Nach dem schrecklichen Anschlag von Ankara war für grosse Teile der politischen Opposition in der Türkei klar, dass die Regierung an dem Morden beteiligt gewesen war. Die Vermutung, dass die Erdogan-Administration am Massaker Mitschuld hatte, verdeutlicht das tiefe Misstrauen, das gegenüber dem Staat herrscht. Dieses Misstrauen ist nur vor dem Hintergrund des Antikommunismus verständlich, der im Land blutige Tradition hat. Zur Geschichte des „tiefen Staats“ in der Türkei.

 

 

Der Unfall in Susurluk

 

Der Vorfall, der zur Aufdeckung der geheimen Vernetzungen von Polizei, Politik, Geheimdienst, Armee und organisiertem Verbrechen in der Türkei führte, könnte genau so gut aus einem Spionageroman stammen: Am Abend des 3. November 1996 rammte eine Gruppe von vier Personen mit ihrem Mercedes in der westtürkischen Kleinstadt Susurluk einen Lastwagen, der von einer Tankstelle auf die Strasse einbiegen wollte. Zum Zeitpunkt des Unfalls war die Geschwindigkeit des Wagens bei fast 180 km/h. Während dem Lastwagenchaffeur nichts geschah, kamen im Mercedes drei Personen ums Leben. Darunter befanden sich Hüseyin Kocada?, der stellvertretende Polizeichef Istanbuls, der von Interpol gesuchte Schwerkriminelle und Kader der rechtsextremen Organisation „graue Wölfe“ Abdullah Çatl? sowie seine Geliebte, die ehemalige Schönheitskönigin Gonca Us. Der Wagen gehörte dem Abgeordneten der konservativen DYP-Partei Sedat Edip Bucak, der zusätzlich noch Kommandeur sogenannter Dorfschützereinheiten war. Bei den Dorfschützern handelt es sich um paramilitärische Formationen, die vom türkischen Staat bewaffnet werden, um gegen die kurdische Unabhängigkeitsbewegung vorzugehen. Als sei die Personenkonstellation im schwarzen Mercedes nicht schon verdächtig genug gewesen, wurden nach dem Unfall im Auto zusätzlich fünf schallgedämpfte Pistolen, zwei Maschinenpistolen, sechs falsche Pässe, Abhörgeräte, Rauschgift und mehrere tausend Dollar in bar sichergestellt.

 

Die Spitze des Eisberges

Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss wurde gebildet, der ein Jahr nach dem Unfall ein 350-seitiges Dokument publizierte, in dem die Kontakte türkischer Staatsorgane zu der politischen Rechten und mafiösen Strukturen offengelegt wurden. So hatten sich Kreise aus der Polizei, der Armee und den Geheimdiensten solcher Beziehungen bedient, um eine Ausbruch der Konflikte zwischen links und rechts während der 70er Jahre herbeizuführen. Davon sollte die Armee profitieren, die 1980 putschte um, wie sie es verkündete, die Ordnung wieder herzustellen. Nach diesem dritten Putsch in der türkischen Geschichte, wurde das Kriegsrecht verhängt, über 600‘000 Personen wurden festgenommen und alle politischen Parteien wurden verboten. Als die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses öffentlich wurden, löste dies ein politisches Erdbeeben in der türkischen Gesellschaft aus. In Ankara kam es zu Demonstrationen der Gewerkschaften mit bis zu 150‘000 Teilnehmenden unter dem Motto: „Arbeiter an die Front, Verbrecherbanden ins Gefängnis“. Der türkische Innenminister und der Polizeichef Istanbuls mussten infolge des politischen Drucks ihr Amt räumen. Dabei war damals in der türkischen Zivilgesellschaft klar, dass der Untersuchungsausschuss nur an der Oberfläche gekratzt hatte. So waren ihm Nachforschungen zu „Staatsgeheimnissen“ sowie „geschäftlichen Geheimnissen“ untersagt und Ermittler, die zu tief schürften, starben unter verdächtigen Umständen. So kamen mindestens drei an den Ermittlungen Beteiligte (ein Richter, ein Geheimdienstmitglied sowie ein Ausschussmitglied) bei Zusammenstössen mit LKWs ums Leben, die dem Unfall von Susurluk ähnelten. Obwohl also klar wurde, dass in der Türkei ein Staat im Staat schaltete und waltete, wie ihm beliebte, konnte das gesamte Ausmass der Aktivitäten dieses tiefen Staats nicht aufgedeckt werden. Das, was in der Türkei am Ende der 90er aufgedeckt wurde, war aber keineswegs ein Einzelfall.

 

Ein Kind des kalten Krieges

Bis heute sind viele politische Verbrechen in der Türkei nicht aufgeklärt worden. Beispielhaft kann man hier das Massaker am Taksim-Platz zu den Maifeiern 1977 nennen. Damals drängten sich über 500‘000 Personen auf dem zentralen Platz in Istanbul. Plötzlich fielen Schüsse. Panik brach aus. Mit automatischen Waffen wurde vom Intercontinental Hotel aus in die Menge geschossen. 34 Menschen starben und 136 Personen wurden verletzt. Noch bevor die Notversorgung der Verletzten sichergestellt war, begann die Polizei damit, DemonstrantInnen festzunehmen. Bis heute sind die Täter des Taksim-Massakers unbekannt. Für den türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit war damals aber klar, dass die Konterguerrilla an dem Anschlag beteiligt gewesen sei. Diese war der türkische Ableger der sogenannter Stay-behind-Organisationen, die während des kalten Krieges in 16 Staaten Europas gebildet wurden, um im Falle einer Invasion durch die Sowjetunion den Kampf gegen die Besatzung hinter den Frontlinien zu führen. Mehrere solcher Organisationen waren während der 50er auf Initiative des europäischen NATO-Hauptquartiers gebildet worden. Wichtigstes Kriterium für die Auswahl solcher paramilitärischer Organisationen, war eine stramm antikommunistische Gesinnung, weswegen Mitglieder der äussersten politischen Rechten eine wichtige Rolle bei der Bildung der europäischen Stay-behind-Organisationen spielten.

Als der Einmarsch der roten Armee ausblieb, begannen sich die Untergrundorganisationen des Antikommunismus neue Arbeitsfelder zu suchen. So war die mehrheitlich aus NeofaschistInnen bestehende italienische Ablegerin namens Gladio an mehreren Bombenanschlägen beteiligt. So explodierte am 2. August 1980 in der Wartehalle des Bahnhofs Bologna eine Bombe. Die Explosion erschütterte das Gebäude derart, dass sein Westflügel zusammenstürzte. 85 Menschen kamen dabei ums Leben und mehr als 200 wurden verletzt. Während zu Beginn von staatlicher Seite der linken Untergrundorganisation Brigatte Rosse die Verantwortung zugeschoben wurde, deutete im Verlauf der sechs Jahre andauernden Ermittlungen immer mehr auf eine Urheberschaft durch italienische NeofaschistInnen. Dass diese nicht alleine gehandelt hatten und durch Geheimdienste und Polizeistellen gedeckt wurden, wurde durch das Geständnis des italienischen Neofaschisten Vincenzo Vinciguerra bekannt. Dieser war im Rahmen von Ermittlungen am Mord an drei Carabinieri 1984 verhaftet worden und hatte ein ausführliches Geständnis über die Aktivitäten der italienischen Stay-behind-Organisation „Gladio“ abgelegt. So sagte er in einem späteren Prozess gegen ihn aus: „Man musste Zivilisten angreifen, Männer, Frauen, Kinder, unschuldige Menschen, unbekannte Menschen, die weit weg vom politischen Spiel waren. Die Anschläge sollten das italienische Volk dazu bringen, den Staat um größere Sicherheit zu bitten.“ Bei weiteren Ermittlungen wurde klar, dass zwischen den 60ern und 80ern mehrere politische Morde und Terroranschläge durch Geheimdienstmitarbeitende und Gladio-Angehörige begangen worden waren, um diese später dem linksextremen Millieu zuzuschreiben. Nach dem Fall des eisernen Vorhangs deckten parlamentarische Untersuchungen auf, dass solche Aktivitäten in fast ganz Westeuropa organisiert wurden und die Stay-behind-Organisationen mit der P26 auch in der Schweiz einen Ableger hatten.  Bis heute ist das genaue Ausmass der Beteiligung von NATO und CIA unklar, da beide Organisationen ihre Akten nicht offenlegen wollen.

 

Frankensteins Monster

Ebenso wie der Versuch den Kommunismus in Afghanistan zu bekämpfen, den Aufstieg der Taliban verursachte, haben sich auch in anderen Staaten die vom Imperialismus gestützten konterrevolutionären Kräfte verselbstständigt. Vieles über die Aktivitäten solcher Stay-behind-Organisationen ist heute noch unklar, doch vieles, was man weiss, klingt fast zu unglaublich, um ausserhalb von Verschwörungstheorien Glauben geschenkt zu bekommen. Was bekannt ist, ist dass es in der Türkei zur Zusammenarbeit rechter Kräfte, mafiöser Strukturen und staatlicher Stellen kam und dass mit Anschlägen und Verbrechen ein Klima der Angst geschaffen wurde, um die politische Linke zu bekämpfen und gesellschaftlich zu diskreditieren. Dabei wurden alle Register krimineller Energie gezogen und ein blutiger Krieg gegen die eigene Bevölkerung orchestriert, dem Tausende zum Opfer fielen. Die blutigen Anschläge von Suruç und Ankara, die gegen die prokurdische und linke HDP gerichtet waren, weckte bei vielen TürkInnen unschöne Erinnerungen an vergleichbare Massaker in der Vergangenheit. Zwar hat der türkische Ministerpräsident Erdogan nach eigenem Bekunden dem tiefen Staat mit seinem juristischen Feldzug gegen die nationalistische Organisationen „Ergenekon“ ab 2006 den Krieg erklärt, jedoch kam es bei den Ermittlungen zu massiven Ungereimtheiten. So wurde der Gewerkschafter und Autor Ahmet ??k unter dem Vorwurf, Mitglied des tiefen Staats zu sein, verhaftet, nachdem er in seinem Buch „die Armee des Imams“ anführte, dass sich unter der AKP-Regierung ein neuer Staat im Staat gebildet habe. Nur sei dieser nicht mehr kemalistisch-säkular, sondern von der islamistischen Fethullah Güllen-Bewegung gesteuert. Diese Aussagen decken sich mit denen des ehemaligen Geheimdienstlers Hanefi Afci, der ebenfalls angeklagt wurde, einer Terrororganisation anzugehören, gegen die er selber kämpft, nachdem er in einem Buch schrieb, dass der Polizeiapparat bis in die höchsten Stellen mit Mitgliedern der Gülen-Bewegung durchsetzt sei. Beide Bücher wurden vor der Herausgabe konfisziert, so dass sie nicht herauskommen konnten.

Trotz aller Unklarheiten in Bezug auf Ankara und Suruç, die wenn überhaupt wohl erst in Jahren aufgeklärt sein werden, ist eines klar: Der blutige und schmutzige Krieg, den der bürgerliche Staat in der Türkei und anderswo in Europa gegen die eigene Bevölkerung geführt hat, zeigt, dass das tiefe Misstrauen gegenüber dem Staat mehr als berechtigt ist und wir dürfen nicht davon ausgehen, dass derselbe bürgerliche Staat seine eigenen Verbrechen aufdecken und aufarbeiten wird. Aus den politischen Eruptionen, die dem Susurluk-Skandal in den 90ern folgten, wird auch Erdogan gelernt haben, dass es nicht in seinem Interesse ist, Transparenz herzustellen. Die Bourgeoisie war sich nicht zu schade FaschistInnen und GeheimdienstlerInnen mit Mitteln auszustatten und ins Feld zu schicken, um AktivistInnen, GewerkschafterInnen, kritische JournalistInnen und auch völlig Unbeteiligte zu ermorden. Die Geschichte der Stay-behind-Organisationen und was aus ihnen nach dem Fall des eisernen Vorhangs geworden ist, ist die Geschichte davon, mit welcher Skrupellosigkeit sich die besitzende Klasse an der Macht zu halten versucht, wenn sie in ihrer privilegierten Stellung bedroht wird. Wenn aber zur Bekämpfung der politischen Linken zu solchen Mitteln gegriffen wird, wie in Suruç und Ankara, dann ist dies nicht ein Anzeichen der Stärke der Bourgeoisie, sondern eher Ausdruck ihrer Ratlosigkeit angesichts einer kämpferischen politischen Linken, der es gelingt die Massen zu bewegen.

 

Florian Sieber
Juso Thurgau