In Syrien gehen die Massen der Arbeiterklasse gegen das Regime auf die Strasse. Nach dem Scheitern der Revolution von 2011 und den traumatischen Jahren des Krieges sind das die ersten Anzeichen für das Wiederaufleben des Klassenkampfes.
Am 16. August verabschiedete das syrische Regime eine neue Resolution, die die Preise von Treibstoff um bis zu 200 Prozent anhebt. Diese Massnahme vertieft das Leid der syrischen Bevölkerung, von der 80 % unter der Armutsgrenze lebt. Sie hat zu einer starken Reduktion der Kaufkraft geführt. Viele Syrer sind nicht einmal mehr in der Lage, Brot zu kaufen. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die verarmte syrische Bevölkerung wurde nach einer langen Periode der Inaktivität wieder auf die Strassen gedrängt.
In Sweida, im Süden Syriens, legte vor ein paar Wochen ein Streik das öffentliche Leben völlig lahm. Die Demonstrationen erreichten in ihrer zweiten Woche ihren Höhepunkt, als tausende demonstrierten. Das befeuerte wiederum Proteste in anderen syrischen Städten wie Daara, Idlib, Deir ez-Zor und Aleppo aus.
Der Brennpunkt der Proteste bleibt weiterhin Sweida. In dieser Provinz gehören 95 % der Bevölkerung der religiösen Minderheit der Drusen an. Die Drusen hatten sich kaum an den Protesten von 2011 beteiligt. Der Grund dafür liegt hauptsächlich in der Rolle der liberalen Führung (sowohl der säkularen wie der islamistischen). Diese politische Führung – zuerst in der Form des Syrischen Nationalrats, später in der Oppositionskoalition – wurde durch die Imperialisten unterstützt und diente als Werkzeug, um ihre imperialistische Agenda in Syrien durchzusetzen.
Die Konsequenzen der imperialistischen Interventionen in Libyen, im Irak und in Afghanistan haben einen bleibenden Eindruck in den Köpfen der Massen hinterlassen. Schon in den ersten Monaten der Revolution 2011 waren Forderungen nach einer ausländischen Intervention laut geworden. Für das Assad-Regime war es leicht, dies für sich selbst auszuschlachten, indem es sich auf die anti-imperialistische Einstellung der Mehrheit des syrischen Volkes stützte sowie auf die Ängste von religiösen und ethnischen Minderheiten, dass die Dschihadisten eindringen würden – was später dann auch tatsächlich geschah. Diese Taktik wird auch heute noch angewandt, um vom Klassenkampf abzulenken.
Im Jahr 2011 wurde die Bewegung in Syrien von der revolutionären Welle in den Nachbarländern beeinflusst. Aber selbst wenn der «Arabische Frühling» nicht ausgebrochen wäre, wäre die Revolution in Syrien früher oder später dennoch gekommen. Denn durch die Liberalisierung des Marktes und die Privatisierung der Wirtschaft, welche Bashar al-Assad seit seiner Machtübernahme im Jahr 2000 vorangetrieben hat, wurden viele staatlich geführte Industrien zerstört. Diese hatten einst eine grosse Zahl an Arbeitsstellen geboten. 10 Jahre nach der Einführung dieses Programms brachen die Landwirtschaft und die Industrie zusammen.
Die Demonstrationen im Jahr 2011 begannen in den irregulären Wohngebieten an den Stadträndern. Dort wohnten Menschen, die Opfer der kapitalistischen Politik des Regimes geworden waren. Sie mussten vom Land wegziehen, weil sie ihre Einkommensquelle verloren hatten, sich aber gleichzeitig nicht leisten konnten, in den Grossstädten zu leben. Da jedoch eine revolutionäre Führung fehlte, wurde der Klassenkampf abgefedert und auf einen einzigen Slogan reduziert: «Das Volk will die Regierung stürzen!»
Heute ist die Situation anders. Nach der Erfahrung der bitteren Niederlage werden nun politische Forderungen zunehmend mit ökonomischen verbunden. In den letzten 12 Jahren hat sich das Klassenbewusstsein der syrischen Massen stark entwickelt. Dies zeigt sich in den Slogans, die in den letzten Protesten aufgestellt wurden. Protestierende hielten Banner mit der Aufschrift: «Das Leiden der Syrer ist das gleiche: Tyrannei, Armut und Arbeitslosigkeit»; und «Das Wohl meines Landes ist mein Recht und das Recht meiner Kinder». Andere Transparente forderten den Abzug aller imperialistischen Besatzer aus Syrien. Der Slogan lautete eindeutig: «Nein zur türkischen, russischen, iranischen und amerikanischen Besatzung: Alle raus, heisst wirklich alle raus!»
Eine weitere wichtige Eigenschaft, die die aktuellen Proteste auszeichnet, ist die starke Präsenz von Frauen in den vordersten Reihen. Eine Demonstrantin hielt ein Schild hoch, auf dem stand: «Ich habe meinen Sohn nicht geboren, um ihn zu verlassen.» Das widerspiegelt die Tatsache, dass Millionen von jungen Syrerinnen und Syrer wegen der unerträglichen wirtschaftlichen Situation das Land verlassen müssen. Nennenswert ist, dass in der Stadt Tartus eine pro-Regime-Veranstaltung organisiert wurde. Während die Organisatoren dieser Veranstaltung mit ihren Luxusautos, geschmückt mit Bildern von Bashar al-Assad, durch die Strassen von Tartus fuhren, demonstrierten die Armen gegen das Regime.
Der Klassengegensatz wird so auf der Strasse offengelegt. Das Problem bis jetzt ist, dass es keine Organisation gibt, die in der Lage wäre, die Interessen der Arbeiter, Bauern und Armen zu bündeln. Deshalb stehen die Massen immer noch unter dem Einfluss religiöser, ethnischer, nationalistischer und reformistischer Strömungen. Dies hat auch zu einem Aufschwung konterrevolutionärer Kräfte geführt, die versuchen, die Stimmung für sich auszunutzen.
Haitham Al-Maleh, der für seine Zugehörigkeit zur Muslimbruderschaft bekannt ist, publizierte einen Aufruf zu einer Demonstration. Wir (die IMT) stellen uns gegen die Muslimbruderschaft und jeden von ihr veröffentlichten Aufruf – nicht weil sie Muslime sind, sondern weil sie eine reaktionäre politische Organisation sind, die nichts mit den Interessen des syrischen Volkes oder seinen Forderungen gemein hat. Sie diente in der Vergangenheit als loyale Opposition und spielte nach 2011 im gesamten Nahen Osten eine konterrevolutionäre Rolle.
Die Muslimbruderschaft ist zwar gegen die momentan herrschende Elite, aber sie ist nicht gegen das kapitalistische System. Sie hat Angst vor der Möglichkeit, dass sich die Bewegung in Richtung Sturz des Regimes entwickeln könnte. Daher versucht sie mit allen Mitteln, die Bewegung innerhalb «akzeptabler Grenzen» zu halten. Dies erklärt ihre Manöver zur Unterwanderung der Proteste.
Andererseits gab die religiöse Führung der drusischen Gemeinschaft eine Erklärung ab, in der sie oberflächliche Reformen der Regierung, des Sicherheitsapparats und der Polizei fordert. Das führende drusische Gremium besteht aus einem dreiköpfigen Ausschuss. Zwei von ihnen gaben die Erklärung ab, der dritte (Scheich Hikmat Al Hijri) unterzeichnete sie nicht, sondern übernahm dann die Forderungen der Demonstranten.
Diese Forderungen der Demonstranten sind nicht einheitlich und stellen noch kein klares Programm dar, da sie spontan aus den Protesten hervorgegangen sind. Dazu gehören: Wiederherstellung der Treibstoffsubventionen, Sturz des syrischen Regimes, Freilassung der Gefangenen und Umsetzung der internationalen Resolution 2254.
Die letztgenannte Forderung (opportunistisch von der stalinistischen «Partei des Volkswillens» übernommen) widerspiegelt den noch unreifen Charakter der gegenwärtigen Bewegung. Sie sieht die Bildung einer Regierung vor, die aus Vertretern des Regimes, der opportunistischen Opposition und der zivilen Organisationen besteht. Mit anderen Worten: aus den drei Gruppen, welche die syrische Revolution von 2011 zerstört haben. Wir dürfen keine Illusionen in diese Damen und Herren haben!
Der Aufstieg islamistischer Bewegungen in Syrien in den letzten zehn Jahren hat dazu geführt, dass sich religiöse Minderheiten immer mehr abkapseln. Aufgrund des Fehlens einer klassenbasierten Führung, die die konfessionellen Grenzen überwindet, haben die Demonstrierenden aus Sweida Scheich Hikmat Al-Hijri als ihren Anführer ausgewählt. Die liberalen Oppositionellen bieten ihrerseits ihre üblichen «Lösungen» an, unter anderem eine ausländische Militärintervention.
Die Bewegung entwickelt sich weiterhin spontan. Die Führung beschränkt sich vorerst auf religiöse Persönlichkeiten, die noch vor wenigen Wochen Teil des syrischen Regimes waren. Das Fehlen einer revolutionären Organisation, welche die Bewegung anführen könnte, hat zum Aufstieg reformistischer und reaktionärer Strömungen auf der Strasse geführt. Das hat zur Isolation der Demonstrationen in der Region Sweida beigetragen.
Was wir erleben, sind die ersten Anzeichen dafür, dass die syrischen Massen – nach dem enormen Trauma der Konterrevolution und des imperialistischen Krieges, die ihre Häuser, ihre Lebensgrundlage und ihre Lebensbedingungen zerstört haben – sich wieder zu bewegen beginnen.
Im Moment werden diese Keime des Klassenkampfes von allen möglichen reaktionären Tendenzen gespalten und geschwächt. Das ist nur zu erwarten, wenn man bedenkt, dass es keinerlei klassenbasierte Partei oder Organisation gibt, die den Massen eine weitergehende Perspektive bietet.
Wenn die schrecklichen Niederlagen der Vergangenheit in Zukunft vermieden werden sollen, dann können sich die syrischen Massen nur auf ihre eigenen Kräfte verlassen. Neue Kampforganisationen der Arbeiterklasse müssen von Grund auf neu aufgebaut werden. Ein Programm radikaler wirtschaftlicher und sozialer Forderungen muss verbreitet werden. Nur so kann die Stimmung in der Gesellschaft aufgegriffen und die armen und ausgebeuteten Schichten eingebunden werden. So können ethnische und religiöse Spaltungen überwunden werden. Auf die so genannte «liberale Opposition», ist absolut kein Verlass. Sie sind weiter nichts als Handlager des Imperialismus. Den Kräften des religiösen Obskurantismus muss ein klares, klassenbasiertes Programm entgegengesetzt werden.
Letztendlich wird nur der Aufbau einer revolutionären kommunistischen Partei mit einer internationalistischen Perspektive einen Weg aus dem Sumpf von Krieg, Chaos und Armut bieten. Diese Partei muss in der Lage sein, die Massen im Kampf gegen das Regime und all die Kräfte der imperialistischen und religiösen Reaktion zum Sieg zu führen.
Das nächste Kapitel der syrischen Revolution wird sich nicht geradlinig entwickeln. Es wird Höhen und Tiefen, Erfolge und Rückschläge geben. Vereint mit den Brüdern und Schwestern ihrer Klasse werden die syrischen Massen den Kampf für den Kommunismus und die Freiheit im gesamten Nahen Osten und in Nordafrika wieder aufleben lassen.
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