Die Arbeiterklasse tritt weltweit in Aktion. Auch die Schweiz ist in die neue, stürmische Periode der Arbeitskämpfe eingetreten: TPG und öffentlicher Dienst in Genf, Bauarbeiter, Swiss-Piloten und Swissport-Angestellte. Was wir sehen, sind erst die Vorbeben.
Ein toxischer Mix braut sich in der Wirtschaft zusammen: eskalierender Ukraine-Krieg, anhaltende Inflation, Energiekrise, neue US-Sanktionen gegen China und jetzt ein neuer Wirtschaftseinbruch. Die Richtung ist eindeutig: Das System schlittert immer tiefer in die Krise.
Das erhöht den Druck auf die Kapitalisten. Profite, Absatzmärkte und Rohstoffe müssen in der sich zuspitzenden Konkurrenz verteidigt werden. Das ist die tiefer liegende Ursache für zunehmende Spannungen zwischen imperialistischen Mächten, härtere Handelskonflikte und vermehrte Kriege.
Der einfachste Weg, wie alle Kapitalisten ihre Konkurrenzfähigkeit verbessern? Angriffe auf die Arbeiterklasse! Weltweit sind die Arbeiter mit einer aggressiven Politik von höheren Preisen und Angriffen konfrontiert.
Doch die Situation ist nicht für alle angespannt. Die grossen Konzerne baden im Gewinn: Nestlé meldet einen Rekordumsatz, weil sie im ersten Halbjahr die Preise um 7.5 % angehoben haben. Die EMS-Chemie der Blocher-Dynastie macht ebenfalls Rekordumsätze, weil sie durchs Band ihre Preise anheben. Die grossen Konzerne nutzen ihre Monopolstellung und verteidigen ihre Profite auf Kosten aller anderen.
Kapitalismus ist unbegrenzte Anhäufung von Reichtum an einem Pol und schmerzhafte Massenarmut am anderen. Während die Arbeiterklasse den grössten Schock ihrer Kaufkraft seit 50 Jahren erlebt, frohlocken die Kapitalisten im Geldregen!
Die Inflation heizt die soziale Stimmung an. In Grossbritannien übersteigt sie die 10%-Marke. Viele Lohnabhängige stehen mit dem Rücken zur Wand. Sie werden gezwungen, dieser aggressiven Strategie von Oben ihren kollektiven Widerstand entgegenzusetzen. Die Arbeiterklasse erwacht aus 40 Jahren Dornröschenschlaf.
Der Prozess in der Schweiz geht in die gleiche Richtung – wenn auch nicht mit der gleichen Geschwindigkeit. «Droht der Schweiz eine Streikwelle?», fragt «20 Minuten». Buss- und Tramchauffeure und die kantonalen Angestellten in Genf, Bauarbeiter in der ganzen Schweiz, die Piloten der Swiss und das Bodenpersonal von Swissport kämpfen. «Selten gab es so viele Streikdrohungen bei grossen Firmen wie dieses Jahr», schreibt «20 Minuten».
Die Inflation und der gnadenlose Null-Konzessionen-Kurs der Herrschenden bringt einen grossen Teil der Schweizer Arbeiterklasse an die Grenzen des Zumutbaren. Doch Schuld daran ist nicht ausschliesslich die aktuelle Inflation. «Während das oberste Prozent der Kader seit den 90er-Jahren Lohnsteigerungen von 40 Prozent erlebte und die nächst oberen 10 Prozent noch Steigerungen von 20 Prozent hatten, ist der Wert des Reallohns der restlichen 89 Prozent der Arbeitnehmenden stagniert oder gar gesunken», erklärt die oberste Gewerkschafterin des VPOD, Katharina Prelicz-Huber. Jahrzehnte von Sparmassnahmen, Personalabbau und Erhöhung des Arbeitsdrucks im öffentlichen und im privaten Sektor legen die Nerven blank.
Dass Piloten und Bodenpersonal mit Streiks drohen und die Belegschaft der Genfer Transportbetriebe (TPG) die Drohung wahr gemacht hat, ist in erster Linie als Gradmesser der Wut zu verstehen, welche sich in grossen Schichten der Arbeiterklasse angesammelt hat. 47% bejahen im 20 Minuten-Artikel die Frage «Braucht es einen Generalstreik?». Es ist ein Zeichen der Zeit, dass der auch-so-verpönte Streik in der Schweiz in die Schlagzeilen kommt. Der Arbeiterklasse wird immer stärker bewusst, dass sie ihn braucht!
Zahlreiche Funke-Aktivisten besuchten die frühmorgendlichen Streikposten in Genf. Die Streikenden berichteten mit verschiedenen Beispielen von der gleichen Situation: Die Belegschaft wird seit Jahrzehnten reduziert, Ruhezeiten gestrichen, der Lohn stagniert. «Wir leben in ständiger Angst vor einem Sekundenschlaf!», erklärten sie uns. «Die Bedingungen sind bereits gefährlich. Wir wollen nicht für einen Unfall verantwortlich sein, nur weil uns der Schichtplan den Schlaf raubt!». Die allgemeine Unzufriedenheit kristallisierte sich an der Forderung nach einer Covid-Prämie und der Frage der Indexierung des Lohns. In Wut und Forderung hat ihr Kampf Signalwirkung für die gesamte, sich abrackernde Arbeiterklasse.
Die Geschäftsleitung der Verkehrsbetriebe (TPG) erklärte der Belegschaft unumwunden, dass sie für die Krise bezahlen müsse. Wegen des Pandemie-bedingten Defizits müsse jetzt beim Personal gespart werden. Die vertraglich zugesicherte Lohnindexierung würde gestrichen. Die Belegschaft müsse sich zwischen Indexierung und Prämie entscheiden. Doch diese blieb standhaft und stimmte für den Streik.
Die Geschäftsleitung antwortete mit Druck, Spaltung und Streikbrechern. Dutzende Busse wurden buchstäblich in der Stadt versteckt und bewacht, damit sie nicht in den Depots blockiert werden konnten. Junge Kollegen wurden zum Streikbruch überredet. Doch die Solidarität während des Streiks erreichte auch die isolierten Streikbrecher. Viele schlossen sich nach ihrer – viel zu langen und deshalb gefährlichen – Schicht trotzdem dem Streik an. Am Abend wollte die Gewerkschaftsführung den Streik auf unbestimmte Zeit vertagen. Doch einige kämpferische Chauffeure forderten, dass der Streik am nächsten Tag weitergehen soll. Die Einheit der Belegschaft gab ihnen Mut und machte sie kämpferisch. Der Vorschlag kam durch. Und bereits am Mittag des zweiten Streiktages hatte die Geschäftsleitung allen Forderungen nachgegeben. Die Streikenden hatten ihr Ziel erreicht!
Die Erfahrung der Genfer Chauffeure ist eine Inspiration für die ganze Klasse. Sie beweist: Nur wer kämpft, kann gewinnen! Dazu kommt, dass jeder Streik einen tiefen Eindruck im Bewusstsein der Belegschaft hinterlässt. Im Kampf werden alte Vorurteile abgelegt und ersetzt durch ein klareres Verständnis der Klassengegensätze im Kapitalismus.
Das tatsächliche Resultat müssen wir jedoch nüchtern betrachten. 1.5 % Lohnerhöhung liegt weit unter der Inflation. Die Streikenden müssen trotz Teilsieg eine Reallohnsenkung hinnehmen. Das Gleiche gilt, in unterschiedlichem Grade, für die Piloten der Swiss und das Personal von Swissport: Trotz Streikdrohung haben sich ihre Bedingungen im Vergleich zu vor der Pandemie verschlechtert.
Das bestätigt die internationale Entwicklung. Die Krise wird konsequent auf dem Rücken der ArbeiterInnen ausgebadet. Um die eigenen enormen Profite zu garantieren, greifen die Kapitalisten die ArbeiterInnen rücksichtslos an. So weit, dass sich Millionen Menschen diesen Winter in Westeuropa, einer der reichsten Regionen der Welt, zwischen Essen und Heizen entscheiden müssen!
Gewisse Verbesserungen sind auch in der Krise des Kapitalismus möglich. Ist der Druck hoch genug, sind die Kapitalisten zu Konzessionen gezwungen. Das Personal von EasyJet erhielt im Sommer nach ihrer Streikdrohung 4.5 % Lohnerhöhung und eine Prämie. Die Krise ist jedoch so tief, dass jede Verbesserung entweder wieder aufgefressen oder von den Bossen so schnell es geht wieder rückgängig gemacht oder umgangen wird.
Das Resultat davon ist die Einrichtung von geheizten Turnhallen in Deutschland, als Reaktion auf «Energiearmut» oder die Verbreitung von Unterernährung bei Kindern in Grossbritannien. Beides sind zynische Erscheinungen, die heute keinerlei «technische» Gründe haben. Weltweit herrscht kein Mangel, weder an Energieträgern, noch an Nahrungsmitteln. Die kapitalistischen Verhältnisse, das Privateigentum an den Produktionsmitteln, das Profitmotiv und die Nationalstaaten verhindern den rationellen Einsatz des enormen Potentials, welches die Menschheit besitzt. Es ist eine Tatsache, dass keines der Probleme der Lohnabhängigen im Kapitalismus langfristig gelöst werden kann.
Seine Überwindung ist eine objektive Notwendigkeit – nur schon, um einen minimalen Lebensstandard zu verteidigen. Dazu muss die Arbeiterklasse die Macht ergreifen. Die Kapitalisten müssen enteignet werden. Nur eine sozialistische Planwirtschaft ermöglicht heute einen Ausweg aus der Sackgasse und den Fortschritt der Menschheit. Das ist der springende Punkt unserer Zeit.
In Wahrheit existiert die starre Abtrennung zwischen den aktuellen Kämpfen und dem Kampf für die Revolution nicht. Wer diese trennt, erkennt die Kämpfe nicht als notwendige Schritte im Kampf der Arbeiterklasse für ihre eigene Emanzipation, sondern als unendliche Abfolge von vergeblichen Opfern. Die Kämpfe bekommen nur Sinn und Zweck, wenn man den grösseren Zusammenhang sieht. Nur dann ist man fähig, die einzelnen Kämpfe erfolgreich zu führen.
Dass Verbesserungen nur durch einen bewusst geführten Klassenkampf gegen die Kapitalisten zu erreichen sind, ist für die Lohnabhängige nicht «zu weit weg vom Bewusstsein». Es entspricht ihrer täglichen Erfahrung. Für zahlreiche Busfahrer der TPG, mit denen wir gesprochen haben, ist es «völlig klar, dass wir für die steigenden Profite der Reichen geopfert werden». Welche Schlussfolgerung man aus dieser Feststellung zieht, hat einen grossen Einfluss darauf, wie man für den Streik argumentiert. Gerade mit den Streikenden des kantonalen Personals endete jede Diskussion bei der Frage, wie man die KollegInnen vom Streik überzeugt. Sie sind oft alleine da, weil sie die kämpferischen Elemente ihrer Abteilung sind. Sie brauchen Argumente für die immer wiederkehrende Diskussion: Wer bezahlt für Verbesserungen? Diese Frage wurde in keiner Vollversammlung offen diskutiert. Und wenn, dann bleibt es bei rein moralischen Appellen. Die Gewerkschaft TPG-SEV erklärt z.B., dass man den «Parlamentariern die Wichtigkeit des kompletten Inflationsausgleichs erklären müsse». Als wäre es eine Frage der Argumente!
Was die Arbeiterklasse für erfolgreiche Kämpfe braucht, ist ein klares Verständnis über den Charakter der aktuellen Periode und über den einzigen Ausweg aus der Krise: den Sozialismus. Deswegen braucht die Arbeiterklasse eine Führung von bewussten und gut ausgebildeten revolutionären MarxistInnen.
Die ArbeiterInnen machen in ihren Kämpfen ihre eigenen Erfahrungen. Die Erfahrung des Streiktages liess die TPG-Chauffeure die korrekte Schlussfolgerung ziehen: Der Kampf muss verlängert werden. Das setzten sie gegen die eigene reformistische Führung durch. Die Erfahrung des aktiv geführten Streiks gab ihnen dazu den Mut. Wir stehen erst am Beginn einer Verschärfung des Klassenkampfes. Die kommenden Kämpfe werden das Bewusstsein der ArbeiterInnen schärfen. Sie werden nach und nach zum Schluss kommen, dass für wirkliche Verbesserungen mit dem gesamten kapitalistischen System gebrochen werden muss. Aber ohne eine Führung, die durch das Studium der marxistischen Theorie und der Geschichte der Klassenkämpfe bereits die Einsicht in diese Bewegungen erlangt hat, ist dieser Prozess sehr langsam und zäh. Langsamer, als es sich die Arbeiterklasse in Anbetracht der sozialen Krise leisten kann!
Eine marxistische Führung hilft den Streikenden, aus ihren korrekten Betrachtungen die notwendigen politischen Schlussfolgerungen ziehen. Sie würde aufzeigen, dass Parlament und Regierung nicht neutrale Instanzen sind, sondern Institutionen der Kapitalisten zur Verteidigung ihrer – ökonomischen – Interessen! Dieses Verständnis beeinflusst direkt, wie man den Kampf organisiert. Es muss erklärt werden, dass nicht die Argumente, sondern der Druck des Streiks entscheidet. Jeder Konflikt muss so geführt werden, dass er erstens den Organisationsgrad der Arbeiterklasse erhöht. Und zweitens, das Klassenbewusstsein der Kämpfenden stärkt. Wenn die verschiedenen Kämpfe so als bewusste Teilkämpfe des Prozesses zur Revolution geführt werden, wird jeder Kampf die Arbeiterklasse für weitere Kämpfe stärken. Sogar wenn es zu Niederlagen kommt.
Dieser Herbst beweist, wie schnell der Druck von unten zunimmt. Sogar für besser bezahlte Sektoren, wie jener der Piloten, ist ein weiter-wie-bisher keine Option! In der kommenden Periode wird der Druck auf die Lohnabhängigen unerlässlich zunehmen. Eine soziale Explosion wird auch hier vorbereitet. Die Reformisten können diesen Prozess nicht aufhalten. Im Gegenteil, ihre Niederlagen erhöhen den angestauten Frust. Irgendwann wird Sektor für Sektor in den Kampf treten. Die Streikwelle in England zeigt die Richtung, in die es auch hier geht. Die Schweizer «Streikwelle» beweist, dass dieser Prozess auch hier begonnen hat.
Die Arbeiterklasse braucht eine Arbeiterpartei mit einem sozialistischen Programm und den Methoden des revolutionären Klassenkampfes. Deshalb ist der Aufbau eines Kerns von marxistischen Revolutionären heute unsere dringendste Aufgabe.
Die Redaktion, Der Funke
03.11.2022
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
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