Der Schriftsteller Franz Kafka ist zwar seit 100 Jahren tot, liegt heute in der Jugend aber voll im Trend. Auf TikTok haben Memes der Kakerlake aus seinem berühmtesten Werk «Die Verwandlung» hunderttausende Aufrufe und Likes. Auch Kafka-Videos von «booktokern» (Influencer, die Bücher erklären) boomen. Was steckt dahinter?

Vom Handelsmann zur Kakerlake

In «Die Verwandlung» beschreibt Kafka den Handelsmann Gregor Samsa. Anfangs hatte dieser viele Aufträge, zuletzt blieb der Erfolg jedoch aus. Eines Morgens wacht Gregor in eine Kakerlake verwandelt auf. Seine ersten Gedanken kreisen um seinen Chef. Er kann es unmöglich pünktlich zur Arbeit schaffen. Der Zorn des Chefs ist unvermeidbar und unerträglich zugleich. An diesem Widerspruch nagt er so fest, dass ihm letztlich die Kraft zum Aufstehen fehlt. Wer kennt das nicht? Der Kapitalismus raubt uns die Freude am Leben und die Kraft zum Aufstehen. 

Wenn ich nicht mehr fähig zu dem bin, was das System von mir verlangt, muss ich wohl kein Mensch mehr sein: Das ist die Logik von Gregors Verwandlung. Tragischerweise versteht Gregor nicht, dass nicht er, sondern das System unmenschlich ist. Er sieht sich als Quelle des Problems, was der Geschichte ihre Traurigkeit verleiht. Verstärkt wird das durch das Stilmittel der erlebten Rede, durch das man ständig in Gregors Kopf drin ist. 

Arbeitsunfähig und abgestossen

Mit der Verwandlung beginnt eine Abwärtsspirale, in der sich Gregor zunehmend vom Menschsein entfernt. Da er nicht mehr arbeiten kann, fühlt er sich unnütz. Eine bittere Realität im Kapitalismus: Wer keinen Mehrwert schaffen kann, hat für die Kapitalisten keinen Nutzen. Ohne sein Einkommen muss die Familie selbst den Lebensunterhalt verdienen. Gregor ist nur noch eine Last. 

Er versucht sich zu erklären, aber niemand versteht ihn. Seine Familie wendet sich gegen ihn. Seine Schwester, der er am nächsten war, ignoriert ihn zunehmend. Von jeglichen Beziehungen abgeschnitten, verliert er alle restlichen menschlichen Züge und nur die leblose Kakerlake bleibt zurück. Wieder, wer kennt das nicht? Die Bedingungen verunmöglichen gesunde Beziehungen, was in tiefe psychische Abgründe führen kann.

Unsere fremde Welt

In der Literatur haben sich schon viele Prinzessinnen und Könige in Tiere verwandelt. Aber bei Kafka ist dies kein Produkt unerklärbarer Magie, sondern der realen Verhältnisse. Wir sind es, die die Gesellschaft tagtäglich am Laufen halten, aber irgendwie bewegt sie sich in die falsche Richtung. Das liegt daran, dass die Gesetze des Kapitalismus die Richtung bestimmen und nicht wir. 

Von Marka, inspiriert von Kafkas „Der Mann am Tisch“.

Das nennt sich auch Entfremdung. Dinge, die eigentlich zusammengehören und eine Einheit bilden, werden getrennt. Unsere Beziehung zur Arbeit und zu unseren Mitmenschen wird wie durch einen unsichtbaren Keil abgeschnitten. Zurück bleibt kein ganzer Mensch mehr, sondern eben nur noch eine Kakerlake. Das spitzt sich in Krisenzeiten wie heute zu. Darum ist der Kafka-Boom in der Jugend kein Zufall. 

«Wie es sich anfühlt, an einem Ort stecken zu bleiben und nicht weiter zu kommen, das kenne ich aus meinem Alltag», sagt eine Schülerin auf SRF zum Thema Kafka. «Die Verwandlung» offenbart wahrer als jede Statistik, wie es ist, im Kapitalismus zu leben. Man erkennt sich wieder in Gregor. 

Kampf den wahren Parasiten

Eine ganze Generation in der Jugend identifiziert sich mit einer verkümmernden Kakerlake. Das ist ein kultureller Ausdruck der heutigen Ausweglosigkeit in diesem Krisensystem. Alleine bist du machtlos. Ausgeliefert. Kafka betont diese negative Seite der Entfremdung stark und lässt seine Figuren an ihr zugrunde gehen. 

Aber Kafka benennt auch das Problem: der zornige Chef, die Schulden der Familie usw. Hinter der Entfremdung steht ein System als Ursache. Darin steckt die positive Seite des Kafka-Booms: Hunderttausende Jugendliche spüren, dass wir wegen ihrem System keine Kontrolle über unser Leben haben und kaputt gehen. Die wahren Parasiten müssen weg, damit wir uns nicht mehr wie Kakerlaken fühlen. 


Depressionen in meiner Familie: wie ein Psychothriller


Psychische Krankheiten explodieren. In der Jugend haben sie sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt (IV-Statistik Mai 2024, BSV). Auch in meiner Familie. Mein Bruder (16) ist depressiv und ich (18) leide an wiederkehrenden depressiven und hypomanischen Episoden. Wir beide brauchen Therapie. Er, weil er sich akut selbst gefährden könnte. Ich, weil ich eine Diagnose benötige, um die Episoden zu behandeln. 

Meine Eltern erklärten mir, dass sie unmöglich zwei Therapien bezahlen können. Zuerst schien mir das wie das Normalste auf Erden. Doch nach längerem Überlegen und Diskutieren mit Genossen wurde mir klar, vor was für eine barbarische und dystopische Entscheidung meine Eltern gestellt werden. Es ist wie ein Psychothriller, in dem man gezwungen wird, eine Person, die man lieb hat, zu ermorden, damit die andere leben kann. Ich war wütend wie noch nie. 

Ich kann meinen Bruder nicht vor Depressionen und sich selbst schützen. Zuerst fühlte ich mich ohnmächtig. Doch es stimmt nicht, dass ich machtlos bin. Die herrschende Klasse ist schuld an der Ausweglosigkeit, an der Armut und am Kaputtsparen in diesem System. Indem ich mich für die Revolution einsetze, kämpfe ich auch für meine Familie. Für eine Welt frei von finanzieller und menschlicher Not.

Cécile, Region Bern