber die Angriffe auf den Lebensstandard ausführt, werden diese Kräfte bei Wahlen zu einem wichtigen Anziehungspunkt für die von der Krise gebeutelten Massen.
Der rasante Aufstieg rechtspopulistischer Parteien stellt die Bourgeoisie vor eine neue Art der Unsicherheit. Der wichtigste Faktor dabei ist, dass ihnen die Kontrolle über diese Parteien weitgehend fehlt. Dies führt zu einer grossen Unsicherheit, nicht zuletzt für die kapitalistischen Produktionsbedingungen selbst. Die protektionistische und in Europa verbreitete Anti-EU-Politik bedrohen direkt die Kapitalverwertungsbedingungen breiter Teile der Bourgeoisie. Zudem wird der historische Kompromiss zwischen den KapitalistInnen und der ArbeiterInnenbewegung, der wegen der Austeritätspolitik und den Angriffen auf die Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen eigentlich bereits stark bröckelt, durch den Aufstieg der rechtsnationalistischen Parteien noch offensiver, direkter und unverblümter in Frage gestellt. Auch davor fürchtet sich die Bourgeoisie, da ein Aufbrechen dieses Kompromisses den Klassenkampf wieder auf die Tagesordnung bringen könnte. Es muss jedoch deutlich gesagt werden, dass der Rechtspopulismus genauso die Interessen der herrschenden Klasse – nur einfach radikaler und kompromissloser – vertritt. Daher kann er in keinem Fall eine Alternative zum Status Quo oder einen Ausweg aus der Krise für die Arbeitenden darstellen.
Der Aufstieg des Rechtspopulismus ist aber nicht ein „Rechtsrutsch“ der Gesellschaft als Ganzes, wie es in den bürgerlichen Medien und von den ReformistInnen manchmal dargestellt wird. Vielmehr zeigt sich hier die Dialektik im Radikalisierungsprozess der Bevölkerung. Der mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus zusammenhängende Vertrauensverlust in das politische Establishment und die bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse im Allgemeinen hat immer auch eine progressive Kehrseite: Der Brexit-Entscheid und der Aufstieg der UKIP fallen zusammen mit der Massenbewegung um den Wahlkampf des Labour-Vorsitzenden und Parteilinken Jeremy Corbyn; der Aufstieg Trumps mit einer vergleichbaren Massenbewegung rund um den Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders, welcher sich selbst als „Sozialist“ bezeichnet; der Aufstieg des Front National mit der gewaltigen Streikbewegung gegen die neue Arbeitsgesetz-„Reform“ in Frankreich.
Solche Entwicklungen haben im Kontext der Krise einen zusätzlich destabilisierenden Charakter und beschleunigen das Aufbrechen der Widersprüche in der Gesellschaft. Dies führt zu einer allgemeinen Krise der bürgerlichen Herrschaft. So kann das Kapital seine Herrschaft im Rahmen der bürgerlichen Demokratie nicht mehr problemlos ausüben.
Die Stärke der SVP in der Schweiz ist Ausdruck desselben Prozesses. Die Unsicherheit und Ängste vor den Folgen der Krise treiben auch in der Schweiz breite Teile der Bevölkerung in die Fänge der rechten Propaganda. Es ist daher auch kein Zufall, dass inmitten der Aufhebung des Frankenkurses und der Flüchtlingskrise die SVP bei den Nationalratswahlen nochmals zulegte. Natürlich ist dies kein einseitiger Prozess und bringt immer auch Widerstand gegen genau dieselbe Entwicklung mit sich. Nichtsdestotrotz ist eine deutliche Tendenz die wir festhalten müssen.
Dennoch gibt es grosse Unterschiede zu den Prozessen in anderen Ländern, welche Konsequenzen für unsere Analysen und Perspektiven haben. Insbesondere in den Polemiken innerhalb der Linken ist es wichtig zu betonen, dass die SVP längst die wichtigste Partei der herrschenden Klasse der Schweiz geworden ist. Ihre Politik im Sinne des Kapitals betreibt sie im Rahmen der bürgerlichen Demokratie und versucht jeweils, politisches Kapital aus ihrer vermeintlichen Oppositionsrolle zu schlagen. Schwammige Begriffe wie „faschistoid“ verschleiern den gänzlich bürgerlichen Charakter der SVP. Dabei wird auch der Hauptgrund des Aufstiegs der Rechten, das Fehlen eines alternativen linken Programmes, verwässert. Unter diesen Bedingungen stellt der Prozess der weiteren Erstarkung der SVP auch nicht dieselbe unmittelbare Bedrohung für die Schweizer Bourgeoisie dar. So hat dieser Prozess kurzfristig nicht eine Destabilisierung der bürgerlichen Herrschaft zur Folge. Im Gegenteil, ihre Kontrolle über die Politik wird vorläufig sogar gestärkt.
Diese Situation ist jedoch keinesfalls stabil. Obwohl die SVP durch ihre rechtspopulistische Agitation für den Moment eine gewisse Massenbasis für ihre bürgerliche Politik schafft, müssen diese innerparteilichen Widersprüche, welche dem Spannungsfeld zwischen den Erwartungen der Wähler und den Interessen der Parteielite entspringen, früher oder später aufbrechen und die Partei zerreissen. Auch stehen grosse Teile der Bourgeoisie der SVP-Strategie skeptisch gegenüber. Vor allem die Masseneinwanderungsinitiative hat gezeigt, dass diese Form der Propaganda Kräfte freisetzten kann, die schwer zu kontrollieren sind.
Angesichts der sich zuspitzenden Widersprüche des Kapitalismus in der Krise, welche objektiv vorhanden sind, wird sich die SVP diesem Konflikt nicht längerfristig entziehen können. Es wäre die Aufgabe der Linken, diese Widersprüche aufzuzeigen. Angesichts der Schwäche der Linken müssen wir im Moment jedoch von der Perspektive ausgehen, dass die Bourgeoisie in der Schweiz fest im Sattel sitzt. Dies hat reale Konsequenzen für die Lohnabhängigen in der Schweiz.
Wir haben in der Perspektive vom letzten Jahr die Wahlen und das Erstarken der rechtsbürgerlichen Kräfte ausführlich behandelt. Wir haben damals betont, dass das Resultat nicht einen gesellschaftlichen Rechtsrutsch repräsentiert, es aber nun einfacher sein wird, die Agenda der Bourgeoisie durchzusetzen: Die Abwälzung der Krise auf die Lohnabhängigen. Dies hat sich nun in der Realität bestätigt. Ohne Rücksicht auf Gepflogenheiten und Parlamentskultur (Sozialpartnerschaft und Konkordanz) wurde die Altersvorsorge 2020 verschärft und die USR III durchgeboxt, später mehr dazu.
[44] https://www.credit-suisse.com/ch/de/about-us/responsibility/dialogue/sorgenbarometer/download-center.html
[45] http://www.blick.ch/news/wirtschaft/cs-sorgenbarometer-2016-schweizer-zittern-vor-jobverlust-id5830339.html
Die Initiative verlangte Höchstzahlen und Kontingente für die Einwanderung und gefährdete damit direkt die Bilateralen Abkommen mit der EU. Die drohende Umsetzung dieser Initiative war eines der wichtigsten Aspekte der Planungsunsicherheit bei den Unternehmern. Kurz gesagt: die herrschende Klasse der Schweiz musste die Notbremse ziehen. Mit Hilfe der Linken, welche für jede Lösung des kleineren Übels zu haben war, entschied sich der Nationalrat für den Inländervorrang Light, welcher einer de facto Ignorierung der Initiative gleichkommt. So können nun Unternehmen, welche freie Stellen haben, diese freiwillig beim RAV melden, damit SchweizerInnen einen Vorrang bei der Stellensuche geniessen.
Einerseits zeigt dies auf, dass das Parlament die Interessen der KapitalistInnen klar vor Volksentscheide stellt. Dies kann als Indiz verstanden werden, dass eine linke Volksinitiative ein ähnliches Schicksal ereilen würde, wenn sie den Interessen der Herrschenden zu stark wiedersprechen und nicht mit enormen Druck von der Strasse durchgesetzt werden würde. Andererseits offenbart sich hier das Spiel der SVP sehr deutlich: Natürlich stimmte sie gegen diesen Vorschlag und beklagt jetzt den missachteten Volkswillen. Die Vertreter der SVP haben aber weder versucht, eine konkrete Umsetzung zu präsentieren, noch ergreifen sie nun das Referendum. In letzter Instanz haben sie kein Interesse, der Wirtschaft durch diese Initiative zu schaden, denn sie sind Vertreter genau dieser Interessen. Gleichzeitig können sie sich aber weiterhin als Opfer einer sogenannten Mitte-Links-Mehrheit (die zwar real nicht existiert, aber von der SVP geschickt erfunden wurde) präsentieren und so ihren wahren Charakter verschleiern.
So offenbart sich auch die falsche Herangehensweise der Linken und der SP im Besonderen an diese Frage. Der Entscheid wurde als Sieg über die SVP und erfolgreiche Allianz mit den «progressiven» Bürgerlichen verkauft. Neben den schädlichen Auswirkungen, die diese Position des kleineren Übels auf die ArbeiterInnenbewegung hat und später im Dokument noch genauer untersucht wird, spielt diese Politik der SVP in die Hände. Denn damit ermöglicht die Linke es der SVP, ihre Pseudo-Opposition weiterzutreiben und ihren wahren Klassencharakter zu verschleiern. Ein konsequenter Kampf gegen die Umsetzung dieser Initiative hätte die SVP gezwungen, Farbe zu bekennen und hätte es der Linken ermöglicht, der spalterischen Argumentation der Bürgerlichen einen Klassenstandpunkt (welcher die Vereinigung der ArbeiterInnenklasse gegen das Kapital vorantreibt) entgegenzustellen.
Die Umsetzung der MEI zeigt auch, wie unsicher linke Bekenntnisse zum Internationalismus und internationaler Solidarität sein können. Gerade in Bezug auf die spalterische Politik der SVP muss ein linker Klassenstandpunkt immer international sein. Die Linke schwächt sich nur selber, wenn sie sich auf das Ausspielen von Arbeitenden verschiedener Länder einlässt. Der schädlichen Abwärtsspirale, die der Standort- und im speziellen der Steuerwettbewerb auslöst, muss die Linke die Interessen aller Arbeitenden gegenüberstellen. Auch die Gewerkschaften laufen Gefahr, sich rein auf die (scheinbare) Vertretung der schweizerischen Arbeitenden zu beschränken. Die nationalistisch angehauchte Kampagne zu den Mindestlöhnen ist nur ein Beispiel von vielen. Die Einheit der Klasse der Arbeitenden ist ihre grösste Stärke und darf nicht wegen kurzfristigen taktischen Manövern aufs Spiel gesetzt werden.
Die Interessensvertretung der Bourgeoisie im Parlament hat mit der USRIII den Boden für brutale Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse der Schweiz bereitet. Die Konterreform wird doppelt durch die internationale Wirtschaftssituation bestimmt. Einerseits führt die ausgedehnte Wirtschaftskrise dazu, dass Unternehmen noch mehr nach Steuerschlupflöchern suchen und deshalb öfter umziehen. Das hat die OECD dazu veranlasst, ein Programm zu starten, welches die Regierungen zwingt, zumindest die obszönsten Steuerpraktiken zu unterbinden. Andererseits nutzt die hiesige Bourgeoisie diesen Grund, um neue Steuergeschenke durchzuwinken, um die in der Schweiz ansässigen Unternehmen auf dem Weltmarkt steuertechnisch besserzustellen. Das erklärt den Zeitpunkt für die grösste Steuersenkungsorgie seit dem Zweiten Weltkrieg.
Die Unternehmenssteuerreform III wird milliardenschwere Löcher in die Kassen von Bund, Kantone und Gemeinden reissen. Neuste Schätzungen der Steuerbehörden gehen von 3 Milliarden Mindereinnahmen aus. Bei der Ergreifung des Referendums war noch von etwas mehr als einer Milliarde die Rede. Die Erfahrungen der USRII lassen erwarten, dass die Kosten in der Realität um ein Vielfaches höher sein werden. Die Aggressivität, mit der die Bürgerlichen die Interessen von Grossunternehmen im Parlament vertreten, zeigen deutlich, dass sie den Widerstand der Linken nicht wirklich als soziale Gegenkraft ernst nehmen. Damit haben sie auch nicht ganz unrecht.
Auf den ersten Blick sieht die USRIII aus wie ein Steilpass an die Schweizer Linke, um Steuergeschenke an die grössten multinationalen Unternehmen zu bekämpfen und die Abschaffung aller Steuerprivilegien zu fordern. Doch die SP schaffte es nicht einmal, sich konsequent gegen die Reform zu positionieren. Gerade auf Kantonsebene wurde die Einbindung der SP in den bürgerlichen Staat, im Speziellen durch die MitgliederInnen der Kantonsexekutive, zum Steigbügel der Umsetzung dieser Reform. Durch ihr staatstragendes Verhalten haben diese PolitikerInnen die bürgerliche Logik des ausgeglichenen Staatshaushaltes und damit der Budgetzwänge, aber auch die Konkurrenz zwischen den Kantonen, dermassen übernommen, dass sie es in Kauf nehmen, die Reform zu verteidigen um „ihr“ Kanton dadurch besser zu stellen. Das Paradebeispiel dafür ist die Basler Finanzdirektorin Eva Herzog.
Da in Basel die grossen Pharmaunternehmen für etwa 15% der Steuereinnahmen verantwortlich sind, ist Herzog bereit offen die Steuerinteressen dieser Unternehmen zu vertreten. Sie war nicht nur direkt für die Ausarbeitung des Steuerwerkzeuges „Patent-Box“ verantwortlich (welche direkt auf die Pharmaunternehmen zugeschnitten ist). Als Präsidentin der Konferenz der kantonalen FinanzdirektorInnen war sie massgeblich daran beteiligt, dass „die Kantone“ bei der Reform wegen den enormen Steuerverlusten nicht ein Veto eingelegt haben (was ein bedeutendes Hindernis für die Reform gewesen wäre). Dies alles nur, weil die Reform durch die horrende Profitmarge der Pharmaunternehmen auf lokaler Ebene „aufgeht“. Die Pharma-Riesen haben signalisiert, sich die Akzeptanz der kantonalen Umsetzung der Reform – und die effiziente Interessensvertretung ihrer Frau Herzog – mit einigen „Kompensationszahlungen“ etwas kosten zu lassen. Eva Herzog ist es dabei völlig egal, dass durch die kantonale Steuerkonkurrenz alle anderen Kantone unter Druck stehen, die Unternehmenssteuern zu senken.
Dazu kommt, dass das öffentliche Werben für solche „Kompromisse“ während dem nationalen Referendumskampf der Linken gegen die Reform nichts anderes als einen kriminellen politischen Verrat darstellt. Wie kann eine Partei glaubhaft als Opposition auftreten, wenn auf kantonaler Ebene ein Kompromiss als positiv verkauft wird? Nur dank dem kontinuierlichen Druck der JUSO, der SP-Basis und anderen linken Organisationen ergriff die SP überhaupt das Referendum gegen die Reform. Im Waadtland opponierte die lokale JUSO beispielhaft gegen die vom Kantonsrat Maillard geführte SP. Maillard hatte die massive Senkung des kantonalen Unternehmenssteuersatzes in der Waadt, in voreilendem Gehorsam zur Umsetzung der USR III, befürwortet und sogar gegen ein Referendum durchgedrückt. Auch in Basel ist die JUSO massgeblich am Widerstand gegen die Umsetzung der USRIII beteiligt – auch hier gegen die eigenen ExekutivpolitikerInnen.
Dies zeigt deutlich die zentrale Rolle, welche die JUSO im Kampf gegen Konterreformen und auch gegen den sozialliberalen Flügel der SP einnehmen kann und muss. Die Rolle der JUSO beschränkt sich also nicht nur darauf, in Sachfragen jeweils Druck auf die SP auszuüben. Die JUSO muss diese Diskussionen nutzen, um eine umfassende Kritik an der politischen Ausrichtung der Partei und ihrer Praxis zu üben. Ein klares Konzept für den Aufbau einer sozialistischen Opposition muss konsequent in die SP getragen werden. Die Rolle der JUSO wird später noch ausführlicher besprochen.
Die zweite Seite der Medaille der Steuersenkungen für Unternehmen und Reiche sind Sparmassnahmen auf allen Ebenen. In letzter Instanz sind sie zentraler Teil der Strategie von der Schweizer Bourgeoisie gegen die Krise. Während sie mit den Steuersenkungen direkt die Profitbedingungen des Schweizer Kapitals verbessern, wälzen sie mit den Sparmassnahmen die entstandenen Kosten auf die ArbeiterInnenklasse ab. Die Abbaupolitik hat somit spürbare Auswirkungen auf den Lebensstandard und ist daher auch der Ort, wo sich Widerstand gegen diese Strategie konkret formiert.
Während die Sparmassnahmen auf Bundesebene zumeist auf die Entwicklungshilfe und auf die Streichung von Zahlungen an die Kantone beruhen, sind die Abbaumassnahmen von Kantonen und Gemeinden konkrete Angriffe auf bestehende Leistungen. Somit findet der Kampf gegen diese Angriffe auch jeweils zeitlich verschoben in den einzelnen Kantonen statt. Diese Föderalisierung der Sparmassnahmen erschwert einerseits einen koordinierten Widerstand, andererseits schafft sie Sachzwänge für andere Kantone, um nachzuziehen.
Gespart wird vor allem in der Bildung, bei der Gesundheit und dem Personal im Öffentlichen Dienst. Es trifft aber auch immer wieder andere Bereiche, welche weniger gut organisiert sind, wie Beeinträchtigte, MigrantInnen, Kunst und Kultur, Sportangebote etc. Am härtesten getroffen werden jeweils die Schlechtverdienenden, welche auf staatliche Leistungen und Angebote angewiesen sind.
Die Kantone Luzern, Baselland und Aargau sind Beispiele, welche die Strategie der Bürgerlichen besonders deutlich aufzeigen, da dort in den letzten Jahren eine regelrechte Kürzungsschlacht durchgeführt wurde. Es ist daher auch kein Zufall, dass sich in diesen Kantonen Widerstand formiert hat. In Luzern und Baselland gab es Proteste der SchülerInnen gegen die Angriffe, im Aargau gab es im November eine Demonstration von Lehrpersonen und Angestellten des Öffentlichen Dienstes mit 8000 Teilnehmenden. Aber auch in andern Kantonen wie Genf, Zürich, St. Gallen, Schaffhausen und weiteren wird gespart und infolgedessen organisiert sich Widerstand.
Neben Demonstrationen wird vor allem versucht, Sparpakete mit Referenden zu bekämpfen. Die Erfahrungen aus dem Aargau, Schaffhausen und neu jetzt auch Zug zeigen jedoch, dass obwohl ein solches Referendum gewonnen werden kann, die Bürgerlichen sofort neue Sparmassnahmen durchführen. Das Referendumsrecht entpuppt sich deshalb oft als ein machtloses Mittel. Der Widerstand gegen die Sparmassnahmen zeigen jedoch auf, dass diese Frage grosses Potential hat eine breite Bewegung gegen die bürgerliche Krisenpolitik zu mobilisieren. Dies erfordert jedoch die Verallgemeinerung der einzelnen Kämpfe in den Kantonen und die konsequente Intervention der SP und der Gewerkschaften. Es darf nicht nur darum gehen die nötigen Unterschriften zu sammeln und Stimmen zu gewinnen. Die Empörung der Bevölkerung muss dazu genutzt werden eine aktive Bewegung aufzubauen, welche im Personal der öffentlichen Angestellten verankert ist und Aktivistinnen nachhaltig organisieren kann. Dies geschieht jedoch kaum. Die Gewerkschaften mobilisieren lediglich dann, wenn ihre eigene Klientel direkt von den Sparmassnahmen betroffen ist. Die SP ist durch die Regierungsbeteiligung oft selber an der Ausarbeitung der Sparpakete beteiligt und nimmt auch in den Parlamenten nicht immer eine konsequente oppositionelle Haltung ein. Grundsätzlich spielt die SP in diesem Zusammenhang ein doppeltes Spiel, das direkt aus dem Widerspruch ihrer staatstragenden Rolle und den Interessen ihrer Wählerbasis entsteht.
Im Frühling 2016 verkündete die SP-Führung einen Kurswechsel und den Gang in die Opposition. Dieser Schritt ist klar eine Folge der oben beschriebenen politischen Grosswetterlage im Allgemeinen und der neuen Kräfteverhältnisse im Parlament im Besonderen. Die Ankündigung allein bedeutet jedoch noch keine fundamentale Veränderung der Partei und ihrer Rolle im Staat. Dazu muss die Phrase mit realem Inhalt gefüllt und in die Praxis übertragen werden.
Eine konsequente Oppositionspolitik müsste die Parlamentsarbeit radikal umkrempeln. Die Entscheidung zur Opposition der SP beruht auf der Analyse, dass man mit der braven kompromissbereiten Parlamentsarbeit keine sozialen Verbesserungen mehr herausholen kann. Nicht einmal die bestehen Errungenschaften können wirklich verteidigt werden, was die Sparpakete im ganzen Land aufzeigen. Diese Analyse manifestiert sich jedoch nicht in einem radikalen Kurswechsel der Partei, sondern führt zu einem widersprüchlichen Kurs, der sich immer wieder zu internen Konflikten zuspitzt. Auch das Aufsteigen der ehemaligen JUSO-Führung rund um Cedric Wermuth innerhalb der SP führt dazu, dass sich die Fronten in der Partei verschärfen. Dabei wirken aber nicht nur die jungen ExponentInnen auf die Partei ein, sondern umgekehrt führt ihre Integration auch zu einer Mässigung ihrer Positionen. Allgemein gesagt, wiederspiegeln solche Konfliktherde das Aufeinanderprallen der neuen objektiven Bedingungen der kapitalistischen Krise auf die jahrelange reformistische Praxis der Partei und die Beteiligung der SP in den Exekutiven auf allen Ebenen.
Um diese Altlasten zu überwinden, braucht es sowohl eine inhaltliche Neuausrichtung, wie auch eine strategische Neuorientierung. Die Partei muss die Überwindung des Kapitalismus als unmittelbares Ziel formulieren und ihre Praxis dahingehend ausrichten. Dazu muss ein konkretes Programm gegen die Krise ausgearbeitet und die schädliche Beteiligung an der Umsetzung der bürgerlichen Krisenpolitik sofort beendet werden. Die Forderung nach demokratischer Kontrolle der Exekutivpolitiker durch die Partei kann dabei ein erster Schritt sein. Wir dürfen uns jedoch keinen Illusionen hingeben, dass diese (bürgerlichen) Exponenten der Partei sich der Parteidemokratie unterwerfen werden. Ein Ende der Regierungsbeteiligung wird daher nicht zu umgehen sein. Die SP darf sich vor diesem Schritt nicht fürchten, will sie eine ernstzunehmende Opposition aufbauen. Um eine starke gesellschaftliche Kraft zu werden, muss die SP sich in Betrieben, Schulen, und Quartieren verankern, indem sie rund um ein Krisenprogramm aktive Widerstandsgruppen aufbaut
Unsere Vorschläge für die Oppositionspolitik der SP sind keinesfalls einfach aus der Luft gegriffen, sondern leiten sich aus den realen Widersprüchen in der Partei, aber auch der Gesellschaft als Ganzes, ab. Daher sehen wir auch, wie diese innerparteilichen Konflikten immer wieder neu entflammen. Es ist kein Zufall, dass die Wahl von Donald Trump zu einem erneuten Aufflammen dieser Konflikte in Form von Diskussionen rund um das Wirtschaftspapier geführt hat. Spannend ist, dass die drei Punkte zur Oppositionspolitik, die wir oben aufgeworfen haben, allesamt in dieser Auseinandersetzung mitschwingen. So geht es primär um eine programmatische Diskussion zur Wirtschaftspolitik, bei welcher sich der ideologische Graben zwischen LinksreformistInnen und Sozialliberalen offenbart. Gleichzeitig ist die heftige Reaktion des rechten Flügels auch ein Versuch, ihre eigene (bürgerliche) Politik unter dem Banner der Meinungsvielfalt vor der Partei zu legitimieren. Der rechte Flügel fuhr am Parteitag eine Niederlage ein, was die Kräfteverhältnisse in der Partei wiederspiegeln. Gleichzeitig wurden aber alle Versuche der Juso, radikalere Positionen zu verabschieden, von einer knappen Parteitagmehrheit abgelehnt.
Wenn wir den Bogen schlagen zur allgemeinen Entwicklung der Krise und den Veränderungen, die diese auf das Bewusstsein der Lohnabhängigen hat, zeichnet sich ein Bild äusserster Dringlichkeit ab: Entweder akzeptiert die SP die realen Bedingungen der neuen Epoche, welche geprägt sein werden durch eine Zuspitzung der Klassenkämpfe und positioniert sich dementsprechend, oder sie wird zusammen mit der Sozialpartnerschaft und der Kompromisspolitik untergehen und sich an den inneren Widersprüchen spalten. Dieser Tatsache wurde von einigen SP-Exponenten, wie beispielsweise Corrado Pardini, bereits erkannt, drückt sich bislang jedoch nur in einem sporadischen Aufflammen der Konflikte aus. Gerade das Beispiel zeigt, dass diese Konflikte jeweils von beiden Seiten genutzt werden, um sich zu profilieren und das eigene Klientel zu bewirtschaften. Keine der beiden Seiten sind allerdings bereit, den Konflikt konsequent auszutragen und begraben das Kriegsbeil jeweils nach kurzer Zeit. So gehen dann auch die Bestrebungen des linken Flügels in der Praxis nie über die Forderung nach einem leichten Linksrutsch hinaus. Solange der Konflikt jeweils nur an abstrakten Diskussionen entflammt, wird dies auch so weitergehen.
In der momentanen Situation zeichnet sich daher kein fundamentaler Richtungswechsel innerhalb der Partei ab. Die objektiven Entwicklungen sind nicht abhängig von der Politik der SP, die SP hätte jedoch die Möglichkeit, diese entscheidend mitzuprägen. Schafft die Partei es nicht, sich als glaubwürdige Opposition zum Status Quo zu präsentieren, wird die Unzufriedenheit der Lohnabhängigen sich unweigerlich ein anderes, diffuseres Ventil suchen. Dies verschafft in erster Linie den Rechtspopulisten Zulauf, in Zukunft wäre auch eine Radikalisierung links der SP denkbar. Eine SP mit einem sozialistischen Programm und realer Kampfkraft könnte unter diesen Bedingungen jedoch eine gewaltige Rolle im Kampf gegen den Kapitalismus spielen. Wie wir sehen, wird die Frage, wohin sich die SP entwickelt, eine entscheidende Rolle in der Entwicklung des Klassenkampfes in der Schweiz spielen. Der JUSO als radikalster Flügel der Partei kommt hier eine grosse Verantwortung zu Teil.
Wir haben immer wieder betont, dass die JUSO der wichtigste Anziehungspunkt der sich radikalisierenden Jugend in der Deutschschweiz ist. Ihre radikalen Positionen haben sie zur stärksten Jungpartei der Schweiz werden lassen. Dies zeigt einerseits das Potential sozialistischer Ideen in der Schweiz auf, andererseits aber auch die Auswirkungen der kapitalistischen Krise auf die Linke. Denn die JUSO versucht auch seit ihrer Gründung immer wieder politisch auf ihre Mutterpartei Einfluss zu nehmen. Wir haben oben geschrieben, dass die JUSO der radikalste Flügel der SP ist und somit ein wichtiger Faktor in der zukünftigen Entwicklung der Partei spielen wird. Bislang gab es jedoch kaum eine koordinierte Intervention der gesamten JUSO zur fundamentalen Veränderung der SP. Vielmehr setzt sich diese Einflussnahme aus Partikularinteressen der einzelnen JUSO-ExponentInnen und Provokationen für Schlagzeilen zusammen.
Um die SP jedoch zu einer Kampfpartei der ArbeiterInnenklasse zu machen, braucht es deutlich mehr. Die Interventionen in der Partei müssen sich aus dem Parteiprogramm der JUSO ableiten und demokratisch in der Partei vorbereitet werden. Die JUSO soll nicht bloss in Sachfragen ihre Meinung kundtun, sondern der Partei einen vollumfänglichen Richtungswechsel unterbreiten. Dazu gehört auch, in den Parlamenten eine sozialistische Herangehensweise vorzuleben. Dazu muss die JUSO ihre ParlamentarierInnen, welchen sie mit viel Aufwand zur Wahl verholfen hat, auch unter Kontrolle haben. Bis jetzt ist die JUSO meistens bloss das Karrieresprungbrett und gewählte Parlamentarier verschwinden sofort in der SP.
Die Hauptaufgabe der JUSO liegt jedoch im Aufbau ihrer eigenen Strukturen. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die JUSO durch ihr radikales Auftreten gewaltig an Stärke zulegen konnte. Ihre eher schwache Vertretung in der Romandie und der italienischen Schweiz zeigen jedoch, dass dies kein Automatismus ist. Wir haben in unseren Beiträgen immer wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass vor allem die Verankerung an Schulen, Universitäten und unter den Lernenden der wichtigste Schritt ist, den die Jungpartei gehen muss. Initiativen, Kampagnen und Aktionen sollten sich diesem strategischen Ziel unterordnen und darauf zugeschnitten werden. Dies wurde jedoch bis jetzt kaum umgesetzt. Das wiederum führt zu einem versprengten Aufbau und einer unkoordinierten Schlagkraft. Gegen den Durchlauf muss mehr Bildung und Anbindung an den Kampf für den Sozialismus betrieben werden.
Die weiter oben beschriebenen widersprüchlichen Prozesse der Radikalisierung können auch auf die Jugend bezogen werden, wo sie zumeist am stärksten zum Ausdruck kommen. Diese Radikalisierungsprozesse muss die JUSO bewusst aufgreifen und dort intervenieren, wo sie entstehen. Tut sie dies nicht, werden sich die Prozesse ausserhalb der JUSO abspielen. Der Kampf gegen die Sparmassnahmen in der Bildung im Kanton Zürich zeigt dies deutlich. Die JUSO hat dort die Aufbauarbeit an den Schulen den linken Kleingruppen überlassen und den Kampf nur halbherzig unterstützt. Die erfolgreiche Mobilisierung im September und die Existenz von Schülergruppen an diversen Schulen zeigen jedoch das Potential deutlich auf. Natürlich ist die engagierte Intervention linker Gruppierungen begrüssenswert, jedoch könnte die JUSO einer solchen Bewegung einen viel breiteren Ausdruck verleihen und ein wirkliche, schweizweite Front gegen die Abbaumassnahmen aufbauen; linke Kleingruppierungen haben dazu schlicht die Grösse nicht.
Die JUSO als Partei hat politisch einen enormen Reifungsprozess hinter sich. Einerseits hat sie sich deutlich nach links entwickelt, andererseits ist, unter anderem durch die kontinuierliche Intervention der marxistischen Strömung, viel mehr ideologische Klarheit vorhanden als noch vor einigen Jahren. Natürlich steht dieser Prozess noch ganz am Anfang und der Kampf gegen den Reformismus muss weitergeführt werden. Dieser Prozess kann sich jedoch nicht bloss in losgelösten theoretischen Diskussionen abspielen, sondern muss einhergehen mit einer kämpferischen Praxis und dem Aufbau aktiver Parteistrukturen.
Um eine solche Entwicklung voranzutreiben ist es entscheidend, das Bewusstsein für die Verteidigung eines politischen Programmes zu stärken. Die JUSO soll nicht die Organisation sein, welche nur für ihren „radikaleren Parlamentarismus“ bekannt ist. Sie muss DIE revolutionäre Organisation der sich radikalisierenden Jugend sein, eine Partei, die sich traut, bei allen wichtigen Themen einen Klassenstandpunkt zu vertreten.
Der Aufbau dieser Kraft ist, was die marxistische Strömung der Funke/L’étincelle als die dringendste Aufgabe ansieht. Aus dem im ganzen Dokument dargelegten ergeben sich drei wichtige Aktionsfelder: 1) den Kampf gegen die Sparmassnahmen, 2) der Aufbau von Schulgruppen, 3) die Verteidigung des Internationalismus. Dies muss der Kern des Aktionsprogramms sein, um die bevorstehenden Kämpfe aktiv führen zu können.
Die weltweite Krise des Kapitalismus ist in der Schweiz vor allem indirekt spürbar. Dies ist die hauptsächliche Folge der imperialistischen Position der Schweiz in der internationalen Arbeitsteilung. Trotzdem zeigen sich die ersten Spuren der Krise. Zuerst direkt im exportorientierten Sektor, tendenziell aber auch im steigenden Druck auf die Arbeitsbedingungen in der ganzen Privatwirtschaft, und indirekt durch die Orgie von Sparmassnahmen, welche ein klares Symptom der Krise sind. Durch die Steuersenkungen bekommen die Schweizer Unternehmen eine bessere Position gegenüber der internationalen Konkurrenz.
Der Widerstand gegen die Sparmassnahmen und der Kampf für die Verteidigung der Arbeitsbedingungen und der Leistungen des Öffentlichen Dienstes drückt sich sofort auch im Politischen aus. Einerseits, weil die Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes zunehmend gezwungen sind, grossflächig zu mobilisieren. Ein Meilenstein in der Deutschschweiz war die Mobilisierung der Lehrpersonen im Aargau, welche zum Teil mit ihren (Primar-) Klassen und gegen das ausdrückliche Verbot der Schulaufsicht demonstrieren gingen. In der Romandie (beispielsweise die Lehrpersonen in Neuchâtel) werden mehrtägige Streiks zahlreicher. Andererseits, weil diese Kämpfe die politischen Positionen aller Parteien – aber auch die Machtlosigkeit der Linken – klar auf den Tisch bringen. Wie am Beispiel von Zürich aufgezeigt, hat dieser Prozess einen direkten Einfluss auf das Bewusstsein der SchülerInnen. Wir behaupten nicht, dass es heute zu landesweiten Universitätsstreiks kommen wird, wie dies im Frühling in Frankreich der Fall war. Doch auch in der Schweiz gibt es eine Schicht von bewussten SchülerInnen, Lernenden, StudentInnen und Angestellten die den Gang der Geschichte beobachten und daraus politische Schlüsse ziehen. In der nächsten Periode gilt es, diese Bewegungen tatkräftig zu begleiten.
Doch gerade in den massiven Protestbewegungen wird das Ausbleiben einer angemessenen politischen Führung offenbart. Viele dieser Bewegungen können nur kleinste Siege erkämpfen, meistens werden die Sparmassnahmen trotzdem weitergeführt. Die Gewerkschaftsführung hat dafür keine Erklärung. Dies trägt ein Risiko, denn Streiken für Nichts kann auch eine sehr demoralisierende Wirkung haben. Deshalb gilt es heute eine neue Schicht von politischen AktivistInnen aufzubauen, welche die zukünftigen Kämpfe leiten und mit der korrekten politischen Strategie die Bewegung weiterbringen können.
Angesichts der Entwicklung der kapitalistischen Krise mit all ihren Auswirkungen auf die politischen und sozialen Prozesse ist der Aufbau einer revolutionären Organisation die dringlichste Aufgabe, die sich allen revolutionären SozialistInnen heute stellt. Alle Altlasten der vergangenen Periode müssen energisch abgeschüttelt werden und der Blick in die Zukunft gerichtet werden. Der Bankrott des kapitalistischen Systems offenbart sich vor den Augen der gesamten Welt. Es liegt an uns, eine Alternative zu präsentieren.
Verabschiedet vom Kongress der Funke-Strömung vom Februar 2017
Arbeiterbewegung — von Martin Kohler, Bern — 10. 10. 2024
Nah-Ost — von Revolutionäre Kommunistische Internationale (RKI) — 09. 10. 2024
Imperialismus, Kolonialismus & Nationale Frage — von Jorge Martín, April 2024 — 03. 10. 2024