Wir befinden uns an einem Wendepunkt der Geschichte: Pandemie, Ukrainekrieg, Inflation und Streikwellen rütteln das Bewusstsein von Millionen auf. Wie ist es möglich, dass der Krieg in der Ukraine weltweit solch enorme Erschütterungen auslöst?
Mit dem Marxismus besitzen wir ein Werkzeug, das uns eine Einsicht in die tieferliegenden Tendenzen des Systems erlaubt. Die Ereignisse an der Oberfläche – ob Inflation, verstärkte Rivalität zwischen den USA und China oder Bitcoin-Einbruch – können nur verstanden werden, wenn wir die tieferliegenden, zunehmenden Widersprüche des Weltkapitalismus erkennen. Nicht aus akademischem Interesse, sondern weil diese Entwicklungen die Basis bilden, auf der sich die grossen kommenden Klassenkämpfe abspielen werden. Und eine Welle an Kämpfen rollt bereits heute über den Globus!
Nach der ersten grossen Krise der Nachkriegszeit in den 1970ern gab es zwei zentrale Tendenzen, welche den Kapitalismus wieder stützen: Die Globalisierung und die enorme Ausdehnung von Krediten.
Die Globalisierung führte in den letzten 50 Jahren zu einer Verbilligung der Produktion: Die enorme internationale Arbeitsteilung reduzierte Kosten, moderne Riesenfabriken erhöhten die Produktivität. Die Absatzmärkte wurden weltweit ausgebreitet, die Löhne gesenkt. All das erlaubte den Grosskonzernen Milliardenprofite.
Daneben erweiterte der Kredit künstlich den Markt. Nach 2008 wurde diese Politik weiter auf die Spitze getrieben. Die Märkte wurden mit billigem Geld geflutet, um kurzfristig die wirtschaftliche Stabilität zu sichern. Jedoch nahm die Verschuldung deswegen weltweit rasant zu. Negativzinsen und Quantitative Easing sind eindrückliche Beispiele dafür, wie die Bourgeoisie ihre Krisen nicht lösen kann. Sie kann sie nur hinauszögern und bereitet damit grössere Krisen vor.
Mit einem längerfristigen Blick können wir erkennen, dass diese Entwicklungen bereits seit geraumer Zeit ihre Grenzen erreicht haben. Das Wachstum des Welthandels und die Globalisierung erreichten um 2008 eine Höchstmarke und stagnierten seither. Jetzt sind wir in eine neue Periode eingetreten. Dieser Richtungswechsel bildet die Basis für eine neue historische Periode.
Was ist die Grundlage dieser Kehrtwende? Krisen sind im Kapitalismus eine Notwendigkeit. Das Profitmotiv und die Konkurrenz führen zwangsweise zur Überproduktion. Weil Profit auf der Ausbeutung der Lohnabhängigen fusst, werden notwendigerweise mehr Waren produziert, als der Markt absorbieren kann. Erreicht die Produktion die Grenze des Marktes, führt dies zur Krise.
Latent ist dies schon seit Jahrzehnten der Fall. Das Kapital sucht vergebens nach profitablen Investitionsmöglichkeiten. Doch die Situation führte nicht zum finalen Einbruch des Marktes: Verschiedene Faktoren und bewusste Massnahmen der Kapitalisten erlaubte über mehrere Jahrzehnte eine relative Stabilisierung – insbesondere über die «Globalisierung» und die Verschuldung. Als MarxistInnen erklärten wir aber immer, dass eine langfristige Stabilisierung ausgeschlossen ist. Im Gegenteil: Wir befinden uns in einer organischen Krise des Kapitalismus. Vor uns steht ein jahrzehntelanger Niedergang. Und heute sehen wir, wie genau jene Faktoren, die in der Vergangenheit diese relative Stabilisierung bewirkten, den gegenteilige Effekt haben: Sie multiplizieren die Instabilität.
Heute führt die extreme internationale Verflechtung der Handelsströme zur engen Verflechtung der Krisen. Der Lockdown im Hafen von Shanghai hatte einen riesigen Einfluss auf jede Volkswirtschaft der Welt. Genauso haben die Sanktionen gegen Russland, die im Zuge des Ukrainekrieges verabschiedet wurden, Konsequenzen, die alle Länder betreffen.
Eine schwerwiegende Folge des Krieges ist die sprunghafte Intensivierung der Blockbildung zwischen den USA und Europa einerseits und China (und Russland) andererseits. Aber die wirkliche tiefere Grundlage davon ist nicht der Krieg, sondern der imperialistische Kampf der Grossmächte über einen stagnierenden Weltmarkt. Jede Seite will sich ihren Anteil sichern. Resultat davon ist eine Fragmentierung des Marktes.
Die Stagnation der Weltmärkte spitzt die ökonomischen Widersprüche zu. Jede nationale Bourgeoisie verteidigt die eigenen Interessen. Die panische «Überprüfung» der Lieferketten aller grosser Unternehmen und die Verschiebung der Produktion näher zum Absatzmarkt ist nichts anderes als Protektionismus. Dass der US-Präsident Biden die protektionistische Politik des «America First» von Trump faktisch weiterführt, beweist, wie eng der Rahmen ist, der von den objektiven, ökonomischen Zwängen vorgeben wird. Diese Zwänge sind entscheidender als der Charakter der Individuen.
Doch ihre Entscheide, welche die interne Spannungen der Länder abschwächen sollen, befeuern oftmals die weltweiten Wiedersprüche zusätzlich! Die Kapitalisten sind sich dessen bewusst – doch der angeheizte Kampf um einen stagnierenden Weltmarkt erlaubt keine andere Lösung.
Die aktuelle Zuspitzung führt zu einer rabiaten Umkehrung jahrzehntealter Tendenzen: Anstatt Globalisierung dominieren heute Protektionismus und «zurückgeholte» Lieferketten. War der Weltmarkt lange ein Faktor der Stabilität, bringt der zunehmende, teilweise bewaffnete Kampf um Märkte heute Instabilität.
Zusätzlich führt das zur Verteuerung der Produktion. Das drückt auf die Profite – oder befeuert durch Preiserhöhungen die Inflation.
Dass die enormen geldpolitischen Massnahmen der letzten Jahre zuvor keine Inflation provoziert hatten, war eine Ausnahme, die sich teilweise gerade aus der latenten Überproduktion erklärt. Waren werden durch die Überproduktion verbilligt. Weil ausserdem profitable Investitionschancen fehlten, wurde billiges Geld weder investiert noch erreichte es die Konsumenten. Es floss direkt in die Spekulation und versickerte dort. Deshalb führte das zusätzliche Geld nicht zur Inflation der Konsumgüter.
Alle diese Faktoren drehen sich heute um: Rückläufige Globalisierung erhöht die Preise; Helikoptergeld und Kurzarbeit führten nach den Lockdowns zu erhöhtem Konsum und die Gelder erreichten somit die Realwirtschaft; die Spekulation, z.B. in Bitcoins, bricht teilweise zusammen. Dieser Cocktail führt zur Inflation.
Verschiedene Faktoren dieser Inflation haben sich längerfristig festgesetzt – insbesondere der Protektionismus, die zerbrochenen Lieferketten und die Abhängigkeit des Marktes vom billigen Geld. Die Inflation wird daher nicht so schnell verschwinden. Sie wird die Instabilität vertiefen.
Der Ukrainekrieg ist nicht die Ursache der aktuellen Krise. Die Öl-, Weizen- und Transportpreise, sowie die Inflation, stiegen schon vorher an, genauso wie der Protektionismus bereits in der Periode davor zunahm. Auch wenn der Krieg selbst bereits Ausdruck der Krise ist, insbesondere der Krise des US-Imperialismus und der zunehmenden geopolitischen Spannungen, ist er vor allem ein «historischer Zufall». Also ein Ereignis, das allen bereits vorher akkumulierten Widersprüchen voll zum Durchbruch verhilft. Dass die Eskalation des Ukrainekrieges zu einem extremen Multiplikator und Katalysator aller negativen Tendenzen wurde, liegt in erster Linie an den scharf zugespitzten Widersprüchen im Kapitalismus, und erst danach an Ukrainekrieg selber!
Heute sind die Kapitalisten wegen der Inflation zu Zinserhöhungen gezwungen (siehe Analyse „Zinserhöhungen läuten neue Periode des Klassenkampfes ein„). Die herrschende Klasse steht vor der Wahl zwischen Pest oder Cholera, zwischen Inflation oder Rezession, oder wahrscheinlicher: beidem gleichzeitig. Die Situation – für die sie selber verantwortlich sind – lässt ihnen keinen Ausweg.
Die Kapitalisten ernten heute, was sie in den letzten Jahrzehnten gesät haben. Mit extremen Massnahmen versuchten sie, die Wirtschaft zu stützen und sich damit soziale und politische Stabilität zu erkaufen. Diese haben ihre Grenzen erreicht und eine langfristige Stabilisierung ist ausgeschlossen.
Doch nicht nur die Kapitalisten stehen mit dem Rücken zur Wand. Das gleiche gilt für die Arbeiterklasse. Das Hochschnellen der Inflation führt in vielen Ländern zu erbitterten Kämpfen zur Verteidigung der Kaufkraft. Das Ausmass der Streikwelle übertrifft alles, was wir in den letzten 40 Jahren gesehen haben.
Den grössten Effekt auf das Bewusstsein der Arbeiterklasse hat nicht die Krise an sich, sondern die zahlreichen jähen Wendungen, welche wir in schneller Abfolge erleben: Pandemie, Lockdown, Krise, Aufschwung, Inflation, Krieg, erste Anzeichen von Rezession. Gemeinsam mit der Erkenntnis, dass die Kapitalisten während der Pandemie keinerlei Rücksicht auf die Lohnabhängigen nehmen, führt dies zu einem klareren Bewusstsein, dass man den Kampf zur Erhaltung der Kaufkraft selbständig führen muss, als Belegschaft in Konfrontation mit dem Management.
Die Inflation erreicht insbesondere in den westlichen Ländern ein seit 40 Jahren unbekanntes Niveau. Deshalb finden dort grosse Streiks statt: In den USA bereits im letzten Oktober, heute in den explosiven Organisationskampagnenen bei Amazon, Starbucks und Apple. In Grossbritannien – wo die Inflation 9 % erreicht – spricht man bereits von einem «Sommer der Unzufriedenheit», mit dutzenden Streiks und hunderttausenden Streikenden. Mit den angekündigten Streiks auf dem Bau, an den Flughäfen und im öffentlichen Verkehr in Genf hat diese Welle auch die Schweiz erreicht!
Erstens müssen wir festhalten, dass diese neue Ära der Kämpfe erst gerade begonnen hat. Die Sackgasse des Kapitalismus zwingt die Bourgeoisie zu weiteren Angriffen. Eine längere ökonomische Stabilisierung ist ausgeschlossen. Alle Zeichen stehen auf Sturm und auf direkte Konfrontation zwischen den Klassen.
Zweitens verschiebt sich die Aufmerksamkeit in der aktuellen Periode auf den gewerkschaftlichen Kampf. Im vergangen Jahrzehnt testete die Arbeiterklasse eine Generation an Linksreformisten aus: Bernie Sanders in den USA, Podemos in Spanien, Syriza in Griechenland, Corbyn in Grossbritannien, etc. Alle diese Versuche, die Lebensbedingungen zu verbessern, sind gescheitert. Aus dieser Erfahrung – kombiniert mit der Inflation – konzentriert sich der Kampf heute auf die ökonomische Front.
Drittens hat diese Form des Kampfes einen Einfluss auf die politischen Schlussfolgerungen, welche gezogen werden. Ökonomische Kämpfe werden direkter als Klasse geführt. In Streiks spürt die Arbeiterklasse unmittelbarer die wahre Quelle ihrer Macht: ihre Position als schöpferische Klasse in der kapitalistischen Produktion. Das wird einen mächtigen Einfluss auf das Klassenbewusstsein haben.
In Europa ist der Zusammenhang zwischen den aktuellen Verwerfungen und dem Ukrainekrieg für alle offensichtlich. Die Bürgerlichen erklären, die Teuerung und gestiegenen Heizkosten seien der Preis, den man für «Freiheit und Demokratie» bezahlen müsse. Doch bei den Lohnrunden im Herbst sowie in den Streiks werden sich die ArbeiterInnen sehr gründlich überlegen, ob sie diese Überzeugung teilen. Die Welle an Kämpfen wird einen direkten Einfluss auf die Möglichkeiten der Regierungen der USA und der EU haben, den Ukrainekrieg unendlich weiterzuführen.
Die erst gerade angebrochene neue Periode wird Millionen von Lohnabhängigen in den Kampf reissen. Diese Erfahrung wird das politische Bewusstsein der Arbeiterklasse grundlegend umkrempeln. Dieser Prozess wird schlussendlich die Basis dafür legen, dass sich auch die konservativen Massenorganisationen, insbesondere die reformistischen Gewerkschaften, grundlegend verändern werden.
Die entscheidende Frage ist, welche politischen Schlussfolgerungen die kämpfenden Arbeiter und Arbeiterinnen aus ihren Siegen und Niederlagen ziehen werden. Die Antwort darauf wird nach einer ganzen Periode an Auseinandersetzungen darüber entscheiden, wer für diese Krise bezahlt. Die neue Epoche bricht mit einer Welle an gewerkschaftlichen Kämpfen an. Doch das wird nicht ewig so bleiben. Der Kampf wird zwangsweise auf die politische Ebene zurückkommen. Ohne ein wissenschaftlich-sozialistisches Programm können in dieser Periode keine Siege errungen werden. Die Kämpfe erlauben uns, überzeugend darzulegen, dass nur ein marxistisches Programm diese Kämpfe zu ihrem Sieg führen kann. Die Aufgabe von RevolutionärInnen ist es, so schnell wie möglich die fortgeschrittensten KämpferInnen von dieser Perspektive zu überzeugen. Nur wenn uns dies gelingt, wird der Marxismus einen Einfluss darauf haben, dass die Schlussfolgerungen der kämpfenden Arbeiterklasse den Weg zur Revolution eröffnen!
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024
Europa — von Jack Halinski-Fitzpatrick, marxist.com — 11. 11. 2024