«Heute ist nicht der Moment der Guten Dienste. Heute ist die Zeit des Krieges.» Mit diesen brachialen Worten erklärt Bundesrat Cassis die volle Solidarität der offiziellen Schweiz mit dem Israelischen Staat und seinem Feldzug im Gazastreifen. Damit reiht sich die Schweiz ins Lager des westlichen Imperialismus ein, welches geschlossen das «Recht auf Selbstverteidigung» Israels proklamiert.
Innenpolitisch setzt die herrschende Klasse ihre Rückendeckung für das Massaker im Gazastreifen mit härtester Repression durch. Eine grössere Solidaritätsbewegung soll im Keim erstickt werden. Dafür werden die Meinungs- und Versammlungsfreiheit über Wochen eingeschränkt.
Mit den steigenden Todeszahlen realisiert jedoch eine wachsende Schicht, was dieses «Recht auf Selbstverteidigung» in der Realität bedeutet: Über 10’000 Tote und die Eskalation der Vertreibungspolitik der Palästinenser.
Zehntausende Jugendliche und Arbeiter sind angewidert von den zynischen Argumenten, mit denen der Bundesrat seine Rückendeckung für Israel verteidigt. Die hochgelobte Neutralität verliert ihren Glanz und entpuppt sich als dünnes Mäntelchen, hinter dem sich die nackten wirtschaftspolitischen Interessen der Schweizer Kapitalisten verstecken.
Sackgasse Neutralität
Die Neutralität war das ideologische Feigenblatt, mit dem das Schweizer Kapital seine heuchlerische Aussenpolitik bisher absicherte. Als kleiner Imperialismus war die Schweiz auf gute diplomatische Beziehungen zu allen Ländern angewiesen. Diplomatische Sonderrollen, wie die «Guten Dienste» oder Friedensvermittlungen, waren grosse PR-Aktionen, um den Zugang der Schweizer Banken und Exportfirmen zu allen Märkten zu garantieren.
Doch dieser Trick hat ausgedient. Die weltweite organische Krise des Kapitalismus erhöht die Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten. Das führt zu Protektionismus und Wirtschaftskriegen – gerade zwischen den drei wichtigsten Handelspartnern der Schweiz: EU, USA und China. Das lässt den diplomatischen Manövrierraum verschwinden. Die Schweiz ist dieser neuen Situation komplett ausgeliefert. Zwischen den Blöcken zu manövrieren wird immer schwieriger. Diese Sackgasse macht es heute unmöglich, den rücksichtslosen Eigennutz der bürgerlichen Politik hinter der Fassade der Neutralität zu verstecken.
Ukrainekrieg und russische Gelder
Diese Ausgangslage erklärt das aussenpolitische Fiasko zu Beginn des Ukrainekrieges. Der Versuch, das Geschäft mit den russischen Oligarchengeldern unter dem Vorwand der Neutralität aufrechtzuerhalten, führte zu enormen Druck von Seiten der zwei wichtigsten Handelspartner: EU und USA. Nach dem historischen Einknicken des Bundesrats erklärte sogar die Washington Post: «Schweiz gibt Neutralität auf». Gerade in einer Periode von zunehmendem Kampf um Exportmärkte, kann es sich das Schweizer Kapital nicht leisten, die Beziehungen zu den wichtigsten Handelspartnern politisch aufs Spiel zu stellen. Schlussendlich sind sie jedes Mal gezwungen, sich im Block des westlichen Imperialismus einzureihen.
Das erklärt das sofortige Einstimmen von Cassis ins Kriegsgeheul des Westens nach den Anschlägen der Hamas. Um seine Loyalität mit Israel und damit dem US-Imperialismus zu beweisen, setzte er kurzerhand 11 NGOs die versprochene Finanzierung aus. Und während das israelische Militär tausende Zivilisten tötet, will Cassis nicht Netanjahu, sondern die Hamas im Schnellzugtempo auf eine noch nicht existierende Terrorliste stellen.
Doch das Schweizer Kapital befindet sich in einer Sackgasse: Für ihre wichtigsten Handelspartner – insbesondere die USA – ist Israel der letzte stabile Partner im Nahen Osten, der bereit ist, ihre Interessen in der Region durchzusetzen. Deshalb unterstützen die USA die Israelische Regierung und ihre Taten, auch wenn sie nicht 100 % mit ihrem Kurs einverstanden sind.
Weil es im Gazastreifen sehr wenige Millionäre gibt – im Gegensatz zu Russland – beweist der Bundesrat hier gerne seine völlige Unterwürfigkeit. Doch er hat ein Problem: Die völlige Aufgabe der Neutralität durch ein Einreihen in den imperialistischen Block hinter den USA würde mit der Zeit unweigerlich die Beziehungen zu anderen Mächten – insbesondere China – auf eine Zerreissprobe stellen. Deshalb geht es in der Diskussion für oder gegen das Hamas-Verbot nicht um die Hamas, sondern darum, inwiefern das praktische Mäntelchen der Neutralität noch zu retten ist.
Cassis versucht mit Wortspielereien die faktische Bedingungslosigkeit seiner Israel-Unterstützung auszubalancieren: eine militärische Antwort müsse natürlich «geltendes internationales Recht respektieren» und es sei «derzeit für den Bundesrat schwierig, festzustellen, ob Israel das Völkerrecht verletze». Doch auch der stinkende Zynismus hinter solchen Aussagen kann nicht über den klaren Positionsbezug hinwegtäuschen.
Abnehmende soziale Stabilität
Diesen Kurs verteidigt die Bourgeoisie innenpolitisch mit aggressiver Repression. Doch Repression ist kein Zeichen der Stärke ihrer Herrschaft, sondern der Schwäche! Die gleiche aussenpolitische Sackgasse zwingt das Schweizer Kapital, die Krise aggressiver auf die Schultern der Arbeiterklasse abzuladen.
In den letzten zwei Jahren führten sie eine historische Offensive gegen die Arbeiterklasse durch: Inflation, Strompreis- und Krankenkassenerhöhungen (um nur die wichtigsten zu nennen) frassen sich zum ersten Mal seit 50 Jahren tief in die Portemonnaies der Arbeiterklasse. Dazu kommt die Serie an politischen Shocks der Pandemie, Ukrainekrieg, etc. Mit dem Einbruch der Konjunktur in Deutschland und China fegt aktuell eine Entlassungswelle über die Schweiz, deren Konsequenzen noch gar nicht voll im Bewusstsein angekommen sind. All dies weckt das politische Bewusstsein der Arbeiterklasse auf. Alte Illusionen in ein gutes Leben im Kapitalismus werden abgegraben. Die soziale Situation ist um einiges explosiver, als die bürgerlichen uns weismachen wollen.
Die herrschende Klasse ist sich bewusst, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung ihre Israel-Unterstützung zurückweist. Sie beobachten die Solidaritätsbewegung in Grossbritannien. Dort wurde die Solidaritätsbewegung mit Palästina zu einem Katalysator der gesamten Unzufriedenheit der letzten Jahre. Hunderttausende gehen wöchentlich auf die Strasse. Die herrschende Klasse hat Angst, dass auch in der Schweiz der zunehmende Unmut auf die Strasse getragen wird. Eine solche Bewegung soll im Keim erstickt werden. Das erklärt das Niveau der Repression, wie die breitflächigen und wiederholten Demonstrationsverbote, die aufgelösten Univereine, das abrupte Einstellen von staatlichen Subventionen für NGOs und Medien, etc. Der Unmut soll keinen öffentlichen Ausdruck finden und isoliert bleiben. In der Deutschschweiz sind sie damit teilweise erfolgreich.
Was dem repressiven Kurs hilft, ist das komplette Einknicken der Reformisten. Die SP hat gar keine offizielle Position und hofft, diese Episode einfach aussitzen zu können. Eine krasse Fehleinschätzung. Gerade weil die ideologische Verteidigung Israels gebraucht wird, um einen Rundumschlag gegen alle linken Organisationen auszuteilen, ist die politische Klarheit in dieser Frage umso wichtiger!
Die Solidaritätsbewegung mit den Palästinensern enthält eine klare Klassenkomponente. Gerade die migrantischen Teile der Arbeiterklasse und der Jugend reagieren sehr sensibel und erkennen instinktiv, wer der Unterdrücker und wer unterdrückt ist. Sie beobachten, wie die SP eine klare Positionierung verweigert und wie linke Exekutivpolitiker von den Bürgerlichen wie verängstigte Hühner vor sich hergetrieben werden. Die Rot-Grüne Regierung in Bern bekämpft sogar aktiv die Solidaritätsbewegung mit Palästina. Damit stellen sie sich auf die Seite der Unterdrücker und Kriegstreiber!
Die Entblössung passiert heute
Die starke Medienkampagne, welche jegliche Palästinasolidarität als Hamasunterstützung gebrandmarkt hat, hat in gewissen Kreisen für politische Verwirrung gesorgt. Doch die Brutalität, mit der die israelischen Streitkräfte in Gaza vorgehen und die breite Unterstützung durch den westlichen Imperialismus, bestätigen alle Vorhersagen, welche die Marxisten bereits kurz nach dem Anschlag der Hamas vorgebracht haben. Die herrschende Klasse Israels nutzt diesen als Vorwand, um die Unterdrückung der Palästinenser unerbittlich zu eskalieren. Jede friedliche Lösung und eine Ende der Unterdrückung der Palästinenser sind heute so weit weg wie nie. Diese Taten deckt Bundesrat Cassis, indem er das «Recht auf Selbstverteidigung» Israels verteidigt.
Das erkennen immer breitere Schichten. Nach über einem Monat des ideologischen pro-Israel-Dauerregens sehen trotzdem 33 % der befragten Stimmberechtigten die Verantwortung für diese Eskalation bei Israel. Wäre der nicht stimmberechtigte migrantische Teil eingeschlossen, wäre diese Zahl noch höher. Diese Zahlen zeigen, dass ein Teil der Arbeiterklasse die Heuchelei des Bundesrates und seine Neutralität durchschaut.
Dabei ist der Vergeltungskrieg in Gaza nur der neuste Hammerschlag auf das politische Bewusstsein der Arbeiterklasse. Dass sich die «humanitäre Schweiz» bedingungslos auf die Seite einer Regierung schlägt, welche reihenweise Zivilisten, Spitäler und Schulen bombardiert, frisst sich tief ins Bewusstsein einer gewissen Schicht, welche sich durch die Ereignisse der letzten Jahre bereits am politisieren war. Das Ablösen von ideologischen Trugbildern und das Erkennen, dass die Interessen der Herrschenden nichts mit den Unsrigen zu tun haben, ist ein wichtiger Schritt in der Entwicklung des Klassenbewusstseins.
Doch das Ablösen von bürgerlichen Vorurteilen führt nicht von selbst zur Erkenntnis der Klasseninteressen. Wir Marxisten müssen diesen Prozess unterstützen und aufzeigen, dass der Bundesrat nicht aus Dummheit oder Unwissen agiert, sondern knallhart die Interessen der herrschenden kapitalistischen Klasse verteidigt. Diese Klasse interessiert sich weder für die Zivilbevölkerung, noch für Antisemitismus, weder für «geltendes humanitäres Recht», noch für die Wahrheit. Ihre Absicht ist es, ihre Stellung in der Gesellschaft, ihre Profite und die dafür nötigen internationalen Beziehungen mit allen Mitteln zu verteidigen. Dafür sind sie noch nie davor zurückgeschreckt, über Berge von Leichen zu gehen und Massenmörder zu decken. Die ganze herrschende Klasse hat Blut an den Händen. Sie muss gestürzt werden.
Wer kann einen Waffenstillstand garantieren?
Trotz Repression und extremer Einseitigkeit der Medienkampagne macht sich grosser Unmut breit. Breite Schichten sehen die Ungerechtigkeit und die Grausamkeit der israelischen Offensive – und die Komplizenschaft der Regierungen. Sie wollen jetzt etwas dagegen tun! Ihnen müssen wir aufzeigen: Fertig Faust im Sack gemacht! Wir sind – auch gegen die Demoverbote – nicht machtlos. In den Schulen und Betrieben organisieren wir Kommunisten Mittagsdiskussionen, Whatsappgruppen und erkämpfen uns das Recht vor der eigenen Klasse ein Referat zu halten. Darin entblössen wir die Kriegspropaganda und verteidigen eine Klassenposition. In dieser Arbeit sehen wir: Das Echo ist riesig! Wir treffen auf ein grosses Potenzial für Proteste, Hilfe in der Propagandaarbeit von wildfremden Menschen und sogar für Schülerstreiks und spontane Aktionen.
Doch wofür sollen wir kämpfen? Die Forderung, welche sich aufdrängt, ist die des Waffenstillstandes. Sie entspricht dem spontanen Verlangen nach einem Ende des Blutvergiessens. Das wäre bitter notwendig! Doch diese Forderung lässt offen, wer einen Waffenstillstand garantieren soll. Die israelische oder US-amerikanische Regierung? Der Bundesrat? Der Waffenstillstand ist eine utopische Forderung, weil es immer in illusorischen Appellen an die Kriegstreiber selber endet.
Dazu kommt, dass jedes Friedensabkommen im Imperialismus nur eine kurze «humanitäre Pause» darstellt, bevor die Herrschenden einen neuen Krieg ausrufen. Eine Rückkehr zum israelischen Frieden wäre eine Rückkehr zum unaushaltbaren Alltag für die Palästineser. Das war der Status Quo, der zur aktuellen Eskalation geführt hat! Die rücksichtslose Brutalität des israelischen Regimes beweist: Frieden und Freiheit für die Palästinenser – in Gleichberechtigung mit der jüdischen Arbeiterklasse – ist nur möglich, wenn die israelische herrschende Klasse gestürzt wird. Das ist nur möglich durch den Kampf der Massen in Palästina und der Arbeiterklasse in den umliegenden Ländern. Deshalb fordern wir «Intifada bis zum Sieg!» Eine solche wird sich notwendigerweise gegen alle bürgerlichen arabischen Regimes richten, welche Israel seit Jahrzehnten decken. Das wird kein Wunschdenken bleiben: In all diesen Regimes stehen revolutionäre Aufstände auf der Tagesordnung! Die einzige Lösung ist eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens!
Frieden kann nur mit dem Sturz der herrschenden Klasse garantiert werden. Deshalb muss die Arbeit hier in der Schweiz ebenfalls auf dieses Ziel ausgerichtet werden: Auf den Sturz «unserer» kriegstreiberischen, herrschenden Klasse. Die Solidaritätsarbeit muss mit der Organisierung der konsequentesten Kämpfer und Kämpferinnen verknüpft werden. Nach der Demo ist der Kampf nicht vorüber; nach diesem Krieg folgt der nächste. Wer Krieg, Imperialismus, Unterdrückung und Ausbeutung überwinden will, muss das aufbauen, was der Arbeiterklasse fehlt: eine konsequente revolutionäre kommunistische Partei.
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