In unserem letzten Artikel beschrieben wir die Hintergründe der Massenbewegung, die sich rund um das Unabhängigkeitsreferendum Kataloniens am 1. Oktober entwickelt hat. Die Situation spitzt sich weiter zu.
Am 22. Oktober 2017 marschierten 450.000 Menschen (laut Polizeiangaben) durch Barcelona, während sich Zehntausende in anderen Städten und Gemeinden in ganz Katalonien versammelten, um die Freilassung der „zwei Jordis“ zu fordern, und um gegen den Artikel-155-Putsch zu protestieren, den der spanische Premierminister Mariano Rajoy am Morgen angekündigt hatte.
Bei den „zwei Jordis“ handelt es sich um Jordi Sánchez (Parlamentarier Kataloniens) und Jordi Cuixart (Katalanisches Kulturinstitut), die wegen „Verhetzung“ festgenommen wurden, weil sie zu friedlichen Demonstrationen für Unabhängigkeit aufgerufen haben. Der Strafbestand sowie das Gericht, das ihren Fall behandelt, sind direkt von der Franco-Diktatur übernommen und behandeln „Verbrechen gegen den Staat“. Der Artikel 155, den Rajoy einsetzen will, um direkte Machtausübung über Katalonien durchzusetzen, wurde seit Einführung der neuen Verfassung 1978 noch kein einziges Mal verwendet und wird selbst in bürgerlichen Medien als die „nukleare Option“, also als unverhältnismässige und schockierende Massnahme bezeichnet.
Am Ende einer Ministerratssitzung hatte Rajoy die Details der Massnahmen angekündigt, die seine Regierung ausführen will und über die voraussichtlich am 26. oder 27. Oktober abgestimmt werden wird. Diese Massnahmen stellen einen Putsch gegen die Demokratie in Katalonien dar. Rajoy möchte das katalanische Parlament auflösen (innerhalb von 6 Monaten oder früher, sobald sich die Situation „normalisiert“ hat), den katalanischen Präsidenten, den Vize-Präsidenten und alle katalanischen Minister entlassen, die Regierungsgeschäfte über Katalonien direkt aus Madrid übernehmen und die Vollmachten des katalanischen Parlaments beschneiden, während auf Wahlen gewartet wird. Das Parlament soll dann nicht mehr das Recht haben, einen Präsidenten zu wählen, kann kein Misstrauensvotum gegen Behörden aussprechen und jedes Gesetz, worüber es abstimmen will, muss davor vom spanischen Senat abgesegnet werden, welcher absolutes Vetorecht hat.
Über diese allgemeinen Massnahmen hinaus wird die spanische Regierung auch die Macht haben, die katalanische Polizei, Finanzen, Telekommunikation und die katalanischen öffentlichen Medien zu kontrollieren (um deren „Neutralität“ sicherzustellen). Was hier vorgeht, ist ein absoluter Skandal, bei dem die spanische Volkspartei (PP), die in Katalonien nur 8,5% der Stimmen bekommen hat, aber in der spanischen Zentralregierung regiert, die absolute Kontrolle über das katalanische Parlament erhält.
Prominente PP-PolitikerInnen haben verkündet, dass in Katalonien bei kommenden Wahlen jene Parteien, die für Unabhängigkeit stehen, nicht zugelassen werden sollen. Wenn du eine Wahl nicht gewinnen kannst, entferne deine Gegner!
Die vorgeschlagenen Massnahmen wurden von der PSOE (der Sozialdemokratie), und „Cs“ („Ciudadanos“, also „BürgerInnen“) abgenickt und erhielten natürlich auch den Segen des Königs. Wir sehen hier keine einfache „Massnahme“ der PP-Regierung, sondern eine defensive Abwehrreaktion des gesamten 1978-Regimes (jenes Regimes, das nach dem Zusammenbruch der Franco-Diktatur aus der Taufe gehoben wurde).
Die katalanischen Regierungsparteien PDeCAT (konservativ) und ERC (sozialdemokratisch), sowie der CUP (linkes Bündnis), CSQP und die Comuns (Zusammenschluss aus Podemos, den Vereinten Linken und den Grünen) verurteilten die Massnahmen hingegen als Putsch gegen Demokratie. Auch eine Reihe prominenter PSC (katalanische PSOE)-Bürgermeister haben einen Brief gegen die Massnahmen unterzeichnet und der PSC-Bürgermeister aus Santa Coloma trat aus Protest aus dem gemeinsamen Bundesausschuss zurück. Der brutale Charakter der vorgeschlagenen Massnahmen belastete auch das Bündnis der Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, mit der PSC im Stadtrat. Die bürgerlich-nationalistische Partei des Baskenlandes, PNV, welche die PP-Regierung in Spanien eigentlich unterstützt, hat sich ebenfalls gegen die vorgeschlagene Anwendung des Artikels 155 ausgesprochen.
Der katalanische Präsident Carles Puigdemont reagierte auf diese Drohungen, indem er am 19. Oktober einen Brief an Rajoy schrieb: Er sei gezwungen, die Unabhängigkeit zu erklären, sollte Artikel 155 wirklich eingesetzt werden. Wie wir bereits in unserem letzten Artikel analysierten, hat die konservative Regierungspartei PDeCAT kein wirkliches Interesse an Unabhängigkeit und wurde nur durch die Massenbewegung bis zu diesem Punkt getrieben: Nachdem sich das katalanische Volk am 1. Oktober im Kampf gegen brutale Repression zu 92% für die Unabhängigkeit ausgesprochen hatte, haben Puigdemont und seine Regierung die Erklärung der Unabhängigkeit wieder und wieder verschoben, nachdem sie ursprünglich binnen 48 Stunden nach dem Referendum hätte verkündet werden sollen. Stattdessen sieht man halbe Massnahmen, wie die „Aussetzung des Inkrafttretens“ der Unabhängigkeitserklärung, Aufrufe zum „Dialog“ mit der Regierung, die hunderte KatalanInnen ohne Not krankenhausreif geprügelt hat, Schweigen gegenüber Aufforderungen der Zentralregierung, Puigdemont möge seine Position klarstellen usw.
Daraufhin kündigte der Staatsanwalt an, dass Puigdemont wegen „Rebellion“ angeklagt würde, sollte er als Antwort auf die Massnahmen die Unabhängigkeit erklären. Dieser Tatbestand bedeutet 30 Jahre Freiheitsstrafe und möglicherweise Hausarrest bis zur Abhaltung der Gerichtsverhandlung. Dasselbe Schicksal droht auch den katalanischen Regierungs- und Parlamentsabgeordneten, sollten sie einer Unabhängigkeitserklärung zustimmen.
Doch der Druck von der Basis der Bewegung zur Ausrufung der Unabhängigkeit und zur Organisierung eines massenhaften zivilen Ungehorsams, um sich gegen die Massnahmen zu wehren, lässt nicht nach. Die Forderung nach einem erneuten Generalstreik ist weit verbreitet. Die Referendums-Verteidigungskomitees, die tausende Menschen rund um das Referendum spontan gebildet haben, mobilisierten aus unterschiedlichen Städten und Bezirken für die Demonstration. Am 14. Oktober fand erstmals eine nationale Versammlung der Verteidigungskomitees statt, und nach den Diskussionen der letzten Tage forderten sie die Erklärung der Unabhängigkeit.
Die Demonstration am 22. Oktober war gigantisch. Züge nach Barcelona waren gestopft voll und die gesamte Demo-Route war bereits vor Beginn mit Menschen gefüllt. Die Stimmung war zornig und trotzig. Eine bedeutsame Anzahl politischer Führungspersönlichkeiten, die gegen die Unabhängigkeit sind und auch gegen eine einseitige Verkündung der Unabhängigkeit seitens Kataloniens argumentiert haben, nahm dennoch an der Demonstration teil.
Um 19:30 Uhr, nach Abschluss der Demonstration, verlautbarte das Parlamentsbüro Kataloniens die Ablehnung der Massnahmen und verkündete, dass das Parlament nicht nachgeben werde. Etwas später, um 21:00 Uhr, gab Puigdemont im Fernsehen ein Statement ab, in dem er ebenfalls die Massnahmen ablehnte und verkündete, dass das katalanische Parlament die Lage diskutieren werde. Bezeichnenderweise verkündete er noch immer nicht die Unabhängigkeit und sagte auch nichts davon, dass das Parlament es tun werde. Er erwähnte keinerlei konkrete Schritte seiner Regierung gegen die Massnahmen.
Wenn eine katalanische Republik ausgerufen wird, wie kann sie verteidigt werden? Es ist offensichtlich, dass die EU, auf deren Hilfe die katalanische PDeCAT- und ERC-Regierung so hofft, sich nicht für demokratische Rechte einsetzen oder den Status Quo durcheinanderbringen wird.
Eine Republik kann nur mit revolutionären Mitteln verteidigt werden. Wenn die katalanische Regierung und die Mehrheit im Parlament es damit ernst meinen, sollten sie die Unabhängigkeit erklären und den Widerstand organisieren, sich in den Regierungsgebäuden verbarrikadieren und die Massen dazu auffordern, die Regierungsgebäude, die demokratischen Institutionen durch Massendemonstrationen, zivilen Ungehorsam und einen revolutionären Generalstreik, der die Wirtschaft lahmlegt, zu verteidigen. Die linke CUP und die Verteidigungskomitees haben die Pflicht, diese Perspektive zu präsentieren und vorzubereiten, ohne dabei auf die katalanische Regierung zu warten, denn die Unentschlossenheit der bürgerlichen und kleinbürgerlichen PolitikerInnen ist restlos bewiesen.
Die Führung der linken Massenpartei Unidos Podemos hat ebenfalls eine schwerwiegende Verantwortung. Ihre Positionierung in den letzten Wochen war skandalös. Auch sie riefen zum „Dialog“ auf und bezichtigten beide Seiten als „unverantwortlich“ – wobei die spanische „Seite“ hier mit Polizeigewalt, Militär und Justiz gegen eine demokratische Entscheidung einfacher Menschen vorgeht. Stattdessen sollten sie den fundamental undemokratischen Charakter des 1978-Regimes erklären und einen Kampf zur Verteidigung der demokratischen Rechte Kataloniens organisieren, und diesen mit dem Kampf gegen kapitalistische Sparmassnahmen, für mehr Jobs und leistbares Wohnen und Essen verbinden, und so dem 1978er-Regime den Garaus machen.
In Katalonien hat sich eine revolutionäre Chance aufgetan. Die Frage ist: Wird die Bewegung eine Führung erhalten, die der Herausforderung gewachsen ist?
MarxistInnen stehen bedingungslos für das Recht auf Selbstbestimmung der katalanischen Bevölkerung und treten für eine katalanische, sozialistische Republik ein, die als Funke dient, um eine revolutionäre Bewegung auf der gesamten iberischen Halbinsel auszulösen.
Jorge Martin
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