Unter den Amerikanern macht sich Pessimismus breit. Laut Nachwahlbefragungen begrüssen bloss 26 % den Status Quo, während 72 % unbefriedigt oder sogar wütend sind. Trotz Börsenboom ächzt das Volk unter der fortwährenden Krise. 78 % leben von Lohn zu Lohn. Was 2020 noch 100 Dollar kostete, kostet jetzt 120,54 Dollar. Die Mieten sind um 30 % angestiegen. 800 Milliardäre besitzen mehr Vermögen als die gesamte untere Hälfte der Nation.
Biden gewann 2020 mit Versprechen von Stabilität und Reform. Was haben er oder seine Partei gemacht, um die Preise zu senken und den Wohnraum zu vergünstigen? Für eine allgemeine Gesundheitsversorgung? Für Frieden in Europa und im Nahen Osten? Haben sie, wie versprochen, dem rassistischen Polizeiterror ein Ende gesetzt, der zum Tod George Floyds und Tausender anderer führte? Kurz gesagt – verbesserte die Regierung Biden in irgendeiner bedeutsamen Form das Leben der Arbeiterklasse?
Im Gegenteil: Bidens Amtszeit war von seit Generationen ungesehener Inflation geprägt. Er provozierte einen Krieg mit Russland und stellte Netanjahu einen Blankoscheck für Gaza aus. Die Ölindustrie durchlebte eine Rekordblüte. Über 90 % der Städte und Landkreise haben seit 2020 ihre Polizeiausgaben sogar erhöht. Und als die Eisenbahner 2022 das Schlichtungsangebot ihrer Bosse ausschlugen, entzogen Biden und die Demokraten ihnen das Streikrecht.
Der Zorn gegen das Establishment reicht aber weit über die Amtszeit von Biden hinaus. Seit 1977 waren das Weisse Haus und beide Kammern des Kongresses insgesamt zehn Jahre lang in demokratischer Hand. In dieser Zeit haben sie weder gewerkschaftsfeindliche Gesetze abgeschafft noch die Abtreibung landesweit legalisiert oder ein vergesellschaftetes Gesundheitswesen umgesetzt und auch kein Recht auf Bildung und Unterkunft für alle verankert. Sie haben es nicht einmal versucht.
Kurz nach der Ernennung zu Bidens Nachfolgerin wurde Harris gefragt: «Was hätten Sie in den letzten vier Jahren anders gemacht als Biden?» Ihre Antwort spricht Bände: «Mir fällt überhaupt nichts ein.»
Wie hätte Harris als «geringeres Übel» durchkommen sollen? Die Niederlage der Demokraten darf niemanden überraschen. Die einzige Überraschung ist, dass Trump nicht noch deutlicher gewonnen hat. Das ist leicht erklärt: Millionen normaler Arbeiter sehen auch Trump korrekterweise als Feind und sahen keine andere Option, als Harris zu wählen.
Der Grossteil der sogenannten Linken unterwirft sich den Demokraten. Ihre Reaktion auf die Wahlen ist ein Abbild von jener der Liberalen: Sie beklagen den «Rechtsrutsch» der Arbeiter und bemitleiden sich selbst.
Im Gegensatz dazu gehen Marxisten von einer nüchternen, wissenschaftlichen Analyse der Klassenverhältnisse aus. Das Wahlergebnis ist leicht zu erklären: Die Demokraten sind einmal mehr daran gescheitert, die nicht verwaltbare Krise ihres eigenen Systems zu verwalten. Da eine gängige Alternative für die Massen der Arbeiter fehlt, ist die andere kapitalistische Partei einmal mehr an der Reihe.
Nach zwölf Jahren demokratischer Herrschaft in den letzten 16 Jahren identifizieren sich bloss 32 % der Amerikaner mit der Partei, aber auch nur 29 % mit den Republikanern. Mit 37 % machen Parteilose nun den Grossteil aus, der Trump einen entscheidenden Aufwind verschaffte. Insbesondere die «double haters», die von beiden Kandidaten eine negative Meinung verzeichneten, haben zu 55 % Trump gewählt, bloss 32 % Harris.
Und während die Demokraten auf Furcht setzten, mobilisierte Trump auf der Grundlage des Zorns – eine viel antreibendere Emotion. Trump machte sich auch gekonnt das weit verbreitete Misstrauen in traditionelle staatliche Institutionen zunutze. Es ist unbestreitbar, dass die US-Demokratie niemals eine echte war. Eine Mehrheit konnte damit leben, solange der Kapitalismus wachsenden Wohlstand und ein gewisses Mass an Stabilität bot. Das Leben mochte hart sein, doch konnte man sich sicher sein, besser leben zu können als seine Eltern, wie auch die eigenen Kinder besser leben würden als man selbst. Für die erdrückende Mehrheit ist dies nicht mehr der Fall. Das produziert tiefes Misstrauen und stellt alles in Frage.
Rund die Hälfte der Trumpwähler gaben steigende Preise als Hauptgrund an. Sie suchen nach Lösungen für die Probleme der Arbeiterklasse – Lösungen, die keine der beiden Parteien haben kann. Ja, diese gesellschaftliche Polarisierung wird dadurch verzerrt, dass es keine proletarische Massenpartei mit einem unabhängigen Klassenstandpunkt gibt – dennoch ist die Trump-Wahl eine Form der wachsenden Polarisierung zwischen den Klassen.
Sprechen wir Klartext: Auch die Demokraten sind eine rechte Partei. Wir sollten keinen «Rechtsrutsch» diagnostizieren, sondern die Wahl 2024 als Ausdruck einer tiefen Unzufriedenheit verstehen. Natürlich sind viele der härtesten Trump-Anhänger tatsächlich fanatische Fremdenfeinde. Aber viele sahen in Trump einfach eine Stimme gegen das Establishment, die für irgendeine Art Veränderung steht – nicht unbedingt eine Stimme für die Rechte.
Trump nutzt den berechtigten Zorn der Arbeiterklasse schamlos aus, indem er alles und jeden für die Krise verantwortlich macht, nur nicht den Kapitalismus. Er bietet Scheinlösungen und versichert seinen Anhängern, dass jemand anderes für sie bezahlen wird. Doch er greift weder die Klasse der Milliardäre an, noch ruft er nach Umverteilung, mehr Sozialleistungen oder höheren Löhnen – im Gegenteil!
Selbst Bernie Sanders, der Biden-Apologet schlechthin, sieht das: «Es ist nicht überraschend, dass die Demokratische Partei, die die Arbeiterklasse im Stich gelassen hat, ihrerseits von den Arbeitern im Stich gelassen wird. Die Führung der Demokratischen Partei verteidigt den Status Quo, die Amerikaner jedoch sind wütend und wünschen Veränderung.»
Seine Erleuchtung kommt leider mehrere Jahre zu spät. Nachdem er sich in drei Wahlen nacheinander hinter die Kandidaten des Establishments gestellt hat, kann er nun nicht mehr behaupten, für die Arbeiterklasse zu sprechen. Wenn Bernie nur halb so viel Mumm wie Trump hätte, hätte er schon längst mit den Demokraten gebrochen und zur Schaffung einer echten Partei der Arbeiterklasse aufgerufen, um dem Unmut der amerikanischen Arbeiter einen linkeren Ausdruck zu verleihen. Selbst wenn seine Politik tief reformistisch ist, hätte das den Damm gebrochen für eine echte Klassenpolitik im Land – und genau deswegen hatten die Demokraten einen solchen Druck auf ihn ausgeübt, unter dem er eingeknickt ist. Trump, ein milliardenschwerer Scharlatan, war fähig, das Vakuum zu füllen, das vom Versagen der «Linken» offen gelassen wurde.
Ohne Zweifel hätte eine Massenpartei der Arbeiter den gesamten politischen Diskurs verschoben. Sie hätte erklärt, dass der Riesenwohlstand der Herrschenden durch die Arbeiter erschaffen wurde und dass dieser Wohlstand eigentlich der grossen Mehrheit – also der Arbeiterklasse – gehören müsste. Sie hätte aufgezeigt, dass eine Arbeiterregierung mit einer Planwirtschaft den Lebensstandard aller heben würde und dass dafür die wichtigsten Betriebe verstaatlicht und unter demokratische Arbeiterverwaltung gestellt werden müssten.
Auch die Führungen der Gewerkschaften haben dies nicht einmal versucht. Stattdessen haben sie sich zu Anhängseln der Demokraten degradiert. Die Lücke und die Verwirrung, die die Führer der Arbeiterbewegung mit ihrer Klassenkollaboration hinterliessen, ebneten dem Trumpismus den Weg.
Marxisten verstehen, dass niemand Diktator eines grossen und komplexen Landes wird, nur weil man es gerne möchte. Mag Trump auch autoritäre Tendenzen haben; für seine zweite Amtszeit ist keine Diktatur, sondern vor allem grosse Instabilität zu erwarten.
Der neuen Regierung steht ein wilder Ritt auf dem zerfallenden kapitalistischen Weltsystem bevor. Trump meint vielleicht, Konzernen und anderen Ländern einfach Befehle erteilen zu können. Firmen sind aber auf Profit angewiesen, was wiederum einen wachsenden Markt bedingt. Nationalstaaten verteidigen ihre Interessen und geraten darüber in Konflikte. Die wirtschaftlichen Probleme sind systemisch, und wer das System nicht verändert, wird von ihm unterworfen. Das gilt auch für Trump.
Trump hat zu viel versprochen, das er nicht liefern können wird: «Die Zukunft Amerikas wird grösser, besser, mutiger, reicher, sicherer und stärker denn je.» Viele seiner Vorschläge, wie Massendeportationen oder extreme Zölle, würden die Probleme – falls überhaupt umgesetzt – nur verschärfen. Privatbanken, der Bausektor, das verarbeitende Gewerbe, die Gesundheitsversorgung, der Energie- und Agrarsektor, der Detailhandel und der Transport unterstehen nicht seiner Kontrolle.
Die einzigartige Vermengung von Faktoren, die seine erste Amtszeit zu einem relativen Erfolg machten, werden kein zweites Mal auftreten. Trump mag wie eine Naturgewalt daherkommen, aber der Nationalstaat, die Marktwirtschaft, das Privateigentum und die tektonischen Verschiebungen in den internationalen Beziehungen sind deutlich mächtigere Naturgewalten.
Das Ausbleiben von spürbaren Verbesserungen wird zu Enttäuschung und einer neuerlichen Suche nach noch radikaleren Lösungen führen. Letztlich wird die Klassenfrage in den Vordergrund treten und das Pendel entschieden nach links ausschlagen. Wie die New York Times korrekt nach der Wahl 2024 feststellt:
«Trumps Sieg ist ein Misstrauensvotum gegen die Führung und die Institutionen, die das amerikanische Leben seit Ende des Kalten Kriegs vor 35 Jahren geprägt haben […] Falls es Trump und seiner Koalition nicht gelingt, etwas Besseres aufzustellen, als das, was sie umgestossen haben, droht ihnen dasselbe Schicksal wie den Dynastien Bush, Clinton und Cheney. Es wird eine neue kreativ-zerstörerische Kraft entstehen, möglicherweise von Seiten der amerikanischen Linken.»
Die Wahl 2024 ist ein Weckruf. Egal, wer den Kongress beherrscht oder im Weissen Haus sitzt: Die Arbeiter bleiben auf der Strecke. Diesen Schluss ziehen mehr und mehr Amerikaner. Seit der Wahl kontaktieren Kommunisten überall im Land die Revolutionary Communists of America und möchten beitreten:
«Die Demokraten und der Kapitalismus haben uns im Stich gelassen. Die Überschwemmungen in Asheville und Valencía und der Genozid in Gaza haben mir den Rest gegeben. Organisieren wir uns. Ich möchte mehr tun, als abzustimmen und zu hoffen.»
«Nach der Wahl gestern habe ich die Schnauze voll. Ich wurde langsam immer besessener davon, revolutionäre Theorie zu studieren und vor einem Jahr habe ich mich endlich tiefgehend mit der Pariser Kommune und den Revolutionen der Sowjetunion beschäftigt. Das hat meine Welt auf den Kopf gestellt. Das ist der einzige Weg im Klassenkampf. Keine imperialistischen Genozide mehr. Nur als Revolutionär sehe ich eine bessere Zukunft.»
Während einige also demoralisiert sind, bleibt die RCA so optimistisch wie eh und je, was die Revolution und die Zukunft des Sozialismus in den USA betrifft.
Die Wahl verdeutlicht erneut, dass die Probleme der Arbeiterklasse von keiner der beiden Parteien der Bosse gelöst werden können. Sicherlich werden viele der harten Trump-Anhänger ihm bis ans bittere Ende folgen. Für jene aber, die aus Hass auf die Amtsinhaber für ihn gestimmt haben, wird die zweite Amtszeit Trump eine äusserst wichtige Lektion.
Wir müssen Isolation und Realitätsflucht entschieden von uns weisen. Das beste Leben, das man führen kann, ist in völligem Bewusstsein darüber, wie die Gesellschaft funktioniert und wie sie verändert werden kann. Der Weg ist unstet, lang und hart, doch er führt zur Befreiung der Menschheit von der Ausbeutung und Unterdrückung der kapitalistischen Gesellschaft.
Nordamerika — von Revolutionary Communists of America — 30. 12. 2024
Theorie — von Julien Arseneau, RCI Kanada, gekürzt und angepasst — 28. 12. 2024
Schweiz — von Martin Kohler, Bern — 23. 12. 2024
Perspektive — von der Redaktion — 20. 12. 2024