Die Lage in Kuba ist sehr angespannt und komplex, und die Informationstage ist etwas widersprüchlich, aber einige Sachen lassen sich klar erkennen und festlegen. Eine erste Einschätzung von Jorge Martin.
Am Sonntag, den 11. Juli versammelte sich in der Stadt San Antonio de los Baños ein Straßenprotest, dessen unmittelbarer Auslöser einer der regelmäßig erfolgenden Stromabschaltungen war. Der herrschende Mangel an Grundbedarfsgütern, der Fall der Kaufkraft der Löhne und die Zuspitzung der COVID-Pandemie in der vergangenen Woche bilden den weiteren Hintergrund der Proteste.
Es ist daher klar, dass die Proteste einen genuinen Kern haben, der sich aus den realen Schwierigkeiten der Bevölkerung, das Leben zu gestalten, ergibt. Aber es gibt ein zweites Element. Seit einigen Tagen wird unter dem Hashtag #SOScuba eine Kampagne orchestriert, die das Ziel verfolgt, mit Straßenprotesten etc. soweit destabilisierend zu wirken, dass die Idee einer „humanitären Intervention“ um „Kuba zu helfen“ verankert wird. Die Komplexität der Lage wird durch diese politische Initiative logischerweise um einen weiteren Faktor erhöht.
Die Heuchelei der ProponentInnen, die die Kampagne lancieren, ist unfassbar. Wo existiert eine Kampagne für eine internationale Intervention in Brasilien, Peru, oder Ecuador, Länder die eine duzendfach höhere COVID-Mortalitätsrate als Kuba erleiden? Diese Kampagne ist ein sehr durchsichtiger Deckmantel, um eine internationale Intervention gegen die Revolution zu lancieren.
Auf den Straßenprotesten erhoben einige jenen Slogan, der von der Konterrevolution in den vergangen Monaten lanciert wurde: „Patria y Vida“ (Heimat und Leben), aber nach Berichten von Genossen aus San Antonio de los Baños blieb dieser Slogan in der Minderheit.
In den sozialen Netzwerken verbreitete sich die Information über die Proteste schnell. Konterrevolutionäre haben zu ähnlichen Protesten in anderen Städten aufgerufen. Vieles ist erfunden oder aufgebauscht, aber tatsächlich haben sich die Proteste auf andere Städte ausgeweitet. In diesen Ablegern ist der konterrevolutionäre Charakter der Proteste (die Slogans, die führenden Akteure) viel klarer auszumachen, als in San Antonio. Neben dem Slogan „Patria y vida” wurde hier auch „Nieder mit der Diktatur“, „Freiheit“ etc. skandiert.
Luis Manuel Otero Alcántara („LMOA“), der prominenteste Exponent der Konterevolution auf der Insel, hat aufgerufen, sich am Malecón, der Uferpromenade Havannas zu versammeln. Dieser Aufruf wurde von allen konterrevolutionären Medien in Miami (USA) und ihren Social-Media Abteilungen verbreitet. Vorerst folgten weniger als Hundert, im Laufe des Tages schwoll die Menge auf einige Hundert an, wobei unklar ist, wer sich dem Protest anschloss, und wer nur Zaungast auf diesem belebten Treffpunkt Havannas war. Internationale Medienagenturen, die den Protesten eine große Öffentlichkeit einräumen sprechen von „Hunderten“, die Nachrichtenagentur AP von mehreren Tausend, allerdings findet man nirgends Fotos oder Videos, die diese Schätzung untermauern könnten. AP informiert die Weltöffentlichkeit auch darüber, dass seine Person eine US-Flagge geschwenkt habe.
Der kubanische Präsident Díaz-Canel ist nach San Antonio de los Baños gefahren, wo er in den Straßen eine Deklaration abgab und anschließend in einer TV-Ansprache die Revolutionäre aufgerufen hat, auf die Straßen zu gehen. Dieser Aufruf wurde in vielen Teilen des Landes Folge geleistet, auch in Havanna, wo sich mehrere hundert versammelten. (Hier eine laufend aktualisierte Zusammenschau.)
Diese Beschreibung der Proteste gegen und für die Revolution können aus Mangel an Information Inkorrektheiten beinhalten, das Bild kann sich daher noch ändern. Und v.a. kann sich die Auseinandersetzung an sich weiterentwickeln.
In diesen Tagen kulminiert eine ganze Reihe von Problemen, einige haben einen historischen Charakter, andere sind konjunkturell.
Zu ersteren gehören: Die Blockade der USA, die Isolation der Revolution in einem unterentwickelten Land, die Bürokratie als sozialer Faktor.
Zu zweiteren Bündel gehören: die 150 Maßnahmen von Trump, um die Wirtschaft der Revolution zum Kollaps zu bringen (Biden hat keine Einzige dieser Maßnahmen zurückgenommen), der Impakt der Pandemie, hier v.a. der völlige Einbruch des Tourismus, der Hauptdevisenquelle der Wirtschaft.
Erschwerend kommen hinzu, dass die pro-marktwirtschaftlichen Reformen, die die Regierung unter dem Druck der Wirtschaftskrise anfangs des Jahres unternommen hat, die wirtschaftliche und soziale Lage akut verschärfen.
Zuletzt sorgt die Delta-Variante des Corona-Virus in einigen Provinzen für die bisher mit Abstand höchsten COVID-Zahlen in der Pandemie.
Welche Haltung müssen RevolutionärInnen in dieser Situation einnehmen? Wir müssen damit beginnen festzuhalten, dass die Proteste zu denen LMOA und ähnliche Elemente aufrufen, offen konterrevolutionär sind, auch wenn sie versuchen genuines Unwohlsein mit objektiv gegebenen extrem schwierigen Bedingungen zu kapitalisieren.
Die schlechte Stimmung in der Bevölkerung ist real und genuin. Proteste unter dem Slogan „Patria y Vida“ und „Nieder mit der Diktatur“ sind politischer Ausdruck der Konterrevolution. Dieser stellen wir uns entgegenstellen und verteidigen die Revolution.
Wir müssen hier eine klare Haltung zeigen und die Wahrheit sagen: wenn diese Proteste an Stärke gewinnen, und damit ihre Mentoren in Washington gewinnen, werden die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Probleme in Kuba nicht gelöst, sondern das Gegenteil passiert. Man schaue sich Brasilien unter Bolsonaro an.
Zweitens muss man ebenso klar sagen, dass die Methoden, mit denen die Bürokratie die Probleme der Revolution anpackt, nicht adäquat und in vielen Fällen völlig konterproduktiv sind, wie etwa die marktorientieren Reformen des „Ordenamiento Económico“, die die Kaufkraft der Löhne pulverisiert und das Angebot an Waren nochmals reduziert hat.
Auch die Methoden, mit denen die Bürokratie auf die Provokationen der Konterrevolution reagiert, sind in vielen Fällen kontraproduktiv. Zensur, bürokratische Restriktionen, Willkür sind keine geeigneten Mittel zur Verteidigung der Revolution. Was es vielmehr braucht, ist politische Debatte, revolutionäre ideologische Aufrüstung, Rechenschaftspflicht für Funktionäre, und Arbeiterdemokratie.
In der politischen Auseinandersetzung die in Kuba begonnen hat, stehen wir bedingungslos im Lager der Verteidigung der kubanischen Revolution. Bedingungslos heißt aber nicht unkritisch.
Jorge Martin, Redakteur von marxist.com
12.07.2021
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