Besuch des Theaterstücks «Frühlings Erwachen»

Ich sitze im Stadttheater Bern. Die zehn jungen Schauspieler auf der Bühne spielen eine neue Inszenierung von Wedekinds «Frühlings Erwachen» (1891). Das Drama handelt vom Erwachsenwerden im Kapitalismus. Auf der einen Seite stehen Sexualität und Pubertät. Auf der anderen die grossen Drücke des Systems, die das Leben bestimmen. Das Besondere an der Inszenierung: Die jugendlichen Schauspieler (15- bis 19-jährig) durften inhaltlich mitentscheiden. 

Guillaume, einer der Jugendlichen, leitet die Handlung ein. Er muss ein Thema für seine Maturaarbeit finden, hat aber wenig Bock auf die Schule. Dann stösst er auf das Werk «Frühlings Erwachen». Zunächst findet er die Sprache altmodisch und kompliziert. Doch beim Durchblättern des Dramas merkt er, dass der Inhalt relevanter ist als je zuvor. Die Jugendlichen machen das erdrückende Aufwachsen im Kapitalismus zum zentralen Thema.

Das ist kein Zufall, wachsen sie doch inmitten von Krisen und Kriegen auf. Durch Wedekinds Werk können die Jugendlichen ihren eigenen Erfahrungen und ihrer Ohnmacht, aber auch ihren innersten Leidenschaften und Träumen Ausdruck verleihen. Darum haben sie sich das Stück mit Herzblut und Schweiss angeeignet und weiterentwickelt. Und darum stehen sie auch mit ihren echten Namen auf der Bühne.  

Die Jugend strebt nach viel mehr als Unterhaltung durch TikTok und Netflix – sie will Kunst. Nicht nur die zehn Schauspieler. Der Saal ist ausverkauft, das junge Publikum begeistert.

Das Schauspiel, das kein Schauspiel ist

Die allererste Szene ist eine Rückblende – das Ende der Geschichte kommt an den Anfang. Eine tragische Szene: Die Jugendlichen nehmen Abschied von einem Freund, der sich das Leben genommen hat. Der Suizid als Ausgang der Geschichte schwebt über dem ganzen Stück. «Unser Erwachsenwerden hat doch gerade erst begonnen und es macht jetzt schon keinen Spass mehr. Wie soll ich das noch ein Leben lang schaffen?», so der Tenor. 

Je weiter das Stück voranschreitet, desto mehr erkennen die Jugendlichen, dass ihre eigene Geschichte den gleichen tragischen Verlauf nimmt wie Wedekinds Drama. Als ihnen bewusst wird, dass das Stück im Suizid endet, verstehen sie, dass auch sie vor einer ausweglosen Situation stehen. Der Selbstmord ihres Freundes wird zur Konsequenz der erdrückenden Realität, in der sie leben. Sie alle kennen das herzzerreissende Gefühl und sagen: «Wenn du mit dem Druck nicht klarkommst, kannst du nicht mithalten in der grossen Welt». 

Nach der Premiere sagt mir eine Schauspielerin: «Das kann einen so frustrieren, dass man sagt: Lieber beende ich mein Leben jetzt, als dass ich mein Leben mit Arbeit verbringe, um am Ende doch zu wenig Geld in der Tasche zu haben.›»

Kunst und Kapitalismus: ein unversöhnlicher Konflikt

Die Jugendlichen verarbeiten Themen wie Suizid ehrlich und seriös. «Wir wollen verstehen und meinen es ernst», sagt mir die Schauspielerin. Doch dann endet das Stück komischerweise mit einer Abschlussfeier. Matura geschafft, Freude herrscht. Die Meinung einer jungen Zuschauerin: «Zu dem Stück passt kein Happy End. Jemand bringt sich um, weil er nicht weiss, was er mit seinem Leben machen will. Nicht nur wegen des Schuldrucks. Die ganze Zukunft, die uns geboten wird, ist schlecht.» 

Das inszenierte «Happy End» haben nicht die Schauspieler geschrieben, sondern Theaterhaus und Regie vorgegeben. Es refIektiert die bürgerliche Sichtweise auf die Welt: Ihr System hat nur noch Krisen und Verschlechterungen zu bieten. Da bleibt als einziger positiver Abschluss ein Schönreden der Realität. Ein künstlicher Optimismus. Mit mehreren solchen «spassigen», «pubertären» Szenen werden die Themen und der Anspruch nach Wahrheit der Jugendlichen ins Lächerliche gezogen. 

Hinter diesem Streit um den Inhalt des Stücks stecken entgegengesetzte Klasseninteressen: Auf der einen Seite die Jugend, die nach Wahrheit strebt und echten Optimismus sucht. Auf der anderen Seite die Bourgeoisie, die kein Interesse daran hat, dass sich die Jugend mit ihren Gefühlen und Sorgen auseinandersetzt und zu einer tieferen Erkenntnis gelangt. 

Warum die Kunst die Revolution braucht

Die Schauspielerin bringt den Gegensatz auf den Punkt: «Kunst im Kapitalismus ist eine Hassliebe». Denn: «Die Menschen sind dazu geschaffen, Künstler zu sein – oder zumindest ein Herz für die Kunst zu haben. Heute hat nur kaum jemand die Möglichkeit dazu». 

Solange die Bourgeoisie Theaterhäuser etc. besitzt und kontrolliert, bleibt Kunst exklusiv und verstümmelt. Für die Entfaltung der Kunst und damit der Menschen müssen wir uns selbst, die Jugend und die Arbeiter, die Kunst aneignen können. Das bedeutet, die Bourgeoisie mitsamt ihrer Weltanschauung aus den Theatern zu schmeissen! 

Kunst muss im Dienst der Mehrheit stehen und für alle zugänglich sein. Dazu braucht es eine massive Erhöhung des Kulturbudgets und eine massive Verkürzung der Arbeitszeit. Beides sofort umsetzbar – aber nicht im Kapitalismus. Der Kampf für die Befreiung der Kunst ist der Kampf für den Sozialismus.