Die Juso CH hat für das Wahljahr 2015 beschlossen, eine Lehrlingskampagne zu lancieren. Sie soll der Startschuss für langfristige Arbeit an den Berufsschulen und zu einer Verankerung der Partei unter den jungen ArbeiterInnen der Schweiz führen. Unmittelbares Ziel der Kampagne ist die Organisierung der Lernenden an den Berufsschulen und der gemeinsame Kampf gegen die prekären Bedingungen in der Berufsbildung.
Eine der zentralsten Forderungen der JUSO ist die demokratische Kontrolle der Wirtschaft. Dieses Ziel können wir nur erreichen, wenn wir das reale Kräfteverhältnis in den Betrieben zu unseren Gunsten verändern. Daher ist es zentral, dass wir die sozialistischen Kräfte unter den Lohnabhängigen aufbauen. Die Bedingungen dazu sind durchaus günstig. Die Krise des Kapitalismus wirkt sich immer unmittelbarer auf den Lebensstandard der Schweizer Lohnabhängigen aus. Die Lernenden bekommen dies besonders stark zu spüren. Somit ist die Krise nicht mehr nur ein abstrakter Begriff, sondern erreicht konkret das Leben breiter Schichten der Arbeitenden. Dies führt über kurz oder lang zu Bewusstseinssprüngen, welchen wir einen politischen Ausdruck geben müssen. Das Feld ist weit offen für eine sozialistische Agitation unter jungen ArbeiterInnen.
Da in der Schweiz 73% aller Jugendlichen nach der obligatorischen Schule den dualen Bildungsweg einschlagen, ist ein Grossteil der jungen ArbeiterInnen von früh an der direkten Ausbeutung in der Privatwirtschaft mit der ganzen dazugehörigen Unterdrückung ausgesetzt. Junge ArbeiterInnen sind von Anfang an direkt einem Chef unterstellt und können entlassen werden. Ihre Perspektive für die berufliche Laufbahn ist der Aufstieg im Betrieb. Diese Tatsachen haben eine stark disziplinierende Wirkung auf diese Jugendlichen. Das fast schon institutionelle Fertigmachen von Lernenden während der Lehre spielt hierbei auch eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Das heisst jedoch nicht, dass die Lernenden kein revolutionäres Potential haben. Unter der Oberfläche verschärfen sich die Widersprüche zwischen den untragbaren Bedingungen und dem ständigen Druck, sich nicht zu wehren. Die Unzufriedenheit unter den Lernenden ist daher eine tickende Zeitbombe. Wir können aus vergangenen Lehrlingsbewegungen schlussfolgern, dass gerade die Lernenden als eine der unterdrücktesten Schichten der ArbeiterInnenklasse unter den richtigen politischen Bedingungen und durch eine bewusste Agitation unsererseits eine äusserst radikale Rolle im Klassenkampf spielen können.
Die Situation der Lernenden in der Schweiz ist oft äusserst prekär. Der Lehrlingsreport der UNIA und die Fälle des Lehrstellenprangers zeigen deutlich die Missstände auf. Überstunden, berufsfremde Arbeiten und Erniedrigungen bis hin zu körperlicher Gewalt stehen für viele auf der Tagesordnung. Die Bürgerlichen versuchen, solche Missstände als bedauerliche Einzelfälle in einem grundsätzlich dennoch erfolgreichen Berufsbildungssystem darzustellen. Die folgenden Zahlen zeigen jedoch auf, dass es sich bei diesen Problemen durchaus um weit verbreitete Phänomene handelt. So gaben die Betriebe in einer Studie selber an, dass die Lernenden im ersten Lehrjahr über 50% ihrer Zeit mit berufsfremden Arbeiten verbringen (Strupler/Wolter 2012: 45).
Der Lehrlingsreport der UNIA zeigt zudem auf, dass 55% der Lernenden mindestens einmal im Monat trotz gesetzlicher Bestimmungen, welche das verbieten, mehr als neun Stunden arbeiten müssen. 25% der Lernenden erhalten ihre illegal erarbeiteten Überstunden weder entlöhnt noch kompensiert (Unia 2014: 14).
Gleichzeitig zeigt sich, dass auch die Arbeitssicherheit keinesfalls gewährleistet ist. Gemäss einer Studie der SUVA ist das Unfallrisiko bei Lernenden 60% höher als bei Ausgelernten. Jährlich verletzt sich ein Achtel der Lernenden bei der Arbeit, drei Unfälle sind tödlich. (Suva 2013: 2ff.). Junge ArbeiterInnen sterben also direkt unter den Bedingungen der kapitalistischen Ausbeutung, sind doch häufig Arbeitsdruck und die Ignorierung von Sicherheitsbestimmungen zur Kosteneinsparung Hauptgründe für Unfälle.
Als ob die derzeitige Situation noch nicht schlimm genug wäre, hat sich der Bundesrat auf Druck der Unternehmen dazu entschlossen, das Jugendschutzalter für gefährliche Arbeiten auf 15 Jahre abzusenken. Vor 2008 war dieses Schutzalter noch auf 20 Jahre festgesetzt. Konkret bedeutet das, dass seit August 2014 15-jährige auch mit krebserzeugenden Chemikalien, ansteckenden Mikroorganismen und radioaktiven Materialen arbeiten (vgl. SGB 2014).
Dass 28% der Lehrverhältnisse frühzeitig aufgelöst werden, erstaunt daher nicht weiter. Eine Umfrage unter betroffenen Lernenden auf dem Bau zeigt nochmals deutlich, wo der Schuh drückt. 52% gaben an, dass sie in der Lehre unterfordert waren und als Handlanger missbraucht wurden. Ebenfalls 52% sagten, dass sie fertiggemacht wurden, wenn sie Fehler gemacht haben. Diese desolaten Zustände in der Lehre sind also mitnichten Einzelfälle, welche von einigen schwarzen Schafen unter den Betrieben ausgehen. Die Ursachen für diese Missstände liegen im kapitalistischen System selbst und der Art und Weise, wie das duale Bildungssystem in dieses eingebettet ist (SBV 2014: 3).
Die kapitalistische Konkurrenz zwingt Unternehmen dazu, ihre Kosten zu optimieren, um möglichst hohe Profite zu erwirtschaften. Kosten optimieren heisst nichts anderes als Löhne zu drücken und Überstunden zu verlangen. Die Lernenden sind dabei sehr exponiert. Durch ihre tiefen Löhne können sie als billige Arbeitskräfte für allerlei unqualifizierte Arbeit missbraucht werden. Zudem sind sie das unterste Ende der Befehlskette in einem Betrieb. Das heisst, dass der Druck der Besitzenden, schneller und günstiger zu arbeiten, über die Hierarchie im Betrieb letztendlich auf die Lernenden übertragen wird. Darunter leidet ist die Qualität der Ausbildung und vor allem auch die Lernenden selbst. In der Krise verschärft sich damit der Druck auf die Lernenden konkret durch ihre Stellung im Produktionsprozess. Das duale Berufsbildungssystem und das Praktikumswesen bieten in diesem Sinne eine Möglichkeit für UnternehmerInnen, junge ArbeiterInnen zu Dumpinglöhnen anzustellen. Es ist daher kein Zufall, dass trotz Krise zu viele Lehrstellen angeboten werden, sondern zeugt vom ungebrochenen Willen der Unternehmer, Lehrlinge als billige Arbeitskräfte auszubeuten – gerade in der Krise. In der Lehre reicht der Lohn nicht einmal aus, um sich selbst zu erhalten. So sind Lernende trotz ihrer Arbeit noch von der Familie abhängig. Das heisst nichts anderes, als dass die Ausbeutung in der Lehre sich sogar bis auf die Eltern auswirkt, welche für einen grossen Teil an den Lebenskosten ihrer Kinder aufkommen müssen, weil die Unternehmen nicht bereit sind, wenigstens die Existenz ihrer jungen Arbeitskräften zu sichern.
Natürlich gibt es hier grosse Unterschiede zwischen den verschiedenen Branchen und Betrieben. Für hochspezialisierte Berufe wird teils von den Firmen viel Geld und Zeit in die Ausbildung neuer Fachkräfte investiert, was sich natürlich positiv auf die Qualität der Ausbildung auswirkt. Diese Firmen sind angewiesen auf Fachkräfte, welche zum Teil auch direkt für die spezialisierten Arbeiten in diesem Betrieb ausgebildet werden. Die Beweggründe dahinter sind jedoch immer die Profitinteressen der Unternehmen.
Die Berufsbildung wird direkt den Interessen der privaten Unternehmer und ihren Unternehmerverbänden, welche den Lehrplan weitgehend bestimmen, unterstellt. Die jungen ArbeiterInnen sind so schon während der Ausbildung dem Druck der kapitalistischen Ausbeutung und der Willkür der Unternehmer ausgesetzt. Dies beginnt schon in der Oberstufe, in welcher vieles darauf ausgerichtet ist, die zukünftigen Lernenden auf die Stellensuche zu trimmen. Anstatt den Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, einen kreativen Beruf nach ihren eigenen und den gesellschaftlichen Bedürfnissen zu erlernen, müssen sie schnell erkennen, dass die freie Berufswahl in der Realität eine Farce ist. Der Druck, bis zum Ende der Schulzeit eine Lehrstelle zu finden, endet oft damit, dass man nimmt, was man kriegt. Es sind also wieder die Unternehmer, welche entscheiden, wer welchen Beruf erlernen darf.
Die bestehenden Regulierungen, welche erkämpft wurden, sind ungenügend und ihre Durchsetzung im Alltag der Lernenden noch viel ungenügender. Die Verantwortlichen in den Berufsbildungsämtern fühlen sich den Chefs oft mehr verpflichtet als den Lernenden, kündigen Kontrollen im Voraus an oder schauen tatenlos zu. Zudem ist auch ihr Handlungsspielraum für die Lernenden sehr begrenzt. Oft bleibt als einzige Lösung in einem Konflikt die Auflösung des Lehrverhältnisses, was die Lernenden zu Arbeitslosen werden lässt. Konsequenzen für die Arbeitgeber sind dabei äusserst selten. Wir haben daher auch keine Illusionen in die sozialpartnerschaftliche Institutionen wie paritätische oder tripartite Kommissionen, welche fast wirkungslos sind und allzu oft direkt die Interessen der Unternehmerseite vertreten. Unsere Politik zielt auf die Selbstorganisation der Lernenden ab, um eine Stärke zu erreichen, welche tatsächlich Druck auf die Unternehmer ausüben kann.
All die Missstände im dualen Bildungssystem rühren direkt daher, dass die Schweizer Berufsbildung dem Privateigentum in der Produktion und somit den Profitinteressen der Kapitalisten unterstellt ist, anstatt einen geplanten, gesamtgesellschaftlichen Charakter im Interessen aller anzunehmen. Die Berufsbildung ist nicht dazu da, der Gesellschaft Fortschritt zu ermöglichen und die Kreativität der Jugendlichen zu entfalten, sondern um funktionierende, profitbringende Arbeitskräfte für die kapitalistische Produktion zu formen.
Natürlich kann dieser Widerspruch nur durch die Vergesellschaftung der Produktion unter ArbeiterInnenkontrolle gänzlich aufgelöst werden. Dazu braucht es einen organisierten Kampf aller Lernenden gemeinsam mit allen ArbeiterInnen gegen dieses System.
Die strategische Neuausrichtung der JUSO auf die Lernenden ist historisch bedeutend. Seit 40 Jahren wurde die Lehrlingsfrage in der Schweiz von der ArbeiterInnenbewegung nicht mehr gezielt angegangen. Sowohl Gewerkschaften als auch Parteien haben nicht einmal versucht, die Frage der jungen ArbeiterInnen in der Ausbildung von einem Klassenstandpunkt aus zu betrachten und die Lernenden aktiv zu organisieren. Die verschiedenen Reformen im Bereich der Lehre waren reine Stellvertreter-Politik ohne jegliche Anstrengungen, die Lernenden einzubeziehen, geschweige denn, die Lernenden um ihre Forderungen zu organisieren. Dies hat tiefe Gräben im allgemeinen Bewusstsein hinterlassen. Bis weit in die arbeitende Klasse hinein ist die Ansicht verbreitet, dass es zur Lehre dazugehört „unten durch“ zu müssen und dass üble Bedingungen, welche oft sogar illegal sind, als Normalzustand akzeptiert sind.
Diese Kampagne kann für die ArbeiterInnenbewegung daher zu einem bedeutenden Wendepunkt werden, der eine gesellschaftliche Diskussion und Organisierung der jungen ArbeiterInnen anstösst. Zudem können so die verkrusteten und oft veralteten Strukturen der Organisationen der ArbeiterInnenbewegung mit ihrer entsprechend trägen politischen Ausrichtung erneuert werden. Diese Kampagne muss den Anspruch erheben, über die Jugend hinaus in die Gesamtbewegung zu wirken, indem wir die Lernenden auch direkt um die grösseren Kämpfe ihrer Branchen und breiteren politischen Auseinandersetzungen organisieren und mobilisieren. So müssen wir beispielsweise im Zuge der LMV-Verhandlungen auf dem Bau Agitation an den betroffenen Berufsschulen betreiben oder mit den Lernenden im Kampf gegen die Sparmassnahmen intervenieren. Auf diese Weise können wir die Lernenden-Kampagne direkt mit den gewerkschaftlichen und politischen Kämpfen der gesamten Klasse verbinden. Zudem müssen wir gewerkschaftliches Material zur Hand haben, um den Lernenden zum einen die zentrale Rolle der Gewerkschaften zu vermitteln und zum andern sie an die Gewerkschaften verweisen zu können, wenn sie mit spezifischen Problemen aus ihrem Betrieb an uns herantreten. Die JUSO muss deshalb die SP und die Gewerkschaften dazu aufrufen, diese Kampagne sowohl finanziell als auch politisch zu unterstützen und dazu den nötigen Druck auf sie ausüben.
Das oberste Ziel muss sein, Lernende politisch zu aktivieren und zu organisieren und unsere Partei somit an den Berufsschulen und in den Betrieben zu verankern. So können wir eine ernstzunehmende Kraft werden, welche die Fragen der Lehrlingsrechte direkt stellen kann und somit auch den Kampf der Lernenden und mit ihnen aller ArbeiterInnen gegen den Kapitalismus auf die Tagesordnung stellt. Natürlich geht so etwas nicht von heute auf Morgen. Wir müssen erste Kerngruppen an den Berufsschulen aufbauen, welche bereit sind, die Agitation unter den Lernenden voranzutreiben. Diese Kampagne soll daher auch lediglich der Startschuss sein für eine längerfristige strategische Ausrichtung auf die jungen ArbeiterInnen und eine kontinuierliche Arbeit an den Berufsschulen und in den Betrieben.
Dazu ist es zentral, dass wir interessierte Lehrlinge direkt in die Kampagne miteinbeziehen. Wir müssen ihnen die Möglichkeit geben, ihren politischen Kampf mit unserer Unterstützung selber zu führen und das Selbstvertrauen entwicken, um ihr Schicksaal in die eigenen Hände zu nehmen. Integraler Bestandteil einer solchen Herangehensweise muss deshalb eine Umfrage und eine Vollversammlung der aktiven Lernenden sein, bei welcher sie mitentscheiden können, wohin unser gemeinsamer Kampf gehen soll. Wir sind nicht die Stellvertreter, welche den Kampf der Lernenden für sie führen und von aussen mit vorgefertigten Vorstellungen und Forderungen an sie herantreten, sondern wir sind der politisch organisierte Teil der Lernendenbewegung und somit eine aktiver Organisator. So können wir sie von der Ernsthaftigkeit unserer Politik überzeugen und in unserer Partei organisieren.
Diese Organisierung der Lernenden und der Kampf für reale Verbesserungen sind der Auftakt für einen allgemeinen Kampf gegen das System. Verfolgen wir die strategische Ausrichtung auf die Lernenden auch nach dem Ende dieser Kampagne weiter, werden wir eine ernstzunehmende Kraft unter den jungen ArbeiterInnen werden und eine Stärke entwickeln, welche die Selbstverständlichkeit, mit welcher die Lernenden ausgebeutet werden, erschüttern wird und den Arbeitgebern das fürchten lehrt.
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Strupler, Mirjam/Wolter, Stefan C. (2012). Die duale Lehre: eine Erfolgsgeschichte – auch für die Betriebe. Ergebnisse der dritten Kosten-Nutzen-Erhebung der Lehrlingsausbildung aus der Sicht der Betriebe. Zürich und Chur: Rüegger Verlag.
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