Konfrontiert mit einer Wahlniederlage und einem Ansteigen der Klassenkämpfe begibt sich der türkische Präsident Erdogan auf eine Serie von aussen- wie innenpolitischen Abenteuern, um seine Macht zu retten.
Den Strategen des türkischen Kapitalismus werden im Moment einige Schweissperlen auf der Stirn stehen: Seit einiger Zeit kommt das Land nicht zur Ruhe. Die Wahlen Anfang Juni brachten für die regierende AKP den Verlust der absoluten Mehrheit. Die Bildung einer Koalitionsregierung scheiterte aber, jetzt stehen Anfang November Neuwahlen an. Gleichzeitig steht das Land vor einem Wiederaufflammen des Bürgerkriegs in den kurdisch besiedelten Gebieten, das Militär bombardiert die PKK (kurdische Arbeiterpartei) im Irak und mischt sich auch immer stärker in den Bürgerkrieg in Syrien ein.
Der Sultan klammert sich an seinen Thron
Auch wenn Erdogan dabei wie immer den starken Mann gibt: In Wirklichkeit ist er ein Ertrinkender, der sich an jedes Stück Holz klammert, das er finden kann. Seine Partei, die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) hätte für ihn nach den Wahlen eine Verfassungsänderung umsetzen sollen, die den Präsidenten (also ihn) mit einer grossen Machtfülle ausgestattet hätte. Dafür hätte sie bei den Wahlen aber eine 2/3-Mehrheit benötigt, oder zumindest 60% der Abgeordneten für die Einberufung einer Volksabstimmung darüber.
Dass die AKP dieses Ziel nicht erreichte und sich einen Koalitionspartner für eine Regierung hätte suchen müssen, ist für ihn selbst und die Clique um ihn herum mehr als eine kleine Unannehmlichkeit. Das System Erdogan hat in den über 10 Jahren an der Macht nicht nur ihn selbst in äusserst zwielichtiger Art und Weise mit allerlei Prunk und Luxus ausgestattet (als Beispiel sei der neu gebaute Präsidentenpalast genannt, der ca 500 Mio. € gekostet hat und quasi illegal errichtet wurde), sondern auch eine ganze Schicht an KapitalistInnen, BeamtInnen und Handlanger aller Art um ihn herum versorgt, deren Aufträge, Posten und Privilegien nur von Erdogan abhängen. Auch sie, genau wie Erdogan selbst, können es sich unter keinen Umständen leisten, dass der „Sultan“ die Macht abgeben oder auch nur teilen muss.
Darum hat Erdogan nach den Wahlen auch alles auf eine Karte gesetzt. Die Koalitionsverhandlungen der AKP mit der MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) und der CHP (Republikanische Volkspartei) wurden von ihm hintertrieben. Die KapitalistInnen hinter CHP und MHP wären für diesen Schritt bereit gewesen. Die „Opposition“ dieser Parteien gegen die AKP ist nichts anderes als der Versuch, politisches Kleingeld auf dem Basar der Macht zu gewinnen. Das erklärt, warum Kemal Kilicdaroglu, Chef der CHP erklärte, dass eine „grosse Koalition“ mit ihm inhaltlich absolut möglich gewesen sei. Der AKP-Regierungschef Davutoglu habe sie auch ernsthaft gewollt, doch Erdogan habe alle Einigungsversuche mit der Bedingung, dass eine Koalition sein „Präsidialsystem“ bedingungslos unterstützen müsste, blockiert.
Stattdessen ging Erdogan in die Offensive gegen die Linke und die kurdische Befreiungsbewegung. Den Anfang dabei markierte das Massaker von Suruç, wo bei einem Anschlag 34 junge SozialistInnen getötet wurden, die in die nordsyrische Stadt Kobanê, die vom IS zerstört worden war, fahren wollten, um beim Wiederaufbau zu helfen.
Suruç liegt direkt an der Grenze und jeder Schritt wird vom türkischen Geheimdienst MIT überwacht. Es ist schwer vorstellbar, dass dieser nicht zumindest von dem geplanten Anschlag wusste.
Krieg gegen den Terror
Nach Anschlägen auf Polizisten begann die Türkei schliesslich einen „Krieg gegen den Terror“ – in erster Linie eine Bombenkampagne gegen die PKK in der Türkei und im Irak, sowie auf einige IS- Ziele in Syrien. Dort soll ausserdem, wenn es um die türkische Regierung geht, eine „Schutzzone“ eingerichtet werden, die gegen jegliche „Terroristen“ verteidigt werden soll. Über dies gab es in der Türkei selbst eine Verhaftungswelle um alle „TerroristInnen“ dingfest zu machen – so zumindest die Propaganda.
Es zeigt sich jedoch deutlich, dass das Vorgehen gegen den IS nur vorgeschoben ist, um umso entschiedener gegen die PKK vorzugehen. Von den Verhafteten ist der allergrösste Teil der PKK und der Linken im Allgemeinen zuzurechnen, von den „IS-Sympathisanten“ wurden ausserdem viele schnell wieder freigelassen. Die „Schutzzone“ in Syrien ist klar gegen die kurdische YPG gerichtet, die im syrischen Bürgerkrieg den IS vor sich hertreibt und so daran gehindert werden würde, ihre kontrollierten Gebiete zu verbinden. Ausserdem wurden in den irakischen Kandil-Bergen und in der Türkei laut türkische Medien zum Zeitpunkt der Erstellung des Artikels über 800 PKK- GuerillakämpferInnen getötet. Auch wenn diese Zahlen übertrieben sind, zeigt sich doch, wer von Erdogan zum Feind auserkoren wurde.
Erdogans Kalkül ist klar: In einem aufflammenden Bürgerkrieg würde eine Welle der patriotischen Begeisterung dafür sorgen, dass bei den vorgezogenen Parlamentswahlen seine AKP die absolute Mehrheit erringen würde. Ausserdem würden die Terroranschläge von der PKK und linksradikale Organisationen, im Fernsehen ausgenutzt und mit der linken HDP (Demokratische Partei der Völker) in Verbindung gebracht werden, um diese bei den Wahlen so weit schwächen, dass sie an der 10%-Hürde scheitern würde, die sie im Juni auf Basis eines klaren Oppositionskurses gegen Erdogan in Verbindung mit einem Programm der sozialen Reformen und dem Kampf gegen religiöse und nationale Unterdrückung noch deutlich überschritt.
Doch Erdogan spielt mit dem Feuer. Die Situation in der Türkei ist hoch explosiv. Die Massen an ArbeiterInnen und Jugendlichen sind einfach nicht mehr gewillt, die Kombination aus schlechter Wirtschaftsentwicklung und immer stärker werdender Unterdrückung weiter zu ertragen. Seit Jahren kommt es immer wieder zu Protesten mit hunderttausenden TeilnehmerInnen. Zuletzt gab es auch wieder verstärkt Streiks, etwa in der Autoindustrie. Und schliesslich sind Erdogans imperialistische Ambitionen in der Region, vor allem aber in Syrien, sehr unbeliebt: Bei einer Umfrage unterstützte nicht einmal jeder Vierte eine direkte Intervention der Türkei in Syrien.
Erdogan sägt weiter an dem Ast, auf dem er sitzt. Wenn er den Krieg intensiviert, stärkt er nur die Opposition und riskiert eine revolutionäre Explosion. Wenn er die Angriffe einstellen lässt, werden die Massen in seinem Zögern erst Recht seine Schwäche erkennen. Je nachdem, wie sich die Ereignisse entwickeln, ist es nicht ausgeschlossen, dass die Regierung Erdogans die Wahlen im November nicht mehr erleben wird.
Welche Taktik braucht die Linke?
In dieser Situation ist die richtige Taktik und Strategie der revolutionären Bewegung und der Linken im Allgemeinen von äusserster Wichtigkeit. Die HDP darf dabei nicht in die Falle tappen und dem gesellschaftlichen Druck nach „Zusammenarbeit“ mit den Behörden und der Regierung nachgeben, der auf ihr besonders lastet. So eine „Zusammenarbeit“ hätte nichts anderes zur Folge als eine Stabilisierung der Regierung Erdogan und eine Enttäuschung der revolutionären ArbeiterInnen und Jugend. Die Bereitschaft eines Teiles der HDP-Spitze, in einer Übergangsregierung mit der AKP teilzunehmen, muss deswegen entschieden bekämpft werden.
Aber besonders der Frage des „bewaffneten Kampfes“ kommt in Hinblick auf die Geschichte der Türkei eine zentrale Bedeutung zu. In einem Interview mit der deutschen „Welt“ erklärte Cemil Bayik, die Nr. 2 in der PKK richtigerweise, dass das Ziel Erdogans eine Diskreditierung der HDP sei, um sie an einem erneuten Parlamentseinzug zu hindern. Doch er fügte hinzu: „Wir sind nicht im Krieg. Wir machen nur von unserem Recht auf Vergeltung Gebrauch.“
Für uns MarxistInnen ist klar: Die kurdischen ArbeiterInnen, Bauern und Jugendlichen haben jedes Recht, sich gegen die Angriffe der Regierung zu verteidigen. Wir sehen klar, wer der Aggressor ist, wenn Stadtviertel von Spezialeinheiten besetzt werden, Proteste mit Tränengas und sogar scharfer Munition angegriffen werden und auch die unmenschliche systematische Vertreibungpolitik der 90er Jahre durch das Militär in den kurdischen Gebieten wieder aufgegriffen wird. Nur zahnlose PazifistInnen können in dieser Situation von beiden Seiten gleichermassen fordern, dass „jede Gewalt eingestellt“ werden soll. Aber wir müssen genauso klar sagen: Terroranschläge auf Polizisten und Soldaten oder Minister als symbolische Ziele schaden der revolutionären Bewegung.
Der zu führende Kampf ist nicht der bewaffnete Kampf gegen die Organe der Staatsmacht. In der jetzigen Situation geht es in der Türkei um das Bewusstsein der ArbeiterInnen und der Jugend und um die Einheit dieser im Widerstand gegen die Regierung Erdogan und das kapitalistische System, das zu all den Gräueltaten führt. Auch viele (noch) konservative ArbeiterInnen werden es verstehen, wenn ein alevitisches Cem-Haus im Istanbuler Stadtteil Gazi gegen die Angriffe der Polizei, die verhindern will, dass die Beerdigung einer revolutionären Kämpferin dort stattfindet, verteidigt wird. Diejenigen, die das jetzt noch nicht verstehen, werden im Laufe der Bewegung lernen.
Doch „Vergeltungsangriffe“, selbst auf hochrangige VertreterInnen des Regimes, werden nur Erdogan und Co. dabei helfen, die ArbeiterInnen und Jugendlichen anhand von nationalen und religiösen Kriterien zu spalten. Und besonders jeder tote Wehrdienstleistende ist wie ein schmerzhafter Keil, der zwischen die Unterdrückten verschiedenster Herkunft gestossen wird. Der revolutionäre Kampf muss innerhalb der Armee geführt werden, nicht gegen die Armee als Ganzes. Jeder arme Bauern- und Arbeitersohn ist ein potentieller Verbündeter der revolutionären Bewegung, nicht ihr Feind!
Im Jahre 1911 schrieb der russische Revolutionär Leo Trotzki in seinem Text „Über den Terror“:
„Wenn wir uns terroristischen Akten widersetzen, so nur deshalb, weil individuelle Rache uns nicht zufriedenstellt. Die Rechnung, die wir mit dem kapitalistischen System zu begleichen haben, ist zu umfangreich, um sie einigen Beamten, genannt Minister, zu überreichen. Lernen zu sehen, dass all die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, alle Beleidigungen, denen der menschliche Körper und Geist ausgesetzt sind, entstellte Auswüchse und Äusserungen der bestehenden sozialen Ordnung sind, um unsere ganze Kraft auf einen gemeinsamen Kampf gegen dieses System zu richten, – das ist die Richtung, in der der brennende Wunsch nach Rache seine höchste moralische Befriedigung finden kann.“
Dem ist nichts hinzuzufügen.
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