Nach jahrzehntelanger Passivität beginnt sich die US-ArbeiterInnenklasse zu regen. Dort wo man es am wenigsten erwartet hatte: im konservativen Süden. Eine kämpferische Massenbewegung der Lehrpersonen weitete sich von Teilstaat zu Teilstaat aus.
Überfüllte Klassenzimmer, kaputte Schulbänke, bröckelnde Decken, Mäuse in den Wänden und überholte Lehrbücher – all das ist Normalfall in den staatlichen Schulen der USA, allen voran in den Südstaaten. Die Sowjetunion sei auf der Weltkarte ihres Klassenzimmers zu finden, erzählte eine Lehrerin den Medien. In den Schulbüchern werde George W. Bush als US–Präsident genannt. So drückt sich die Krise des US-Kapitalismus im Bildungsbereich aus.
Bildungsabbau gehört zur Tagesordnung
Ende des Zweiten Weltkrieges war die USA die kapitalistische Weltmacht: Sie trug 45% zum globalen BIP bei. Heute liegt dieser Anteil bei weniger als 20%. Dieser relative Rückgang des US-Kapitalismus seit den 70ern äussert sich verschieden. Nach aussen drückt er sich im sinkenden Erfolg des US-Imperialismus aus, seine globale Vorherrschaft aufrechtzuerhalten. Der relative ökonomische Niedergang bedingt aber auch die innere Fäulnis der USA: Das Bildungssystem ist am zerfallen.
Seit 1990 führte die Bundesstaatsregierung in Arizona jedes Jahr Steuersenkungen für Reiche durch. Das massive Loch im Staatsbudget wird kompensiert einerseits durch Privatisierungen des Bildungssystems und andererseits durch Druck auf die Löhne der schulischen Angestellten. Die Reallöhne der Lehrpersonen in Arizona sind seit 2010 um 10% gesunken. Heute verdienen Lehrpersonen in den Südstaaten Oklahoma, Arizona und West Virginia fast halb so viel wie ihre KollegInnen in New York.
Viele Lehrpersonen verlassen deshalb das Metier. Mittlerweile herrscht ein riesiger Personalmangel. In Arizona gibt es zurzeit 2000 vakante Stellen und weitere 3400 sind von Personen ohne angemessener Ausbildung besetzt. Aufgrund der sinkenden Profite seit Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008 verschärfte sich die Politik der Sparmassnahmen sowie der Steuergeschenke fürs Kapital weiter. In Arizona wurden die Ausgaben pro SchülerIn seither um fast 40% gekürzt.
Jahrelang wurden die Angriffe auf die Bildung zähneknirschend geduldet, aber jetzt ist das Fass überlaufen. Plötzlich sahen die Lehrpersonen nur noch einen Ausweg: den offenen Kampf.
Das Lauffeuer breitet sich aus
Die LehrerInnen in West Virginia waren die ersten, die es wagten, die Arbeit niederzulegen. Getragen von einer neuen Generation junger Basis-GewerkschaftsaktivistInnen wurden in allen Schulen Streikabstimmungen durchgeführt. Somit konnte am 22. Februar jede einzelne staatliche Schule geschlossen werden – eine organisatorische Glanzleistung. Die Solidarität unter allen schulischen Angestellten gab der Bewegung eine grössere Schlagkraft; einige Schulen blieben zum Beispiel nur aufgrund der streikenden Buschauffeure geschlossen.
Als die nationalen LehrerInnengewerkschaften einen «Kompromiss» mit der Bundesstaatsregierung ausgehandelt hatten, wurde der Streik von der Gewerkschaftsführung für beendet erklärt. Aber die Basis war längst radikaler und konsequenter als die Führung: Erst nachdem alle Forderungen der Streikenden akzeptiert wurden, kehrten diese eine Woche nach dem offiziellen Ende des Streiks wieder in die Schulen zurück.
Dieser Sieg erweckte den Kampfgeist der Lehrpersonen in anderen Staaten und der Funke sprang auf Oklahoma über. Die am Anfang ruhige Protestbewegung radikalisierte sich schnell: Die Parolen des ersten Streiktags für mehr Geld für Bildung wandelten sich nach wenigen Tagen in Forderungen nach stärkerer Besteuerung der Grosskonzerne und mehr Schulen statt Gefängnissen. Am 12. April handelte die Gewerkschaft auch hier eine Kompromisslösung aus. Diesmal war aber die Basis nicht genug stark, um organisierten Widerstand ohne die Unterstützung der Gewerkschaftsführung weiterzutreiben.
Nach dem Teilsieg in Oklahoma schwappte die Bewegung über die Südstaaten hinaus: Ende April entfachten Streiks und Proteste u.a. in Colorado, North Carolina, Kentucky und weiteren Staaten. Der bisherige Höhepunkt der Kämpfe spielte sich aber dennoch im konservativen Süden ab: Am 26. April fand der grösste Lehrpersonenstreik in Arizona statt. Davon betroffen waren über 800’000 SchülerInnen.
Zwei junge AktivistInnen bauten auf den Erfahrungen der Streikenden in West Virginia und Oklahoma auf und stampften innert Wochen eine dynamische Gewerkschaft namens «Arizona Educators United» aus dem Boden. Um den kommenden Streik zu verhindern, schlug der Gouverneur von Arizona eine 20–prozentige Lohnerhöhung vor. Aber für die Lehrpersonen ging es um mehr als die tiefen Löhne: Sie verlangten eine Umwälzung des Bildungssystems. Nach acht Streiktagen machte die Bundesstaatsregierung weitere Zugeständnisse. In den letzten Wochen scheint die Kampfwelle trotz Demonstrationen in verschiedenen Städten vorübergehend abgeflaut zu sein.
Nach dem Sieg folgt der nächste Angriff
Die bis jetzt erkämpften Lohnerhöhungen und Investitionen ins Bildungssystem werden die Bildung von über einer Million SchülerInnen verbessern. Doch was die Bourgeoisie widerstrebend mit der einen Hand an Zugeständnissen gegeben hat, versucht sie sich doppelt mit der anderen wieder zu nehmen. Manche konservativen PolitikerInnen drohen bereits heute mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer und Kürzungen im Gesundheitssystem und der Sozialhilfe. Schon jetzt suchen PolitikerInnen in West Virginia Möglichkeiten zur Kürzung der Sozialausgaben, um die Errungenschaften der Lehrpersonen zu kompensieren.
Ausserdem sind die Lohnerhöhungen oft über mehrere Jahre verteilt und können somit jederzeit zurückgezogen werden. Und Forderungen nach mehr Lehrpersonen pro SchülerIn und mehr Unterstützungspersonal wurden mehrheitlich ignoriert. Unter dem Strich bleiben viele Probleme unangetastet.
Erfahrener, organisierter, kämpferischer
Die Gärung im Bewusstsein der US-amerikanischen ArbeiterInnenklasse fand einen unerwarteten Ausdruck: In den konservativsten Gegenden der USA kämpften unorganisierte und kaum kampferfahrene Lohnabhängige. Und wie! Teilweise wurde weitergestreikt trotz der ausgehandelten «Kompromisse»; LehrerInnen organisierten sich selbst am Arbeitsplatz; andere Schichten der ArbeiterInnenklasse wurden in die Streiks hineingezogen; und die Kämpfe breiteten sich wie ein Lauffeuer aus.
Obschon das Erkämpfte die Verrottung des Bildungssystems nicht rückgängig macht, sind die Kämpfe sehr wertvoll: Nur durch solche Kämpfe entwickeln sich das Bewusstsein und der Organisationsgrad der ArbeiterInnenklasse.
Aufgrund der tiefen Krise des Kapitalismus wird die herrschende Klasse weitere Sparmassnahmen durchboxen. Doch die Erfahrungen über die Macht der eigenen Klasse bleiben und erste demokratische Gewerkschaftsstrukturen sind aufgebaut worden. Das nächste Mal wird sich die Bourgeoisie mit einem selbstbewussteren, kampfbereiteren Gegner anlegen müssen.
Abhi Madhavarapu
JUSO Stadt Bern
Bild: flickr.com, Gage Skidmore.
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