Die Krise des Kapitalismus ist nicht nur eine Krise der Wirtschaft, der Konzerne, Börsen und Banken. Sie ist auch eine moralische Krise. Sie schlägt sich auch in allen Institutionen des kapitalistischen Systems nieder, ob in Staaten, Parteien oder eben in der Kirche.
Täglich werden irgendwo auf der Welt neue Skandale ans Tageslicht gezerrt: Korruption, Vetternwirtschaft, Machtmissbrauch und Schlimmeres kriechen aus allen Ecken und Enden hervor und zerstören langsam aber sicher das Vertrauen in die Institutionen der Klassenherrschaft. Der neue Papst schlägt mit seiner demonstrativen Bescheidenheit im Sumpf der Krise angenehm moralische Töne an, und macht dafür auch vor Systemkritik nicht halt. Was soll das Ganze?
Krise des Systems – Krise der Kirche
Ob Brasilien, Argentinien, Venezuela, Mexiko oder Bolivien, ob Spanien, Portugal, Italien oder Frankreich, ob Slowenien, Ungarn oder Kroatien, ob Gabun, Kongo oder die Philippinen: die Bevölkerung der katholischen Nationen befindet sich in Aufruhr. Die soziale Krise dieser Länder verschärft sich zusehends, beinahe täglich können wir Meldungen von Streiks, Staatskrisen und Massendemonstrationen verfolgen. Die arbeitende Klasse und die armen Bauern verlieren in der Krise ihre Lebensgrundlage. Der Kapitalismus ist zusehends weniger in der Lage, den unterdrückten Massen der Menschheit ihren Lebensunterhalt zur Verfügung zu stellen. Die Bewegung der Massen geht auch der Katholischen Kirche nicht vorbei, kann nicht an ihr vorbeigehen.
Von einer Organisation, die 2000 Jahre lang besteht, lässt sich einiges lernen: Die Katholische Kirche ist eine der erfolgreichsten, grössten und mächtigsten Organisationen in der Geschichte der Menschheit. Aus jedem Sturm und jeder Krise ist sie noch mehr oder weniger unbeschadet herausgekommen. Trotz aller Skandale, trotz aller Heuchelei, trotz aller moralischen Bankrotte gehört der Katholischen Kirche noch immer ein Sechstel der Weltbevölkerung an, betrieben durch einen gigantischen Apparat von 1,2 Millionen Menschen, ihr direkt unterstellte Priester, Mönche und Nonnen. Ungezählte Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt in indirekt für sie arbeitenden Organisationen. Allein in den USA arbeiten mehr als 1 Million Menschen direkt oder indirekt für die Katholische Kirche.
Trotz alledem: Die Kirche steht unter mächtigem Druck, einerseits ist es um die Finanzen nicht unbedingt zum Besten gestellt (siehe, Artikel unserer österreichischen Schwesterzeitung zum Rücktritt von Benedikt XVI), andererseits kann sich auch die Kirche nicht den historischen Bewegungen der Gesellschaft entziehen. Statt über der materiellen Welt zu schweben, steht sie auf und entsteht immer wieder neu aus ihr. Die Kirche kann sich, aller „göttlichen Weihe“ zum Trotz, der Realität nicht entziehen. Sie ist in die an Intensität zunehmenden „schmutzigen“ Verteilkämpfe der materiellen Welt involviert, nimmt daran teil, und nimmt Einfluss auf diese.
Wer 1,2 Milliarden zahlende Mitglieder hat, kriegt unweigerlich zu spüren, was es heisst, wenn sich die Massen bewegen. Die vielen, vielen Stimmen, die nach Brot oder Reis, nach einer Wohnung, nach ihren Rechten, nach anständigem Lohn und annehmbaren Arbeits- und Lebensbedingungen rufen, müssen sich in irgendeiner Form in der Kirche manifestieren.
Die Rolle von Franziskus
Der neue Papst hat das verstanden. Den Skandalen der letzten Jahre, dem moralischen Bankrott der Kurie, der Priester, der kirchlichen Institutionen, versucht er eine neue Bescheidenheit entgegen zu setzen, die sogar vor Kritik am Kapitalismus keinen Halt macht. Das kommt bei den Massen gut an. Der neue Papst ist populär geworden. Sogar Linke finden ihn gut. Doch die Katholische Kirche bleibt die Katholische Kirche. Sie kämpft weiterhin gegen Homosexualität, gegen Kondome und Abtreibung, unterstützt weiterhin rechte Putschregierungen wie in Honduras. Sie ist und bleibt eine wichtige ideologische und organisatorische Stütze der herrschenden Klasse.
Wenn der Papst den Kapitalismus kritisiert, macht er das nicht, weil er heute mit dem falschen Bein aus dem Bett aufgestanden ist. Er macht das auch nicht, weil ihm Gott, Jesus oder die heilige Maria Mutter Gottes etwas eingeflüstert hätten. Und noch viel weniger kritisiert er das System, um damit irgendeine Form von revolutionärer Umgestaltung zu bewirken. Vielmehr ist es der Druck der aufgebrachten Massen, der die Kirche zwingt zum Kapitalismus Stellung zu nehmen. Es war schon immer die Rolle der Religionen und ihrer Institutionen, die Massen einzuschläfern, ihre Bewegungen und Forderungen für das Diesseits zu diskreditieren, ihre Existenz auf ein Schattenboxen um die Einhaltung von unmöglich einzuhaltenden Regeln zu reduzieren, welches die Privilegien der Besitzenden nicht im geringsten zu berühren imstande ist. Auch mit dieser Kritik am Kapitalismus ändert sich daran nichts. In letzter Instanz kritisiert Franziskus die offensichtlichen Ungerechtigkeiten des Kapitalismus, um die erwachten Massen wieder einzuschläfern, um die Macht der Kirche zu schützen.
Auf die Praxis kommt es an
Den Kapitalismus zu kritisieren ist noch keine revolutionäre Tat. Im Gegenteil, dient hier die Kapitalismuskritik doch reaktionären Zwecken. Erst die praktischen Schlussfolgerungen sind es, die Kritik revolutionär machen. Die kapitalistischen Widersprüche so zu lösen wie der Papst, indem man einfach zu mehr Glauben aufruft, ist weder fortschrittlich noch revolutionär. Weder am System noch an einem einzigen konkreten Fall von Unterdrückung wird diese Kritik irgendetwas ändern.
Trotzdem: Den SozialistInnen leistet der Papst einen grossartigen Dienst. Er macht die Kritik am Kapitalismus populär, er trägt sie bis weit in die bürgerlichen Medien hinein. Er trägt sie in die Wohnzimmer, in die Schulen, in die Betriebe, er trägt sie in die Köpfe der Jugend und der arbeitenden Klasse. Mit seiner Kritik stösst er unzählige Diskussionen in unzähligen Schulklassen, Kirchgemeinden, Nachbarschaften, Kantinen und Freundeskreisen an. Ob die Menschen dabei seinen Schlussfolgerungen folgen, ob sie sich in ihrer Praxis damit zufrieden geben, einfach nur mehr zu glauben, ist fraglich. In der aktuellen Situation wird jede Kritik am Kapitalismus, so unvollständig, unfertig und reaktionär sie schlussendlich auch sein mag, bei den fortschrittlichsten ArbeiterInnen und Jugendlichen das Bedürfnis nach dem kapitalismuskritischen Original wecken. Wir können davon ausgehen, dass sich beim Wort „Kapitalismuskritik“ gefragt wird, woher sie denn tatsächlich stammen mag, dass dank zunehmender Kapitalismuskritik aus konservativen und reaktionären Kreisen die marxistische Analyse mit den folgerichtigen revolutionären Schlussfolgerungen verstärkt nachgefragt werden wird. Der Papst hilft uns Linken dabei Kapitalismuskritik einfacher anzubringen, er sorgt dafür, dass sie von den ArbeiterInnen und Arbeitern besser aufgenommen wird, dass Widerstände gegen jede Form von Kapitalismuskritik dahinschmelzen. Wenn die neue Rhetorik des Papstes auch kurzfristig die Kirche zu neuer Popularität verhilft: die Kapitalismuskritik des Genossen Franziskus stärkt am Ende die Linke.
Zum Weiterlesen: Die Kapitalismuskritik vom Papst im Original (Im PDF, Seite 51 bis 58)
Arbeiterbewegung — von Martin Kohler, Bern — 10. 10. 2024
Nah-Ost — von Revolutionäre Kommunistische Internationale (RKI) — 09. 10. 2024