Während die USA und ihre Verbündeten ihre Truppen nach zwei Jahrzehnten blutiger Besatzung abziehen, steuert Afghanistan auf einen weiteren Bürgerkrieg zu. Obwohl der von Joe Biden angekündigte Abzug der imperialistischen Truppen bis zum 31. August dieses Jahres vollendet sein sollte, haben der größte Teil der amerikanischen Streitkräfte das Land bereits verlassen oder sind gerade dabei, während die Taliban in vielen Gegenden vorrücken.
Die Tatsache, dass der US-Imperialismus und seine Verbündeten dazu gezwungen sind das Land zu verlassen, wird einzig und alleine mit den Taliban begründet. In Wirklichkeit hat die amerikanische Intervention und Besatzung Afghanistans in den letzten zwei Jahrzehnten auch starke Ablehnung durch die Zivilbevölkerung erfahren. Es gibt weitverbreiteten brennenden Hass gegen diesen imperialistischen Krieg, der zu zehntausenden unschuldigen Todesopfern geführt hat und das ganze Land in Verwüstung, Instabilität und Barbarei gestürzt hat.
Es stimmt zwar, dass der Hass gegenüber dem westlichen Imperialismus besonders in den ländlichen, von Paschtunen bewohnten Gegenden dazu geführt hat, dass die Bevölkerung Angriffe der Taliban oft entweder passiv akzeptiert hat, oder in seltenen Fällen auch bei der Durchführung geholfen hat. Das heißt allerdings nicht, dass die Mehrheit der Leute irgendwelche tiefsitzenden Sympathien für die erzreaktionären und aufklärungsfeindlichen Kräfte der Taliban hatten oder haben.
Das Tragische an dieser Situation ist, dass das durch die USA hinterlassene Machtvakuum in vielen Regionen vor allem von den Taliban gefüllt wird, die Tausende bewaffnete Männer zur Verfügung haben und die verdeckte Unterstützung mehrerer Großmächte genießen.
Nach zwei Jahrzehnten Krieg und Kosten von mehr als 2 Billionen US-$ ist die herrschende Klasse der USA eindeutig daran gescheitert, auch nur ein einziges der zu Beginn des Krieges verkündeten Ziele zu erreichen. Nachdem sie unzähligen ZivilistInnen getötet haben, viele Regionen mit Flächenbombardements zerstört und dem die Existenzen von Millionen von Menschen zugrunde gerichtet haben, ziehen die USA ab, nachdem sie ein erniedrigendes Abkommen mit den Taliban geschlossen haben. In diesem sogenannten Friedensvertrag, der letztes Jahr in Doha (Katar) zwischen der Regierung Trump und den Anführern der Taliban geschlossen wurde, gaben die USA allen Forderungen zweiterer nach.
Die schwache und korrupte Regierung in Kabul, die von Präsident Ashraf Ghani angeführt und vom US-Imperialismus und seinen Verbündeten unterstützt wird, bricht seit dem Abzug der US-Armee schnell zusammen. Grund dafür ist, dass sie bei großen Teilen der Massen als Marionette des Imperialismus verhasst ist. Schätzungen der amerikanischen Geheimdienste gehen davon aus, dass diese Regierung nach dem Truppenabzug gerade mal sechs Monate halten wird. Als sie in den Krieg zogen, haben die Imperialisten der Welt erzählt, dass sie Afghanistan zu einer modernen Demokratie transformieren würden. Das Ergebnis war aber ein absoluter Fehlschlag.
Vor zwanzig Jahren erklärte die International Marxist Tendency (IMT), warum dieses Abenteuer nur zu noch mehr Elend und Verzweiflung für das afghanische Volk und zu einer Destabilisierung der gesamten Region führen würde. Im November 2001, direkt nachdem Kabul an die US-Geführte Koalition gefallen war, schrieben wir:
„Die Taliban haben die Macht verloren, aber nicht ihre Fähigkeit Krieg zu führen. Sie sind sehr gut daran gewöhnt einen Guerillakrieg in den Bergen zu führen. Sie haben das früher getan und können das wieder tun. Im Norden des Landes kämpften sie in für sie fremden und feindseligen Terrain, aber in den Dörfern und Bergen der Paschtunen-Gebiete befinden sie sich in ihrem Heimatland. Es eröffnet sich die Perspektive eines langen Guerillakrieges, der sich über Jahre hinwegziehen kann. Der erste Teil des Krieges der Koalition war leicht, der zweite wird schwerer sein. Die britischen und amerikanischen Truppen werden in den Paschtunengebieten Search and Destroy-Missionen durchführen müssen, auf denen sie leichte Ziele für die Guerillas sein werden. Es wird zu hohen Opferzahlen kommen, was in einem gewissen Stadium des Einsatzes Auswirkungen auf die öffentliche Meinung in Großbritannien und Amerika haben wird.“
„Die Amerikaner haben gehofft, dass sie in der Lage sein werden einen schnellen chirurgischen Schlag gegen Bin Laden durchzuführen, gestützt vor Allem auf ihre Lufthoheit. Stattdessen wird der Konflikt immer komplizierter und schwieriger und die Aussicht auf ein Ende ist auf nahezu unbestimmte Zeit verschoben. Sie werden gezwungen sein, Truppen nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Pakistan und allen anderen Ländern in der Region zu stationieren, um den Einsatz zu unterstützen.“
„Das ist eine viel schlimmere und gefährlichere Situation als die, in der sich die Amerikaner am 11. September wiedergefunden haben. Washington wird jetzt gezwungen sein, das bankrotte und instabile Regime in Pakistan und andere „freundliche“ Staaten in der Region zu unterstützen, die durch den Einsatz destabilisiert werden. Wenn es das Ziel dieses Einsatzes war den Terrorismus zu bekämpfen, dann werden sie jetzt sehen, dass sie das Gegenteil erreicht haben. Vor diesen Ereignissen konnten es sich die Imperialisten leisten, von den Wirrungen und Kriegen in diesem Teil der Welt relativ Abstand zu nehmen, aber jetzt sind sie komplett darin verwoben. Durch ihre Politik seit dem 11. September haben die USA und Großbritannien sich in einen Sumpf begeben, aus dem sie nur sehr schwer wieder rauskommen werden.“[1]
2008 erklärten wir ein weiteres Mal, dass dieser Krieg für den Imperialismus nicht zu gewinnen sei. Nach einem langgezogenen Krieg würden die Imperialisten gezwungen sein wieder abzuziehen, besiegt und eine Spur der Zerstörung hinterlassend:
„Am Ende werden die Streitkräfte der Koalition gezwungen sein, ihren Versuch Afghanistan zu besetzen aufzugeben. Hinter sich werden sie eine Spur aus Tod und Zerstörung hinterlassen und ein Erbe an Hass und Verbitterung, das Jahrzehnte andauern wird. Wir wissen nicht, welche der rivalisierenden Banden in der nächsten Regierung in Kabul die Kontrolle haben wird. Was wir aber wissen ist, dass die schwerste Bürde wie immer auf den einfachen Leuten liegen wird, den ArbeiterInnen und Bauern, den Armen, den Alten, den Kranken, den Frauen und Kindern.
Das schreckliche Schicksal des afghanischen Volkes ist ein weiteres der unzähligen Verbrechen des US-Imperialismus und seiner Verbündeten. Der berüchtigte „Krieg gegen den Terror“ war weit davon entfernt seine Ziele zu erreichen. Im Gegenteil, die Politik der Imperialisten war ein machtvoller Anstoß für den Terrorismus. Sie haben Öl in die Flammen des Fanatismus gegossen und sind so zu den wichtigsten Rekrutierern für Al-Quaida und die Taliban geworden. Sie haben Afghanistan komplett zerstört und dabei Pakistan destabilisiert. Mit den unsterblichen und häufig zitierten Worten des römischen Historikers Tacitus: „Sie schaffen eine Wüste und nennen das Frieden“[2]
Diese Analyse hat sich vollauf bestätigt, während die großspurigen Versprechungen der Imperialisten in Scherben liegen. So wurde auch der vollkommene politische Bankrott der Liberalen, selbsterklärten „Linken“ und „Nationalisten“ aufgedeckt, die den US-Imperialismus unterstützt haben.
Die amerikanische Intervention in Afghanistan dauert bereits länger als vier Jahrzehnte an. Die „Saur-Revolution“ von 1978, die von Nur Muhammad Taraki angeführt wurde, war ein Wendepunkt, der zur sozialistischen Transformation Afghanistans hätte führen können und so die Mächte auf der ganzen Welt herausgefordert hätte.
Nach der darauffolgenden sowjetischen Intervention in Afghanistan, die von Ted Grant (damals führender Genosse der marxistischen Strömungen) scharf kritisiert wurde, öffneten die US-Imperialisten ihre Geldkoffer für den berüchtigten „Dollar-Jihad“. Sie nutzten Afghanistan als Stützpunkt für die Taliban und andere mit den USA verbündete Kämpfer (Die als „heilige Krieger“, „Jihadis“ dargestellt wurden), die die Sowjetische Armee angreifen sollten.
Die brutale Diktatur von General Zia-ul-Haq in Pakistan führte grausame Angriffe auf die Arbeiterklasse durch und bereitete den Boden, auf dem islamisch-fundamentalistische Gruppen mit der Unterstützung der USA und Saudi Arabiens wachsen konnten. Nach dem Fall der Sowjetunion verloren die Imperialisten die Kontrolle über das Frankensteinmonster, das sie erschaffen hatten. Die Folge war ein brutaler Bürgerkrieg, der Afghanistan in den 1990ern verwüstete. Während die miteinander verfeindeten jihadistischen Fraktionen sich gegenseitig bekämpften und versuchten die Kontrolle über Kabul zu erlangen, wurde das ganze Land in die Barbarei gestürzt und zehntausende unschuldige Menschen niedergemetzelt.
Um die Jahrtausendwende herum hatten sich die Interessen des US-Imperialismus geändert. Die „heiligen Krieger“, die nun in die Hand bissen, die sie gefüttert hatte, wurden nun „Terroristen“ genannt. Die größte imperialistische Macht der Welt erklärte dem rückständigsten und zerstörtesten Land der Welt den Krieg und bezeichneten es, ohne Sinn für Ironie, als „Bedrohung für die ganze Welt“. Jetzt, am Ende dieses Krieges haben die USA und ihre Verbündeten einen Friedensvertrag mit genau den selben Terroristen geschlossen, wobei sie alle ihre Bedingungen akzeptiert haben, darunter die Freilassung von tausenden Taliban, die in Afghanischen Gefängnissen sitzen. Den Taliban wurde einen Platz am Tisch der weltweiten Diplomatie gewährt.
Gleichzeitig haben die Brutalität der Taliban und ihre Verbrechen im Namen der Religion ihnen die verdiente Feindschaft eines großen Teils der Bevölkerung im ganzen Land eingebracht, besonders unter den Nichtpaschtunen und der städtischen Bevölkerung. Ohne die Unterstützung des Irans, Pakistans und anderer Regionalmächte wäre es den Taliban nicht gelungen, sich zu reorganisieren und zum Gegenschlag auszuholen. Zu dieser Unterstützung von Außerhalb kommt noch die Korruption und Brutalität des von den USA eingesetzten Regimes, was besonders in den paschtunischen Gebieten Teile der ländlichen Bevölkerung in die Arme der Taliban getrieben hat.
Wir sollten nicht vergessen, dass diese reaktionären islamisch-fundamentalistischen Kräfte in der Vergangenheit vom US-Imperialismus unterstützt und gefördert wurden. Sobald sie sich vom US-Imperialismus abgewandt hatten, wurden sie zu einem nützlichen Buhmann, um jede amerikanische militärische Intervention in der Region zu rechtfertigen.
Trotz der Proteste einiger Generäle aus dem Pentagon gegen den Rückzug ziehen sich die Imperialisten aus diesem Krieg auf eine Art zurück, die nur als demütigende Niederlage bezeichnet werden kann. Der Krieg ist zu einem Dorn im Auge des amerikanischen Kapitalismus geworden, der mit einer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Krise historischen Ausmaßes und einer Bevölkerung konfrontiert ist, die die endlosen Kriege satt hat. Am Ende bleibt mit Afghanistan ein Land zurück, das von Rückständigkeit, Elend und Zerstörung geprägt ist.
Fakt ist, dass die Regierung in Kabul absolut damit gescheitert ist, die Unterstützung durch die Massen im eigenen Land zu gewinnen, obwohl sie von den Großmächten gestützt wird. Nach zwei Jahrzehnten massiver Unterstützung und Milliarden Dollar an Hilfszahlungen hängt sie jetzt völlig in der Luft. Die Marionettenregierung und alle ihre Institutionen brechen wie ein Kartenhaus zusammen, während der verhasste Krieg zu einem Ende kommt. Der künstliche Staatsapparat, den die imperialistischen Mächte Afghanistan von außen aufgestülpt haben, bricht zusammen. Die 200.000 Mann starke Afghanische Armee und die anderen Sicherheitskräfte lösen sich immer schneller auf.
Keine Regierung, die von imperialistischen Mächten aufgezwungen wurde, kann sich längerfristig erhalten, wenn sie bei der Bevölkerung so tief verhasst ist. All die manipulierten Wahlen, die Korruption und die Verbrechen gegen die Bevölkerung, die diese Regierung begangen hat, sind jetzt klar sichtbar.
Die extreme Instabilität der Regierung in Kabul war den imperialistischen Mächten schon seit vielen Jahren bekannt. Trotzdem versuchten sie, der Weltöffentlichkeit eine Erfolgsgeschichte zu verkaufen und sprachen vom „Sieg“ in Afghanistan. Aber in den letzten Jahren sind die Morde und die Terroranschläge stark angestiegen. Wären die Besatzertruppen weiter geblieben, wären sie nur noch weiter erniedrigt worden.
Die Taliban rücken nun nach verschiedenen Berichten in vielen Bezirken überall im Land vor und behaupten, 85 Prozent des Afghanischen Staatsgebietes zu kontrollieren. Während diese Zahl übertrieben sein dürfte, kann man sich sicher sein, dass sie zumindest 40 Prozent der Bezirke kontrollieren und um weitere 42 Prozent gekämpft wird. In vielen Städten verlassen Soldaten der afghanischen Armee ihre Posten ohne zu Kämpfen, kapitulieren vor den Taliban, oder schließen sich ihnen sogar an. Die Taliban übernehmen viele der von den Amerikanern verlassenen Stellungen und erbeuten dabei Munition, Waffen und Vorräte. Ihnen fehlt es allerdings an Leuten, um die großen Gebiete weiter zu halten.
Auf der einen Seite spürt man, dass die Menschen glücklich sind, das Ende der ausländischen Intervention zu erleben. Auf der anderen Seite gibt es aber Sorge bezüglich einer Machtübernahme durch die Taliban. Unter den Massen geht die Angst vor Blutvergießen und einem Bürgerkrieg um. Tausende fliehen aus den von den Taliban besetzten Gebieten. Dass die Taliban in der Bevölkerung nur schwachen Rückhalt haben zeigt sich daran, dass sie gezwungen sind, in den Grenzregionen des Nachbarlandes Pakistan zu rekrutieren, wobei sie vom pakistanischen Staat heimlich unterstützt werden. Hunderte tote Talibankämpfer werden regelmäßig nach Pakistan zurücktransportiert, um dort begraben zu werden.
Als sich die baldige Niederlage der USA und die Gefahr eines destabilisierenden Bürgerkrieges nach ihrem Abzug abzeichnete, begann das iranische Regime in Zusammenarbeit mit Russland und China, Beziehungen zu den Taliban aufzubauen.In der Hoffnung Einfluss bei der zukünftigen Regierung zu gewinnen, hat der Iran den Taliban in den letzten Jahren geholfen sich zu reorganisieren. Die Bedingung dafür war, dass sie mehr Angriffe auf amerikanische Truppen durchführten und den Kampf gegen den Islamischen Staat unterstützen, der unter afghanischen Islamisten an Rückhalt gewonnen hatte. In den letzten Monaten hat eine Delegation der Taliban außerdem Teheran besucht, wo sie den Schutz des drakonischen Mullahregimes im Iran gesucht haben. Die iranische Führung unterstützt die Taliban nicht nur, indem sie ihnen Trainingslager zur Verfügung stellten und Waffen liefern, sondern auch, indem sie die Schiiten in Afghanistan versuchen darauf zu orientieren, sie trotz der ethnischen und konfessionellen Unterschiede zu unterstützen.
Das Ziel des Iran ist es ein zukünftiges Regime aufzubauen, dass aus einer Koalition von Warlords verschiedener Konfessionen und Nationalitäten sowie aus lokalen Eliten besteht, um so seinen Einfluss im Land auszubauen und seine Interessen zu wahren. Das Hauptinteresse ist dabei, die Instabilität zu reduzieren, die über die Grenze in den Iran dringen könnte. Das ist umso wichtiger, nachdem die Taliban den Grenzübergang bei Islam Qala eingenommen haben, einen der wichtigsten Handelswege in den Iran. Bilder, die in den iranischen Medien weit verbreitet wurden zeigen, dass ihnen das ohne Gegenwehr gelungen ist. Dieser Grenzübergang liefert der Iranischen Regierung Einnahmen von 20 Millionen Dollar pro Monat.
Es versteht sich von selbst, dass die in der überwältigenden Mehrheit paschtunischen und wahhabitischen Taliban kein Problem damit haben, mit dem schiitischen Regime, ihrem angeblichen religiösen Gegner zusammenzuarbeiten, solange das Geld weiter fließt und die Waffen weiter gleiefert werden.
Russland und China verfolgen ähnliche Interessen. Sie wenden sich auch an die Taliban, um ihren Einfluss auf ein zukünftiges Regime zu sichern, in dem die Taliban ein wichtiger, wenn nicht sogar der wichtigste Faktor sein werden. Russland möchte von den Taliban die Zusicherung erhalten, dass die nördliche Grenze Afghanistans nicht als Basis für Angriffe in den früheren Sowjetrepubliken genutzt wird. Indien hat vor kurzem Ebenfalls Diplomaten zur Botschaft der Taliban in Doha, Katar geschickt, um einen möglichen Deal mit der zukünftigen afghanischen Führung auszuloten. Es mag ironisch erscheinen, dass das vom hinduistisch-fundamentalistischen Präsidenten Modi regierte Indien sich an die islamisch-fundamentalistischen Taliban wendet, aber dahinter steckt eine klare Logik. Die herrschende Klasse Indiens möchte ebenfalls Einfluss bei der Kraft gewinnen von der sie glaubt, dass sie bald Afghanistan regieren wird.
In den letzten Wochen ist es den Taliban gelungen Gebiete im Norden des Landes zu erobern, darunter einige Bezirke der Provinz Badachschan, die an den Westen Chinas grenzt. Diese Gebiete sind von nicht-paschtunischen Nationalitäten bevölkert und galten bisher als Hochburgen der Kräfte, die die Taliban bekämpfen. Diese kleinen Siege wurden von Unterstützern der Taliban, darunter der pakistanischen Regierung, als große Entwicklung dargestellt, die nur ein Vorspiel zur baldigen Eroberung Kabuls darstellen würde. Eine vollständige Machtübernahme der Taliban erscheint allerdings unwahrscheinlich, nachdem ihnen die Unterstützung der Mehrheit der afghanischen Bevölkerung fehlt. Viel wahrscheinlicher ist es, dass die Taliban gezwungen sein werden, eine Koalition mit einer großen Anzahl anderer Gruppen zu bilden.
Aber auch eine solche Perspektive ist weit davon entfernt, in trockenen Tüchern zu sein. In der jetzigen Situation ist eine große Instabilität angelegt. Unterdrückte Nationalitäten und religiöse Gruppen in Afghanistan wie die schiitischen Hazara, die Tadschiken und Usbeken begrüßen den Vormarsch der Taliban nicht und bereiten sich darauf vor sich selbst zu verteidigen, sollte es zu einem Bürgerkrieg kommen. Die Regierung in Kabul hat außerdem den Armeen regionaler Stämme, Warlords und Milizen erlaubt, sich selbst zu organisieren, um sich zu verteidigen, sollte es zu einem Großangriff der Taliban kommen. Es handelt sich dabei um ein faktisches Eingeständnis des Versagens der Regierung in Kabul und der afghanischen Armee. Lokale Warlords, Stammesführer und kleine Nationalitäten werden sich bewaffnen um ihre Gebiete zu verteidigen. Letztendlich könnte das zu einem Bürgerkrieg im ganzen Land führen.
Mit dieser Situation konfrontiert versuchen die USA panisch ihr Gesicht zu wahren. Sie haben sogar Russland und China dazu aufgerufen, die Kontrolle in Afghanistan zu übernehmen, damit sie den blutigen Krieg zumindest mit einem „Teilsieg“ hinter sich lassen können. Tatsächlich war Afghanistan eines der Themen, die Biden und Putin auf ihren letzten Treffen diskutiert haben. Aber trotz der Bemühungen von Russland, China, der Türkei und anderer imperialistischer Mächte haben die Verhandlungen zu nichts geführt. Das Ende des Krieges und der Abzug der imperialistischen Truppen wird die Instabilität nicht beenden, im Gegenteil, sie wird sich noch verschärfen.
Moskau und Peking haben in den letzten Jahren ebenfalls intensiv mit der Regierung in Kabul und den Taliban verhandelt, aber diese Verhandlungen führten zu keinen konkreten Ergebnissen. Dies ist ein Krieg, in dem alle Seiten schwach sind und niemand ist in der Lage, ist einen vollständigen Sieg zu erringen, trotz aller Unterstützung von außerhalb. China verfolgt eine lukrative Politik, die das Ziel hat Bodenschätze zu plündern und die strategische Lage Afghanistans auszunutzen. Aber es ist skeptisch wenn es darum geht, die nötigen finanziellen und militärischen Ressourcen aufzubringen, um die Lage komplett unter Kontrolle zu bringen.
China ist nicht so mächtig wie die USA und ihre Verbündeten. Wenn zwei Jahrzehnte militärische Intervention durch die reichste und mächtigste imperialistische Macht der Erde nicht in der Lage war Afghanistan zu stabilisieren, kann man dann erwarten, dass China, Russland oder irgendeine andere Regionalmacht dazu in der Lage ist? Nichtsdestotrotz ist es wahrscheinlich, dass China gezwungen sein wird stärker in Afghanistan einzugreifen und einen Modus Vivendi bezüglich Zusammenarbeit mit den Taliban zu finden, um seine derzeitigen und zukünftigen finanziellen Interessen zu schützen, besonders im Zusammenhang mit der sogenannten „neuen Seidenstraße“. Laut iranischen Quellen hat Peking wegen diesem Projekt den Taliban versprochen, beim Wideraufbau der zerstörten afghanischen Infrastruktur zu helfen. China versucht außerdem, Separatisten in der Provinz Xinjiang zu isolieren, indem sie davon abgehalten werden Unterstützung bei jihadistischen Gruppen auf der anderen Seite der Grenze zu bekommen.
Jahrzehnte der amerikanischen imperialistischen Einmischung in Afghanistan hatten einen massiven Einfluss auf die Politik in Pakistan, ein Land, das in den letzten 73 Jahren unter der Schirmherrschaft des US-Imperialismus stand. Als jahrzehntelanger Handlangerdes US-Imperialismus in der Region unterstützte die pakistanischen Regierungen das Blutbad in Afghanistan während dem „Dollar Jihad“ in den 80ern und später während dem sogenannten „Krieg gegen den Terror“. Die herrschende Klasse Pakistans wurde dabei stinkreich und hat die reaktionären Kräfte der Taliban auch eingesetzt, um Angst und Schrecken unter der Arbeiterklasse im eigenen Land zu verbreiten.
Aber die jüngsten Entwicklungen in Afghanistan haben das Fundament des Pakistanischen Staates erschüttert. Die USA wälzen die Schuld für ihre gescheiterte Politik während der letzten zwei Jahrzehnte auf Pakistan ab. Korrekterweise werfen sie der pakistanischen Regierung vor, ein doppeltes Spiel in diesem Krieg zu spielen. Sie werfen ihr vor, sich durch das amerikanische Geld eine goldene Nase verdient zu haben (33 Milliarden Dollar laut Donald Trump), das sie für die Unterstützung des sogenannten „Krieg gegen den Terror“ bekommen haben und gleichzeitig einen sicheren Rückzugsort für die Führung der Taliban bereitgestellt zu haben. Jetzt planen die USA, ihrem früheren Handlanger in der Region eine Lektion zu erteilen.
Dass der US-Imperialismus nicht in der Lage war, seine langjährige Marionette zu kontrollieren, ist ein weiterer Ausdruck der Krise, in der er steckt. Nichtsdestotrotz lässt er jetzt auf Weltebene seine Muskeln spielen, um die Möglichkeiten des pakistanischen Staates einzuschränken und seine Bedeutung in der Region zu reduzieren.
Auf Geheiß der USA befindet sich Pakistan seit drei Jahren auf der „Grauen Liste“ der Financial Action Task Force (FATF) und sie drohen damit, das Land auf die schwarze Liste zu setzen, wenn es sich nicht an die Regeln gegen die Finanzierung von Terror und Geldwäsche hält. Tatsache ist, dass alle diese Verbrechen, inklusive der Verwicklung in den internationalen Heroinhandel, Stützen des „Dollar-Jihad“ in den 1980ern waren, als Pakistan an vorderster Front im Krieg des US-Imperialismus gegen die Sowjetunion stand. Heute sind diese Verbrechen das Lebenselixier, das durch alle Adern des pakistanischen Staates fließt.
Die US-Imperialisten nutzen ihren Einfluss bei dem IWF, der Weltbank und anderen finanziellen Institutionen, um die Wirtschaft in Pakistan zu erdrosseln. Die pakistanische Wirtschaft war von Anfang an vom IWF abhängig, der finanzielle Entscheidungen diktiert und die Budgets absegnet. Die USA haben den IWF und andere imperialistische Institutionen genutzt, um den durch die Arbeiterklasse dieses Landes geschaffenen Reichtum mit Hilfe von Darlehen und Zinsen an sich zu reißen und die herrschende Klasse unter ihrer Kontrolle zu halten.
Unter den Bedingungen dieser imperialistischen Fiskalpolitik betreibt der pakistanische Staat eine 700.000 Mann starke Armee und besitzt Atomwaffen, welche eine der ärmsten Bevölkerungen der Erde zahlen muss. In den letzten sieben Jahrzehnten wurde diese militärische Macht genutzt, um die Interessen von imperialistischen Mächten zu verteidigen. Pakistan selbst betreibt dabei eine Politik der „strategischen Tiefe“ in Afghanistan mit dem Ziel, eine gefügige Regierung in Kabul zu installieren.
Pakistan hat die herrschende Klasse der USA mehrmals dazu aufgefordert, den Krieg in Afghanistan weiterzuführen. Ein Rückzug würde nämlich bedeuten, dass die USA nicht mehr auf Pakistan angewiesen wären, um ihren Einfluss in der Region zu halten und daher den Geldfluss zur herrschenden Klasse Pakistans beenden könnten. Trotz aller Bitten ziehen sich die USA nun aus der Region zurück – für den Moment. Nachdem die herrschende Klasse der USA in den ungefähr letzten zehn Jahren freundschaftliche Beziehungen zur indischen Regierung aufgebaut hat um gegen China vorzugehen, schwindet die Bedeutung Pakistans.
Ein Zeichen für diese veränderten diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und Pakistan war letzte Woche deutlich zu sehen. Die USA haben Pakistan auf die Liste von Ländern aufgenommen, die Kindersoldaten im Krieg einsetzen. Das schneidet das Land von militärischer und finanzieller Hilfe durch eine Vielzahl von Ländern ab. Diese Maßnahme zeigt die Wut der imperialistischen Puppenspieler, die ihre Lieblingsmarionette auf der Suche nach besseren Optionen in der Region fallen lassen.
Die herrschende Klasse Pakistans versucht dabei aber, gleichzeitig die herrschende Klasse der USA für sich zu gewinnen und die Machtübernahme der Taliban in Kabul zu unterstützen, um eine bessere Verhandlungsbasis zu haben. Aber keine dieser Optionen ist in der Lage, alle ihre Ziele zu erfüllen, die voller Widersprüche sind. Das Problem, vor dem die herrschende Klasse Pakistans steht ist, dass die Taliban nicht vollständig auf sie angewiesen sind und ohne die Hilfe des Iran, Russlands und anderer Regionalmächte nicht in der Lage wären zu überleben. Nicht einmal mit dieser Hilfe sind die stark genug, um das ganze Land zu übernehmen.
Falls es den Taliban irgendwann gelingt, Kabul einzunehmen, wäre das Ergebnis ein schwaches und instabiles Regime. Innere Konflikte und Spaltungen würden entstehen. Dazu würde noch der Widerstand durch oppositionelle Kräfte aus lokalen Großgrundbesitzern und Stammesführern kommen.
Die soziale Instabilität ist in das Fundament dieses armen Landes eingemauert. Dieses Problem kann weder der Heroinhandel noch andere kriminelle Aktivitäten lösen. Die finanzielle Unterstützung durch China, Russland, den Iran, Pakistan und andere Staaten wird nicht in der Lage sein, den Hauptgrund der Instabilität aus der Welt zu schaffen, die extreme Armut und das Elend der Massen. Es ist wichtig festzuhalten, dass die Abermilliarden Dollar, die in den letzten Jahrzehnten durch die USA und ihre Verbündeten nach Afghanistan geflossen sind nur in den Taschen von Warlords, Stammesoberhäuptern, NGOs und natürlich amerikanischen Unternehmen gelandet sind, die am Krieg verdient haben.
Der Iran, Russland und China wollen allesamt aus der Logik ihrer eigenen Interessen Afghanistan stabilisieren, da sie verhindern wollen, dass die Konflikte über ihre Grenze überschwappen. Sie wollen ein Regime einsetzen, das ihnen freundlich gesonnen ist, aber es gibt keine Perspektive auf echte Stabilität in der näheren Zukunft. Sektiererische Konflikte, das Anwachsen von lokalen Milizen und Stellvertreterkriege werden auf die eine oder andere Art erhalten bleiben und zu andauerndem Blutvergießen, Sterben und einer Verlängerung des Leidens der Afghanischen Massen führen. Das wird zu einem Massenexodus von afghanischen Flüchtlingen in die Nachbarländer führen. Die westlichen imperialistischen Staaten, die für diese Misere verantwortlich sind, weigern sich schon heute AfghanInnen aufzunehmen und verdammen sie zu einem Leben in der Hölle, die der Imperialismus selbst erst geschaffen hat.
Nachbarstaaten wie Pakistan haben in den letzten vierzig Jahren afghanische Flüchtlinge gnadenlos ausgebeutet. Einerseits wird das Leiden der Flüchtlinge genutzt, um die reichen Länder dieser Welt um finanzielle Unterstützung zu bitten, die letztendlich einfach in den Taschen der Reichen landet. Andererseits wird die billige Arbeitskraft von nichtdokumentierten Flüchtlingen durch die KapitalistInnen in diesen Ländern genutzt, um die Ausbeutung zu verschärfen und die Durchschnittslöhne nach unten zu drücken. In der Vergangenheit wurden diese Flüchtlinge auch von reaktionären Kräften für staatlich geförderte Terrorakte rekrutiert. Heute hat sich die Situation allerdings deutlich geändert, nachdem es weitverbreiteten Hass gegenüber den Taliban und ihren Unterstützern gibt.
Heute kocht eine revolutionäre Stimmung gegen die Politik der herrschenden Klasse in den Regionen Pakistans, die an Afghanistan grenzen und die in den 1980ern noch ein Rekrutierungsgebiet für Jihadisten und eine Basis der Reaktion waren. Eine mächtige Bewegung gegen die sogenannten „Militäroperationen“, Krieg und Terrorismus im Namen von Religion und imperialistischen Interessen ist entstanden. Unglücklicherweise war die Führung dieser Bewegung bisher nicht in der Lage, die Arbeiterklasse für sich zu gewinnen und in der gesamten Region eine Massenbewegung mit einem klaren Klassenstandpunkt aufzubauen. Stattdessen haben sie wie das Schaf, dass den Wolf um Hilfe bittet, den US-Imperialismus um Rettung vor dem Vormarsch der Taliban gebeten.
Die Ereignisse haben den Charakter der sogenannten „Linken“ und „Nationalisten“ in der gesamten Region aufgedeckt, die in den letzten zwanzig Jahren den US-Imperialismus unterstützt haben. Wenn vor 20 Jahren der Klassenkampf und -krieg gegen den US-Imperialismus und die Taliban geführt worden wäre, wie es die MarxistInnen gefordert haben, würden die Dinge heute ganz anders aussehen. Eine revolutionäre Alternative wäre für die Massen Afghanistans vorhanden gewesen. Er hätte mit der Unterstützung der Arbeiterklasse in den Nachbarländern geführt und gewonnen werden können, insbesondere im Iran und Pakistan. Schlussendlich hätten die Massen an die Solidarität der ArbeiterInnen auf der ganzen Welt appelliert, inklusive denen in den USA. Aber die Ex-Linken und Nationalisten haben von Anfang an geleugnet, dass es diese Möglichkeit gegeben hätte und zogen es vor, die blutverschmierte Hand der einen oder anderen imperialistischen Macht zu schütteln, die das ganze Land in den Abgrund gerissen haben.
Es ist an der Zeit, die notwendigen Schlussfolgerungen aus dem Chaos zu ziehen und eine klassenkämpferische Alternative auf der Basis der wahren Ideen des revolutionären Marxismus aufzubauen. Nur die Arbeiterklasse der Region hat das Potential und den Willen, alle reaktionären Kräfte in Afghanistan zu besiegen und Frieden und Wohlstand in diese vom Krieg zerrissene Region zu bringen. Auf Basis des Kapitalismus führen alle Wege zu Elend und Zerstörung. Der Kapitalismus würde die nächsten Generationen von AfghanInnen weiter in den Strudel von Krieg und Vernichtung werfen.
Die sozialistische Transformation Afghanistans ist der einzige Weg vorwärts und ist eng mit dem Schicksal der Revolutionen im Iran, Pakistan und anderen Ländern in der Region verbunden. Alle Anstrengungen müssen sich darauf richten, eine revolutionäre Bewegung auf der Basis dieser Ideen aufzubauen. Nur das kann den andauernden Krieg in Afghanistan stoppen und das Blutvergießen ein für alle Mal beenden.
Der Funke Österreich
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