Argentinien steckt tief in der Krise. Ebenso die Präsidentschaft von Mauricio Macri. In den Wahlen Ende Oktober wird er vermutlich von den «Kirchneristen» geschlagen. Doch was können diese gegen die katastrophale soziale Situation im Land tun?
Das Resultat der Vorwahlen im August war eindeutig. Der amtierende rechte Präsident Mauricio Macri bekam eine schallende Ohrfeige. Er machte 16 Prozentpunkte weniger Stimmen als die Kandidaten der «Kirchneristen». Das Ticket der Expräsidentin Cristina Fernandez de Kirchner und ihrem Präsidentschaftskandidaten Alberto Fernandez erreichte 47%. Die Ablehnung der aktuellen Präsidentschaft erklärt sich in erster Linie mit der katastrophale Situation, in welche Macris Politik Millionen von Arbeiterfamilien gestürzt hat.
Vor dem Hintergrund der Krise
Nach seinem Sieg 2015 konnte Macri etwa zwei Jahre lang das Gesicht einer freundlichen rechten Präsidentschaft aufrechterhalten. Dann zwangen ihn die Wirtschaftskrise, die Bedürfnisse der argentinischen Kapitalisten und die Währungs- sowie Staatsschuldenprobleme, zu massiven Konterreformen überzugehen. Obwohl er Ende 2017 eine drakonische Rentenreform durchs Parlament gepeitscht hatte, brach im Sommer 2018 der Peso ein. Für das internationale Kapital gingen Macris Konterreformen nicht schnell und weit genug. Es folgte das grösste Rettungspaket des Internationalen Währungsfonds (IWF): 50 Milliarden US$. Damit sollte die Konjunktur gestützt werden. Im Gegenzug musste Macri drastische Kürzungen im Staatsbudget garantieren.
Macri entliess 35’000 Staatsangestellte und erhöhte die Preise für Gas, Strom und Wasser ums Unermessliche. In vier Jahren stiegen diese Ausgaben von 6% auf 26% eines Mindestlohnes. Mit dem Sturz des Pesos stieg die Inflation. Aktuell steht sie bei 57%. Das liess die Löhne dahinschmelzen. Innerhalb von 12 Monaten verloren diese zwischen 10 und 30 Prozent Kaufkraft.
Macris Politik, zusammen mit den eingebrochenen Exporten nach Brasilien und China, führten dazu, dass seit seinem Amtsantritt weit über 100’000 Arbeitsplätze zerstört wurden. 4 von 10 Argentiniern sind arbeitslos oder arbeiten schwarz. Jeder 13. Argentinier kann sich nur eine warme Mahlzeit pro Tag leisten.
So katastrophal war die Situation das letzte Mal um den letzten Staatsbankrott von 2001. Dieser eröffnete eine mehrjährige vorrevolutionäre Situation, den sogenannten “Argentinazo”. Zwischen 2001 und 2003 wurde das Land von fünf verschiedenen Präsidenten regiert. Einer davon musste mit dem Helikopter vom Dach des Präsidentenpalastes fliehen, weil er von Demonstranten belagert wurde.
Die Rolle der Kirchners
Beendet wurde diese Episode schlussendlich durch einen erneuten Wirtschaftsaufschwung. Auf dem Rücken eines enormen Exportbooms, speziell der Soja-Exporte nach China und der Autobestandteilexporte nach Brasilien, konnten die Kirchner Regierungen ab 2003 gewisse fortschrittliche Reformen und Sozialwerke einführen. Die Politik der Kirchners zielte bewusst darauf ab, den argentinische Staat nach längerem Herzstillstand wiederzubeleben. Die Standhaftigkeit von Chinas Nachfrage nach Rohmaterial und Soja, auch nach dem Ausbruch der Krise von 2008, erlaubte es dem Kirchneristischen Experiment, noch etwas länger zu überleben.
Doch als auch diese Exporte sich nach 2012 abschwächten und der Handelspartner Brasilien in die Rezession schlitterte, begann für Argentiniens Wirtschaft die Talfahrt. Von einem Retter in der Not war der Kirchnerismus zu einem «Reformismus ohne Reformen» geworden und wurde unzeremoniell aus dem Amt geworfen.
Gibt Kirchner Hoffnung?
Das Resultat der Vorwahlen ist nicht schwer zu erklären. Die Lohnabhängigen wählten die Kandidatur, mit der sie Macri sicher loswerden. Die Frage lautet jedoch: Welchen Spielraum hat die neue Regierung?
Siegen die Fernandez im Oktober, werden sie als erstes mit dem IWF verhandeln müssen. Es ist durchaus möglich, dass sie einen Aufschub der dringendsten Zahlungen erreichen können. Das gäbe Raum, mit minimalen Sozialprogrammen die krassesten sozialen Missstände anzugehen.
Alberto Fernandez, vertritt sehr gemässigte Positionen. Trotzdem sieht das internationale Kapital die Kirchneristen als eine Gefahr. Sie fürchten die Kandidaten weniger als die Massen, welche hinter ihnen stehen. Das illustriert der erneute Kurssturz des Pesos nach den Vorwahlen im August und die ersten Zahlungsausfälle auf die Zinsen der Staatsschulden. Nach den Wahlen werden die Angriffe der Bourgeoisie sicher noch härter. Sie werden alles tun um die Regierung zu disziplinieren.
Doch im Gegensatz zum IWF kann man mit den Gesetzen des Marktes nicht verhandeln. Der Staatsbankrott, die sich intensivierende Wirtschaftskrise und der Exportrückgang fesseln dem Staat die Hände im Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Hunger.
Es wird nicht lange dauern, bis sich die Fernandez entscheiden müssen. Brechen sie mit dem Kapitalismus und verteidigen sie die Arbeiter? Oder retten sie ein weiteres Mal das herrschende Unterdrückungssystem im Interessen der Kapitalisten?
Was es bräuchte
Es ist nicht so, als würden die Argentinier und Argentinierinnen tatenlos der Zerstörung ihrer Lebensbedingungen zusehen. Punktuelle Grossdemonstrationen zeigen den herrschenden Unmut. Die Massenorganisationen der Kirchneristen und die ihnen affinen Gewerkschaftszentralen bremsen jede grössere Bewegung jedoch aus. Anstatt den legitimen Unmut der Massen auf die Schuldigen, die Regierung und die Kapitalisten zu richten und für den Sturz Macris zu kämpfen, sind sie darauf bedacht, jegliche Mobilisationen zu unterdrücken. Seit dem Beginn der Macri-Regierung wiederholen sie das gleiche Mantra: Wartet auf die Wahlen 2019 und wählt uns wieder. Die Kirchneristen stellen die Arbeiterklasse absichtlich ruhig und erfüllen erneut ihre Rolle als Retter des Kapitalismus. Nur dieser Politik ist es zu verdanken, dass die bürgerlichen Institutionen nicht bereits vor dem Regierungswechsel von der massiven angestauten Wut weggesprengt werden.
Die zweite, aber letzte Chance
Die Lohnabhänigen geben dem Kirchnerismus eine zweite Chance. Die Belohnung wird höchstens eine kurze Verschnaufpause sein. Schnell werden sie feststellen, dass hohle Versprechungen keine hungrigen Mäuler stopfen. Sie haben lange auf den Regierungswechsel gewartet und Macris Konterreformen akzeptiert. Doch ihre Geduld reicht nicht ewig. Mit einem erneuten Einbrechen der Konjunktur am Horizont wird der Reformismus der Kirchneristen ein weiteres Mal keinen Ausweg bieten.
Wir stehen also vor einer Intensivierung der Polarisierung und einer Periode von härteren Klassenkämpfen in Argentinien. Mit den Fernandez in der Regierung gibt es keine Opposition mehr, welche die Kämpfe ausbremst. Die Auseinandersetzung wird sich nach der Erfahrung Macri, aber auch den Erfahrungen mit den Kirchneristen, auf einer höheren Ebene abspielen. Die Frontlinien werden klarer verlaufen: Zwischen der Arbeiterklasse, welche mit dem Rücken zur Wand steht, und der Klasse der lokalen und internationalen Kapitalisten und ihrem Staat. Dazwischen gibt es keine stabile Position. Der Kapitalismus in der Krise lässt das nicht zu.
Caspar Oertli, Redaktion
Bild: Der Argentinische Ex-Präsident Macri und der gerade von einem Massenaufstand heimgesuchte Chilenische Präsident Piñera
CC 2.5 Casa Rosada via Wikipedia
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