Kurz vor den Weihnachtsferien beschloss St. Gallen die Berufsschulen und Gymnasien des Kantons aufgrund der epidemiologischen Lage in den Fernunterricht zu schicken. Am Freitag, dem 15. Januar 2021, erfuhren die Schülerinnen und Schüler des Gewerblichen Berufs- und Weiterbildungszentrums St. Gallen (GBS), dass sie am folgenden Montag wieder in den Schulen antanzen sollten – trotz den verschärften (aber immer noch unzureichenden) Massnahmen des Bundes. Für einige Klassen der GBS war dies der letzte Tropfen, der das Fass der widersprüchlichen Pandemie-Strategie des Bundes zum Überlaufen brachte. Sie entschieden, dass sie unter den aktuellen Umständen den Präsenzunterricht bestreiken würden.
Am dritten Tag des Schulstreiks sprechen wir mit der Berufsmaturandin Noa. Die 21-Jährige hat vergangenen Sommer ihre KV-Lehre abgeschlossen und absolviert nun die Berufsmatur Vollzeit am GBS. Sie und ihre KlassenkollegInnen sitzen also jeden Tag zu zwanzigst im Klassenzimmer – zwar mit Masken, mehr als einen halben Meter Abstand lässt sich jedoch kaum einhalten.
Noa, warum hat sich deine Klasse entschieden, den Präsenzunterricht zu bestreiken?
Da gibt es einige Gründe. Der grösste Punkt: Wir finden, dass wir mit den Massnahmen des Bundes in der Schule unsere Gesundheit gefährden. In der Schule sitzen wir zu zwanzigst im Schulzimmer und können den Abstand nicht einhalten. Beim Mittagessen ist es dasselbe, aber zum Essen müssen wir die Masken halt ausziehen. Die Massnahmen des Bundes sind voll widersprüchlich: Im Privaten sind Ansammlungen von mehr als fünf Personen aus mehr als zwei Haushalten verboten. Aber dann müssen wir unbedingt in die Schule!? Dazu kommt: Laut den neuen Massnahmen sollen die Leute, die Home Office machen können, dies auch tun. Als Schüler können wir das – wir müssen nicht vor Ort sein.
Wir möchten unsere Familien schützen! Wir riskieren unsere und ihre Gesundheit in der Schule und dabei hat der Fernunterricht voll gut geklappt. In unserem spezifischen Fall ist es auch so, dass wir ab nächster Woche sowieso wieder im Selbststudium sind: Für fünf Tage auf Präsenzunterricht umzustellen ist absurd!
Absolut einverstanden. Ich finde cool, dass ihr diesen Entscheid gefasst habt. Wie habt ihr euch denn organisiert? Und wie viele seid ihr?
Es ist schwierig zu sagen, wie viele Leute tatsächlich den Präsenzunterricht bestreiken. Weil auch in meiner Klasse gehen Einzelne weiter zur Schule, obwohl wir alle zusammen abgemacht haben, dass wir Fernunterricht fordern. Die Mehrheit ist zu Hause geblieben: von 21 Leuten mindestens 13. Die anderen haben Angst davor, zu viele Absenzen zu kriegen und dann von der Schule geschmissen zu werden. Aber eigentlich möchten sie auch lieber Fernunterricht.
Organisiert haben wir uns via Whatsapp: Nachdem wir am Freitagnachmittag herausgefunden haben, dass wir am Montag wieder zur Schule müssen, haben eine Freundin und ich in den Klassenchat geschrieben, dass uns dabei unwohl wäre. Das stiess auf viel Zustimmung und es kamen viele Bedenken zusammen: Einige MitschülerInnen wohnen mit Risikopatienten zusammen. Aber auch die teils einstündige Anfahrt im ÖV zu Stosszeiten, die durch den Schnee noch länger wird, bereitete einigen Sorgen. Das Risiko ist nicht einfach verschwunden, weil wir Masken tragen. Zumal viele Leute sich nach wie vor weigern, sie zu tragen. Den ganzen Tag zu Hause bleiben ist zwar auch nicht easy für die Psyche, aber besser als Corona.
Also haben wir uns entschieden dem Regierungsrat, der Schulleitung und unseren Lehrpersonen eine Email zu schreiben. Von den ersten beiden haben wir keine Antwort erhalten. Die Lehrpersonen antworteten, dass sie nichts machen könnten und die Schulleitung ihnen verboten hat, Fernunterricht anzubieten. Nur unser Mathe-Lehrer antwortete, dass er in erster Linie Mensch sei und unserem Wunsch nachkomme. Heute hat auch unsere Englisch-Lehrerin angeboten, uns Online zu unterrichten.
Ich habe auch gehört, dass mindestens vier andere Klassen am GBS streiken. Aber es ist sehr schwierig, sich richtig mit ihnen zu vernetzen und an die Informationen zu kommen.
Was passiert denn, wenn sich bei euch allen die Absenzen anhäufen und für euch alle die Gefahr des Rauswurfs besteht?
Die chaotische Corona-Situation würde wahrscheinlich einen Rekurs ermöglichen. Aber dafür bräuchten wir das Geld für einen Anwalt und bis dieser durch die Bürokratie durchgesickert ist, geht es wahrscheinlich ewig. Ich weiss ehrlich gesagt nicht genau, was ich tun würde, wenn ich jetzt von der Schule fliege. Wahrscheinlich wieder arbeiten. Aber das wäre mir dann egal: Mir ist es wichtiger, dass ich jetzt meine Gesundheit schütze.
Wie wäre es, wenn ihr euch über Microsoft Teams, das ihr ja alle von der Schule habt, mit den anderen Klassen treffen würdet und euch austauscht? Jemand könnte die Sitzungsleitung machen und eine Traktandenliste vorschlagen, über die ihr am Anfang abstimmt. So könnt ihr gemeinsam diskutieren, Forderungen aufstellen und so mehr Druck auf Schulleitung und Regierung ausüben. Und auch gegen allfällige Schulverweise vorgehen. Grösstmögliche Einheit ist sehr wichtig für Streiks.
Ja voll, das wäre eine gute Idee. Das muss ich mit den anderen besprechen.
Wie eure Lehrpersonen reagiert haben, hast du schon gesagt. Aber was erhaltet ihr sonst für Reaktionen?
Ich habe auf Instagram einen Post der JUSO zum Schulstreik geteilt. Von anderen Berufsschülerinnen und -schülern habe ich darauf viele Antworten gekriegt, dass ihre Klassen sich auch überlegen, den Präsenzunterricht zu bestreiken. Aber gerade für Berufs(maturitäts)schüler, die nebenher noch die Lehre machen, ist es schwieriger. Denn die Schulleitung droht damit, ihre Betriebe zu informieren. Davor haben sie Angst, was ja mega schade ist.
Vom Schulleiter selber haben wir noch nichts gehört – nur durch die Lehrer und die Medien. Ich weiss nicht wirklich, wie er unsere Forderung findet. Aber ich kann mir vorstellen, dass er vom Kanton her unter viel Druck steht. Deshalb haben wir auch direkt den Regierungsrat angeschrieben. Aber ich verstehe nicht, warum es ein Problem sein sollte. In meiner Klasse sind wir alle über 18 Jahre alt. Wir haben uns freiwillig entschieden, die Berufsmatur zu machen. Wenn wir auf die Gesundheit von uns und unseren Mitmenschen achten wollen, sollte das doch möglich sein.
Und wir haben es ja auch schon anders probiert: Ein Freund von mir an der Fachmittelschule hat im Herbst eine Online-Petition lanciert. Da sind damals 10’000 Unterschriften zusammengekommen [mittlerweile sind es es fast 40’000 / Anm. d. R.]. Aber das wurde voll ignoriert. Das macht uns voll sauer. Aber diese Wut gibt uns auch die Kraft weiterzukämpfen.
Auch von Lehrpersonen kommt Kritik daran, dass die Schulen nicht geschlossen werden. Wie sieht das bei euch im Schulhaus aus?
Ich weiss nicht, ob unsere Lehrer sich organisiert oder sonst etwas gemacht haben. Einzelne versuchen sich gegen die Weisungen der Schulleitung zu widersetzen und suchen Schlupflöcher, wie sie uns unterstützen können. Von einem Lehrer mit Asthma weiss ich, dass sein Arzt ihm Fernunterricht verordnet hat.
Ihr solltet unbedingt mit euren Lehrern Kontakt aufnehmen und euch gemeinsam organisieren. Die könnten dann auch von ihrer Gewerkschaft, dem VPOD, Hilfe anfordern.
Stimmt. Wir sitzen ja alle im selben Boot!
Wie denkst du geht es jetzt weiter?
Ich glaube, die Schulleitung und die Regierungsräte haben das Gefühl, wir wollen einfach die Schule schwänzen und chillen. Aber das stimmt voll nicht! Wir wollen unsere Berufsmatur bestehen – dazu haben wir uns ja freiwillig entschieden. Aber wir wollen halt auch unsere Gesundheit schützen!
Wenn wir uns jetzt noch besser organisieren mit anderen Klassen und Lehrpersonen, aber auch mit anderen Schulen, dann können wir uns besser für unsere Forderungen einsetzen und gemeinsam bessere Schutzmassnahmen erarbeiten. Ziel ist ja, dass wir auch für die Zeit nach den Sportferien planen und nicht nur unseren jetzigen Streik rechtfertigen. Wir brauchen dabei aber auch Unterstützung, beispielsweise von der Unia Jugend oder der JUSO. Ich finde es cool, dass ihr euch bei uns gemeldet habt.
Wir dürfen jetzt einfach nicht aufgeben und den Schwanz einziehen, sondern müssen weiterkämpfen. Dann werden wir auch etwas bewirken!
Da bin ich sicher. Vielen Dank für das Gespräch Noa. Ihr habt unsere volle Solidarität!
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