Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Diesen Satz hört und liest man als Lehrling ständig, sobald man anfängt das herrschende Ausbildungssystem zu kritisieren. Die Lehre gilt als die Zeit, wo man lohntechnisch, rechtlich, aber auch menschlich unten durch muss. Oftmals der einzige Rat: Klappe halten, Zähne zusammenbeissen und Lehre abschliessen. Will sich ein Lehrling dennoch gegen seine Arbeitsbedingungen wehren, versagen die staatlichen Institutionen komplett. Um diesen Zustand endlich zu ändern, hat die UNIA Jugend den „Lehrstellenpranger“ ins Leben gerufen.
Die Ungleichbehandlung von Lehrlingen wird im allgemeinen damit gerechtfertigt, dass sie weniger leisten würden als ein Ausgelernter. Dabei ist sogar das Gegenteil der Fall: Ihr Mass an unbezahlter Arbeit ist viel höher als bei den FacharbeiterInnen. Nach Angaben der Lehrmeister sind Lernende in ihrem letzten Lehrjahr im Schnitt 30% weniger produktiv als ein ausgelernter Facharbeiter. Ihr Lohn entspricht dieser Leistung bei weitem nicht.
Lehrlinge ausbeuten
Eine weitere Binsenwahrheit ist, dass sie ihre Ausbildung als Gegenleistung für ihre Arbeit erhalten. Während eines grossen Teils ihrer Arbeitszeit müssen Lernende jedoch Arbeiten erledigen, die nichts mit der Ausbildung zu tun haben. Im ersten Lehrjahr machen diese Arbeiten nach Angaben der Lehrmeister etwa 50% der Arbeitszeit aus. Mit diesen berufsfremden Arbeiten machen die ausbildenden Betriebe besonders viel Profit: es ist zum Beispiel billiger eine Reinigungskraft durch ein oder zwei Lernende eines beliebigen anderen Berufes zu ersetzen. Solche Praktiken haben in Zeiten der Krise Hochkonjunktur.
Der mickrige Lehrlingslohn ist erfahrungsgemäss spätestens nach dem zweiten oder dritten Wochenende aufgebraucht, weshalb die Eltern einen Grossteil der Ausgaben ihrer Kinder übernehmen müssen. Indem sie für die Reproduktionskosten während der Ausbildung aufkommen, subventionieren sie damit indirekt die halbe Milliarde CHF, welche die Schweizer Wirtschaft jedes Jahr auf dem Rücken ihrer Kinder erwirtschaftet.
Doch diese Massnahmen, um die Mehrwertabschöpfung zu optimieren, reichen den Betrieben nicht aus. Vermehrt greifen sie deshalb auch zu Mitteln, welche sogar die Grenzen der bürgerlichen Rechtsordnung überschreiten. Es kommt nicht selten vor, dass Lehrlinge zu unbezahlten Überstunden oder Wochenendarbeit gezwungen werden. Solche Rechtsbrüche werden durch den Umstand begünstigt, dass Verstösse gegen das Berufsbildungsgesetz in der Regel keinerlei Folgen nach sich ziehen. Die Lehrverhältnisse werden kaum kontrolliert und wenn sie kontrolliert werden, haben aufgedeckte Missstände keine Konsequenzen. Wenn sich trotz der Gefahr Schwierigkeiten im Betrieb zu bekommen, ein Lernender dazu entscheiden sollte, beim Berufsbildungsamt Hilfe zu ersuchen, wird er zumeist feststellen müssen, dass er diese nicht bekommen wird. In vielen Fällen sind die Zuständigen bei der Lehraufsicht selber Lehrlingsbetreuer gewesen und haben deshalb mehr Verständnis für die Vorgesetzten als für die Lernenden. So ist beispielsweise der Chef der St. Galler Lehraufsicht gleichzeitig Vorsitzender des kantonalen Gewerbeverbandes, was nicht gerade im Zeichen von Unabhängigkeit steht.
Lancierung der Website
Um auf die grassierenden Missstände in der Berufsbildung aufmerksam zu machen, lancierten die UNIA Jugend Thurgau und Zürich-Schaffhausen eine Kampagne unter dem Namen „Lehrstellenpranger“. Auf der gleichnamigen Website – www.lehrstellenpranger.ch – soll den Lehrlingen die Möglichkeit geboten werden, anonym auf solche Verstösse aufmerksam zu machen. Die Reaktionen auf die Kampagne waren überwältigend: Die UNIA Jugend erhielten bereits in den ersten paar Tagen Berichte über Misshandlungen von Lernenden durch den Lehrbetrieb, welche in ihrer Anzahl sowie in ihrem Ausmass alle Erwartungen weit übertrafen. Die häufigsten gemeldeten Verstösse sind bisher aufgrund unbezahlter Überstunden und berufsfremder Arbeit. Dazu kommen verschiedene Formen der Degradierung zu persönlichen Bediensteten hinzu. Die UNIA Jugend hat begonnen Berichte, in Rücksprache mit den Autoren, auf der Website zu publizieren und Auszüge davon auf Facebook zu verbreiten. Die Besitzerverbände verurteilten die Kampagne umgehend aufs Schärfste, wodurch diese umso mehr an medialer Aufmerksamkeit gewann.
Ein langer Weg
Der Kontakt mit den betroffenen Lehrlingen bleibt jedoch schwierig. Viele trauen sich ihren Betrieb erst nach Lehrabschluss zu kritisieren. Die meisten wollen aus Angst um ihren Ausbildungsplatz keine weitergehenden Schritte wagen. Trotzdem versucht die UNIA Jugend diesen Jugendlichen Mut zu machen, sich zu wehren. Aus den Meldungen beim Lehrstellenpranger soll eine Petition entstehen, welche die grundlegenden Forderungen umfasst, die aus diesen Fällen hervorgehen. Am wichtigsten wird voraussichtlich die Forderung nach einer verdachtsunabhängigen Kontrolle der Lehrbetriebe durch die Lehraufsicht sein. Für einen grösseren Erfolg braucht es aber eine stärkere Organisierung, weshalb die nächste wichtige Massnahme eine nationale Lehrlingsmobilisierung sein soll. Ziel wird es sein, eine aktive Lehrlingsgruppe zu schaffen. Um dies zu erreichen, braucht die Kampagne eine breitere Unterstützung. Die JUSO Kanton Zürich und die JUSO Kanton Thurgau haben sich bereits dazu bereit erklärt, die UNIA Jugend in ihrem Kampf für die Interessen der Lernenden zu unterstützen. Ausserdem hat die JUSO Kanton Zürich ein Papier verabschiedet, in dem sie eine engere Zusammenarbeit mit der Gewerkschaftsjugend als Ziel formuliert.
Der Lehrstellenpranger ist der erste richtige Schritt auf einem langen Weg mit dem Ziel, die Lernenden zu organisieren. Es muss erkennbar werden, dass die Lehraufsichten und die Unternehmen fest miteinander verbunden sind. Das erfolgreiche duale Berufsbildungs-System lebt vom hohen Engagement, welches die Jugendlichen tagtäglich zeigen. Diese Arbeit muss endlich wertgeschätzt werden, indem auf finanzieller und rechtlicher Ebene deutliche Verbesserungen geschehen. Denn für uns ist klar: Lehrjahre sind keine Billigware.
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