Am 2.6 gingen in Bern über zehntausend Jugendliche auf die Strasse. Zum zweiten Mal rief ein anonymes Kollektiv aus der Berner Reithallenszene zur „Tanz-Dich-Frei“-Party auf, über zehntausend Jugendliche folgten diesem Aufruf und machten aus der Berner Innenstadt eine riesen Freiluftparty. Der Funke war live mit dabei und versucht nun diese Bewegung noch differenzierter zu analysieren.
Vor der Nationalbank ein Liveauftritt einer Gypsiband, vor der Créditsuisse wummernde Elektrobeats, vor der UBS ein Riesengedränge um die paar letzten Biere, die noch von einem Soundwagen aus verteilt werden, dutzende Leute, die politisch ganz unkorrekt ans Bundeshaus pinkeln und mittendrin ein verlassenes Tram. Nichts geht mehr in Bern.
Schützt die Reithalle
Alles begann damit, dass der Berner Statthalter Christoph Lerch (SP) per Verordnung die Schliessung des Vorplatzes der Reithalle um halb eins verlangte. Dieses autonome Kulturzentrum hat eine bewegte Vergangenheit und gilt bis heute noch als letzte Bastion des Widerstands gegen eine spiessbürgerliche Stadt Bern. Bereits fünf Mal versuchte die Rechte durch Abstimmungen deren Schliessung zu erwirken, jedes Mal stimmte die Bevölkerung mehrheitlich dagegen.
Nun versuchte man es auf eine neue Art, indem man sich auf einzelne Lärmklagen berief (die Reitschule ist eingepfercht zwischen einer Bahnhofsbrücke und einer Schnellstrasse), die eingegangen waren. Diese neue Gesetzesordnungen liess man sich aber nicht bieten und organisierte eine Kundgebung unter dem Motto „Tanz dich frei“. Tausend Leute versammelten sich auf dem Vorplatz und zogen dann mit einem Transparent mit dem Schriftzug „Nehmt ihr uns den Vorplatz, nehmen wir uns die Stadt“ pünktlich um halb eins in die Berner Altstadt. In der Stadt gesellten sich dann weitere Partygänger dazu, die Medien sprachen von fünftausend Leuten.
Der Erfolg liess die anonym bleibenden Organisatoren natürlich sofort einen zweiten Termin festsetzen, auf Facebook warb man fürs „Tanz dich frei 2.0“. In kürzester Zeit verbreitete sich der Event über die Social Community, fast 12‘000 Leute traten der Gruppe bei. Am 2. Juni waren dann auch weit über 10‘000 Menschen auf der Strasse in Bern, mehrere Soundwagen sorgten für Musik, der Verkehr kam völlig zum Erliegen. Die Polizei hielt sich aus dem Spiel, ausser einer Handvoll Schnapsleichen, 2 Tonnen Müll und einzelnen Verhaftungen blieb der Event friedlich und damit ereignisloser als jedes Kirmesfest.
Jugendliche unerwünscht!
Das sich spontan tausende Jugendliche zusammenfinden, ist nicht blosser Zufall, sondern das Produkt einer sich verändernden Gesellschaft, die zum Beispiel in Kulturfragen immer weniger den Bedürfnissen der meisten Jugendlichen entspricht. In den letzten paar Jahren ist aufgrund des Immobilienbooms der Freiraum für Jugendliche immer enger geworden, gerade und besonders in den Zentren. Konkret heisst das, dass die Eintritts- und Getränkepreise von Nachtclubs,
Bars und Discos in den letzten Jahren kontinuierlich anstiegen. Es ist beinahe unmöglich, Ausweichmöglichkeiten zu eröffnen. Neuer Raum entsteht nur in massiv überteuerten, spekulativen Neubauten. Für Jugendliche, die selber kein oder nur wenig Geld verdienen, also Gymnasiasten, Studenten und Lehrlinge, wird es zunehmend schwieriger den Ausgang mit dem Budget unter einen Hut zu bringen. Die Wochenendausgaben sind für viele der grösste Budgetposten, und tatsächlich auch der zentrale Grund aus dem sich Jugendliche verschulden. Jetzt könnte man natürlich anbringen, dass die Jugendlichen einfach auf ihren Ausgang verzichten sollen. Doch so einfach ist das nicht, denn das Nachtleben ist nun mal für viele Jugendliche das soziale Umfeld schlechthin.
Wer am Wochenende nicht unterwegs ist, ist dann halt allein, kann nicht mitreden, manövriert sich selbst ins Abseits; die Jugend reagiert besonders stark auf sozialen Druck. In den Städten wurde der Jugend der Raum zusätzlich eng gemacht; Sitzplätze und Bänke wurden systematisch aus dem öffentlichen Raum entfernt, Sicherheitspersonal wird angewiesen, sitzende Jugendliche aus Parks und Bahnhöfen zu vertreiben. Wo sich Jugendliche aufhalten, entsteht Lärm und Müll wird aus den Supermarkt direkt in den öffentlichen Raum gebracht. Es lohnt sich nicht, Jugendliche in der Nähe zu haben. Doch die Rechnung der Vertreibenden kann nicht aufgehen: Bedürfnisse verschwinden nicht aufgrund von Verboten!
Wir sind wütend!
In einer Rede auf dem Vorplatz wurde ein Satz ständig wiederholt: „Wir sind wütend“. Als einer der Ursachen dieser „Wut“ wurde genannt, „dass unser Leben in den 5 Wochen Ferien und zwischen den Arbeitszeiten stattfindet. Nach der Arbeit sind wir zu müde, um das zu machen, was wir wirklich möchten.“
Und tatsächlich kann man bei vielen Jugendlichen eine tiefe Unzufriedenheit gegenüber ihrer beruflichen Tätigkeit entdecken. Arbeit ist etwas, das zwar notwendig ist, aber nicht wirklich gerne ausgeübt wird. Die meisten wüssten zwar, wie man die Dinge besser organisieren könnte und welche Massnahmen ihnen das Leben erleichtern würden, sehen sich aber einer Hierarchie unterstellt, die ihre Interessen systematisch ignoriert. Die Wirtschaft geht den Bach runter, die Umwelt kollabiert, man selber hat einen schlechten Lohn, unmenschliche Arbeitszeiten und wird ständig rumkommandiert. Die Zukunftsaussichten sind nicht rosig und so versucht man den stressigen Arbeitsalltag am Wochenende mit Musik und Alkohol zu überwinden, die fehlende Selbstbestimmung durch Konsumfreiheit zu überdecken.
Und gerade diese letzte Oase im Kapitalismus, die Ausschweifungen am Wochenende, wird jetzt frontal attackiert. Dreizehn Lärmklagen genügten, um eine bewilligte Party in Zürich mit dreitausend Teilnehmern vorzeitig aufzulösen, 51 Lärmklagen sollen die Reitschule zu Fall bringen. „Die Utopie der Ordnung zielt auf die vollständige Eliminierung der Freiheit“ schrieb Safransky und genau das will die Stadtregierung. Im Standort Bern soll alles ausgelöscht werden, was den Kapitalbesitzern unangenehm sein könnte, alles und jede/r soll dem Dogma der Gewinnmaximierung unterworfen werden. Nur ist die totale Ökonomisierung kein geeigneter Identitätsstifter für Heranwachsende, diese verlangen nach Freiheit also nach kultureller und wirtschaftlicher Selbstbestimmung. Gegensätzliche Interessen prallen aufeinander.
Internationale Vorbilder
Nicht nur in Bern versuchen die Jugendliche die Gesetze zu sprengen, die in den letzten Jahren immer enger gemacht wurden und sie nun zu erwürgen drohen. In Basel fand zeitgleich eine ähnliche Veranstaltung mit tausend Teilnehmern statt, die Polizei wurde mit Barrikaden daran gehindert die Veranstaltung zu stürmen. In Zürich fanden vor ein paar Monaten derart viele Jugendkrawalle statt wie schon seit den 80ern nicht mehr. Auch diese begannen als Freiluftpartys in der Innenstadt. Selbst in Chur fanden sich zum Feiern spontan 400 Menschen auf einer Wiese wieder. Bern bleibt zurzeit das Ende eines langen roten Fadens von Ereignissen rund um die Forderung nach kulturellen Freiräumen.
Aber nicht nur in der Schweiz gibt es Vorreiter, selbst im SF behauptet man, dass die gewaltigen Jugendbewegungen in Europa wahrscheinlich die Mobilisierungskraft unter den Jugendlichen massgeblich gestärkt hat. Die neue Generation ist über das Internet weltweit vernetzt und identifiziert sich deshalb auch mit internationalen Beispielen, gerade auch weil man als Lehrling oder Student ähnliche Sachzwänge erlebt wie in Quebec oder Spanien. Überall sind sie es, denen die Sparflut zuerst bis zum Hals reicht.
Was macht die SP?
Wieder und wieder und wieder stellt sich ein Vertreter des parlamentarischen Flügels der SP als gänzlich unfähig heraus die Dynamiken und Interessen der Jugend zu verstehen. Für Vertreter der Parteijugend, der JUSO, sehr frustrierend, da man wiederholt die gesamte Energie darauf verschwenden muss, die eigene Mutterpartei zu bekämpfen. So wurden in letzter Zeit wiederholt SP-Parlamentarier zu Buh-Figuren von Jugendbewegungen wie zum Beispiel Roland Näf, der ein Killerspielverbot forderte oder Regine Aeppli, die in Zürich eine Erhöhung der Studiengebühren durchboxen will. In Bern ist es nun Statthalter Christoph Lerch, der die Tshirts und Plakate ziert („Figg di Herr Lerch“).
Gerade die Partei, die eine lange Tradition im Kampf für kulturelle Freiräume hat, findet sich nun als deren Bremsklotz wieder. Die JUSO, die versucht permanent von unten Druck auf die SP aufzubauen und sie zu fortschrittlicheren Positionen zu bewegen, muss permanent gegen die Drücke aus den bürgerlich dominierten Parlamenten ankämpfen, welche den SP-Exekutivpolitikern ihre Linie aufzwingen. Ziel der SP sollte es sein, Plattformen zu gründen, durch welche ein lebendiger Austausch mit der nächsten Generation stattfindet und durch welche zukunftsweisende Jugendprojekte entstehen könnten. Stattdessen nimmt man lieber die „Ängste“ der Bevölkerung (respektive Lärmkläger) wahr und versucht über den Köpfen der Betroffenen hinweg mit dem Gesetzbuch zu regulieren.
Durch solche Vorgehensweisen stärkt die SP die Jugendlichen in ihrem Trugschluss, dass links und rechts alles dasselbe ist und Politik eh nichts ändern kann. Profitieren können dadurch Organisationen wie das „Pro Nachtleben Bern“, die in Tat und Wahrheit grösstenteils durch Bürgerliche dominiert sind und lauwarme Antworten auf brennende Fragen geben.
Die Rolle der JUSO
Die JUSO konnte sich bisher gut in diese neuen Bewegungen integrieren, indem sie an den verschiedenen Veranstaltungen omnipräsent war, gerade auch weil sich viele ihrer Mitglieder mit den Forderungen unmittelbar identifizieren konnten. Die einheitlichen Positionen innerhalb der Partei fehlen bis anhin noch gänzlich, sodass sie noch wenig politisch interveniert haben, sondern mehr als Ausdruck des Verständnisses und der Solidarität. Sie wird aber angesichts der Mobilisierungskraft nicht drum herum kommen, konkrete Positionen und Forderungen zu formulieren und auf Konfrontationskurs mit der Mutterpartei zu gehen, die sich bis anhin mit ihrem Auftreten völlig diskreditiert hat.
Zurzeit gibt es noch Debatten, ob die JUSO sich in Vereinen wie das „Pro Nachtleben Bern“ organisieren soll. Dieser Verein hat bereits die Initiative ergriffen und das einfachste Mittel einer Petition gewählt, um sich Gehör zu verschaffen. Wie zu erwarten war, jonglieren sie darin vor allem mit Paragraphen der Gewerbeverordnung, reduzieren die Probleme auf Lärm und Öffnungszeiten von Clubs und massen sich am Schluss sogar noch an, die Partygänger aufzurufen, ein wenig braver zu sein. Die JUSO sollte unbedingt von solchen Organisationen die Finger lassen und stattdessen ihre Forderungen als Jugendpartei direkt und unverwässert vermitteln.
Die bürgerlichen Medien werfen der feiernden Masse vor „unpolitisch“ zu sein, was insofern nicht stimmt, dass diese Masse das Feiern bereits als Akt der Rebellion gegen das Establishment betrachtet. Wäre das ein blosses Strassenfest gewesen, wären sichtlich weniger Leute auf dem Vorplatz der Reitschule gewesen. Die meisten Jugendlichen gingen natürlich hin, um ein Zeichen gegen ein System zu setzen, in welchem sie sich unwohl fühlen. Ein Unwohlsein, das die meistens aber nur latent wahrnehmen und deshalb auch nur durch Feiern und Trinken kurzfristig verdrängen können. Gerade da aber braucht es die JUSO, die als Partei genau diese „Politisierung“ vorandrängt, indem sie den vorhandenen Unmut und die daraus resultierende Energie und Gewaltbereitschaft in produktive Kanäle lenkt.
Die JUSO muss unbedingt ein politisches Programm erarbeiten, unter welche sie diese verdrängte Jugend vereinen können. Diese Aufgaben können autonome Grüppchen oder bürgerliche Vereine uns nicht abnehmen und wenn, dann nur in eine Richtung, die uns nichts nützen wird. Hier auf dem Vorplatz der Reitschule versammeln sich Menschen und machen wichtige kollektive Erfahrungen: Wir können uns die Innenstadt nehmen, wenn wir nicht alles einfach hinnehmen, sondern zusammenstehen und „Nein“ sagen.
An diese Erfahrung muss die JUSO anknüpfen, das „Tanz dich frei“ mit Kapitalismuskritik verbinden und den Leuten Fragen: Hey, was können wir denn sonst noch alles erreichen, wenn wir zusammenstehen? Guck hier unser Programm. Los geht’s!
Nyima Tsering, JUSO Winterthur
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