Wir veröffentlichen hier ein bearbeitetes Transkript eines Vortrages von Jorge Martín (von der Internationalen Marxistischen Tendenz) an der «Latin American Political Education School» vom 28. Mai 2021. Er analysiert die Situation in Lateinamerika, das in der COVID-19-Pandemie und der kapitalistischen Krise versinkt, auf die die Massen mit sozialen Explosionen reagieren. In seinem Vortrag untersucht er auch Themen wie die Forderung nach verfassungsgebenden Versammlungen, die «progressiven Regierungen», oder die Rolle der Jugend und der Frauen in diesen revolutionären Bewegungen, welche nun den Kontinent durchziehen. Die Ereignisse überschlagen sich und haben sich in einigen Fällen seit dem Zeitpunkt, als diese Rede gehalten wurde, weiterentwickelt – aber sie bestätigen Jorges Analyse.
Das Original auf Spanisch hier
Lateinamerika ist die Region der Welt, die am stärksten von der Pandemie betroffen ist, sowohl in gesundheitlicher als auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Offiziellen Zahlen zufolge hat Lateinamerika bereits eine Million Todesfälle durch COVID-19 verzeichnet, diese Zahlen sind aber nicht genau. Nehmen wir zum Beispiel die offiziellen Zahlen für Mexiko, die sich auf etwa 200’000 Todesfälle belaufen. Wenn wir aber die überzähligen Todesfälle im Verhältnis zu den Jahren vor der Pandemie betrachten, liegt die Zahl bei 400’000: Die große Mehrheit davon ist an COVID-19 gestorben, aber sie wurden nicht als solche registriert. In Peru liegt die offizielle Zahl der Todesfälle durch die Pandemie bei etwa 70.000, der Überschuss an Todesfällen beträgt jedoch 180.000, also mehr als das Doppelte.
Es gibt zwar auch andere Länder, in denen die Zahlen eher der Realität entsprechen, aber wenn wir uns die aus der ganzen Welt ansehen, sind die führenden Länder meist aus Lateinamerika. Peru litt an einer Übersterblichkeit von 140%. Ecuador, Nicaragua, Bolivien, Mexiko, Brasilien, Kolumbien – praktisch alle Länder, die in Sachen Übersterblichkeit die vordersten Plätze belegen, liegen in Lateinamerika.
Auch wirtschaftlich hat diese Region den grössten Rückgang erlitten: 7,7 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts, doppelt so viel wie der Weltdurchschnitt. Eine Zahl, die nach Ansicht einiger bürgerlicher Ökonomen seit 1821 nicht mehr erreicht wurde. Mit anderen Worten: In der gesamten Geschichte des unabhängigen Lateinamerikas hat es keinen so brutalen Wirtschaftseinbruch gegeben, der den gesamten Kontinent betroffen hat. Aber nicht nur das: In der Periode vor diesem Einbruch, also von 2015-19, betrug das Wirtschaftswachstum in Lateinamerika durchschnittlich 0,3 Prozent pro Jahr. Das entspricht einer fünfjährigen Stagnationsperiode. Diese Stagnation bedeutete eine deutliche Verschlechterung der Lebensbedingungen der Massen. Jetzt haben wir einen Einbruch von mehr als 7 Prozent!
Alle Widersprüche der Pandemie und der weltweiten kapitalistischen Krise kommen auf dem amerikanischen Kontinent in verschärfter Form zum Ausdruck. Die extreme Armut ist auf das Niveau der 1990er Jahre zurückgekehrt. Es wird geschätzt, dass die Wirtschaft der Region erst 2024, also in weiteren drei Jahren, das Niveau von 2019 wieder erreichen wird. Und meiner Meinung nach sind diese Wirtschaftsprognosen der ECLAC [die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik] und der Weltbank ziemlich optimistisch, weil sie davon ausgehen, dass die Pandemie kontrolliert werden kann – die Pandemie ist aber überhaupt nicht unter Kontrolle. Die Impfraten sind in ganz Lateinamerika sehr niedrig und die Politik der meisten Regierungen ist völlig unverantwortlich, wenn nicht geradezu kriminell. Selbst Länder, die zunächst eine wirksame restriktive Quarantänepolitik betrieben und es geschafft haben, die Pandemie unter Kontrolle zu bringen, sehen jetzt, wie das Virus ausser Kontrolle gerät.
Die völlig kriminelle Pandemiepolitik, die beispielsweise in Brasilien verfolgt wurde, hat dieses Land nun zu einer wahren Brutstätte für alle möglichen neuen Varianten von COVID-19 gemacht, die viel übertragbarer und letztlich tödlicher sind.
Es stimmt nicht, dass die Wirtschaftskrise durch die Pandemie verursacht wurde, und im Fall von Lateinamerika haben wir mit Zahlen bewiesen, dass die kapitalistische Krise schon vorher, mindestens vor fünf Jahren, begonnen hat. Aber die Pandemie mit ihrem plötzlichen und abrupten Auftreten, das die Wirtschaftstätigkeit lähmte, verschlimmert und verschärft die Wirtschaftskrise.
Schon vor der Pandemie befand sich Lateinamerika in einem enormen Umbruch. Es herrschte nicht etwa kapitalistische Stabilität und die bürgerliche Demokratie, sondern eine höchst turbulente Situation, die ihren deutlichsten Ausdruck in der Zeit fand, die wir den «Roten Oktober» von 2019 nennen. Manche sprechen sogar vom «Roten Jahr» 2019, das in den Massenaufständen in Ecuador und Chile gipfelte. In Ecuador flüchtete die Regierung aus dem Präsidentenpalast und musste die Hauptstadt verlassen – ein bisher ungesehenes Schauspiel. Und in Chile waren die Ereignisse vielleicht sogar noch dramatischer, obwohl die Regierung aus dem Palast La Moneda, dem chilenischen Regierungssitz, nicht vertrieben wurde. Fast drei Monate rebellierten die Massen auf der Strasse und konnten auch durch die gröbste Repression nicht befriedet werden.
Das ist die politische Hintergrundgeschichte. Schon vor der Pandemie herrschten eine enorme soziale Polarisierung und akute Widersprüche. Diese höchst instabile Situation hängt auch mit der Weltlage zusammen. Vor der Pandemie sahen wir bereits die revolutionären Aufstände in Algerien, Sudan, Libanon, Irak usw. Und was in Lateinamerika, in Haiti, Ecuador, Chile und sogar in Puerto Rico geschah, war Teil dieses allgemeinen Prozesses, doch mit seinen eigenen Merkmalen.
Die jetzige kapitalistische Krise hat den ArbeiterInnen, den BäuerInnen, den Massen, insbesondere denen, die im informellen Sektor der Wirtschaft arbeiten, der Jugend einen sehr harten Schlag versetzt. Doch haben nicht alle den Kürzeren gezogen: Die neuesten Zahlen, die gerade veröffentlicht wurden, zeigen, dass die Zahl der Dollarmilliardäre in Lateinamerika von 2019 bis heute von 76 auf 107 gestiegen ist, die meisten von ihnen in Brasilien und Mexiko. Und ihr kumuliertes Vermögen ist von 284 Milliarden auf 480 Milliarden Dollar gestiegen. In anderthalb Jahren hat es sich fast verdoppelt! Die meisten von uns verlieren, und doch vermehren einige wenige ihren Reichtum selbst in einer so tiefen Krise.
Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, dass das plötzliche Auftreten der Pandemie – die das soziale Leben zum Stillstand gebracht hat, physische Kontakte erschwert und Angst vor Ansteckung schürt – den revolutionären Prozess, der sich zu entwickeln begonnen hatte, gelähmt oder zumindest auf Eis gelegt hat. Aber auch diese Pause dauerte nicht lange. Die Massen der Arbeiter, der Bauern, der indigenen Bevölkerung, der Jugend haben keine andere Wahl, als weiter zu kämpfen. In vielen Ländern stehen sie vor einem Dilemma: zur Arbeit gehen mit dem Risiko, sich anzustecken, was in vielen Fällen ein hohes Sterberisiko bedeutet, oder zu Hause bleiben und hungern, weil sie keine Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
So haben wir gesehen, dass es sogar während der Pandemie im September letzten Jahres Aufstände gegen Gewalt und Polizeimorde in Bogotá und anderen Städten Kolumbiens stattfanden, bei dem 40-50 Polizeistationen in den Vierteln niedergebrannt wurden. Im November 2020 waren riesige Mobilisierungen in Peru ein Vorspiel dafür, was jetzt passiert. Als das Parlament versuchte, Präsident Vizcarra mit dem Vorwurf der Korruption abzusetzen, während die Kongressabgeordneten selbst alle korrupt sind, ging das Volk auf die Straße, es kaufte ihnen dieses Manöver nicht ab. Sie strömten auf die Strassen – nicht etwa, um die Regierung zu verteidigen, sondern um alle Politiker anzugreifen. Eine Woche spontaner Demonstrationen zwangen die Regierung in die Knie.
In Guatemala führte etwa zur gleichen Zeit ein Protest gegen Budgetkürzungen dazu, dass Demonstranten das Kongressgebäude in Brand setzten. Im März dieses Jahres sahen wir den Aufstand in Paraguay. In einer Situation der totalen Verzweiflung, in der Menschen starben und Krankenhäuser kaum über medizinisches Material verfügten, mussten die Leute selbst für das Material und ihre Behandlungen aufkommen. Die Infektionsrate war in dem an Brasilien grenzenden Land sehr hoch. Als das Volk auf die Strasse ging, reagierte die Regierung der Colorado-Partei mit Repression, aber das Volk stellte sich der Polizei entgegen und schaffte es an einem Punkt, sich auf der Strasse durchzusetzen. Schliesslich kommen wir zum 28. April dieses Jahres, zum Beginn des kolumbianischen Nationalstreiks.
Mit anderen Worten können wir beobachten, dass die Frage der revolutionären Massenmobilisierung, die ja bereits vor der Pandemie in den Vordergrund trat, nun anders als früher beantwortet wird. Diese Frage hängt nicht direkt mit der Pandemie zusammen, sondern mit dem steten Niedergang der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der Massen im Zuge dieser Pandemie, was die Mobilisierungen nur vorantreibt. Die Pandemie hat die ungeheuren Unterschiede im Reichtum und die enorme Korruption der bürgerlichen Demokratie ans Licht gezerrt – und das auf einem Kontinent, auf dem ein Skandal auf den anderen folgte, bei dem sich irgendein Politiker oder eine Geschäftsfrau illegalerweise früher impfen liess, ohne dass eine richtige Impfkampagne überhaupt angelaufen wäre. Die Zerstörung der öffentlichen Gesundheitssysteme über viele Jahre hinweg hat diese Länder einer solchen Pandemie völlig ausgeliefert.
All dies verstärkt die Unzufriedenheit, die sich bereits aufgestaut hatte, und schafft eine Situation enormer Polarisierung; eine Situation, die darüber hinaus von enormem Misstrauen gegenüber allen Institutionen der bürgerlichen Demokratie geprägt ist. In vielen dieser Länder haben die Mobilisierungen ein gemeinsames Merkmal, nämlich den Kampf gegen die Korruption. In Peru sind die letzten fünf Präsidenten alle entweder im Gefängnis oder wegen Korruption verurteilt oder zumindest angeklagt. Das Gespenst des «que se vayan todos», («Schafft sie alle ab»), der Slogan, der im Jahr 2001 während der sozialen, politischen, wirtschaftlichen und institutionellen Krise des Argentinazo-Aufstands die Massen mobilisierte – dieser Slogan sucht jetzt erneut Lateinamerika heim.
Und das zeigt sich zum Beispiel bei den Wahlen für die Verfassungsgebende Versammlung in Chile, wo die Mehrheit der etablierten Parteien sehr schlecht abgeschnitten hat. Bei den Wahlen in Peru gelang es einer zuvor fast nicht existenten Partei, in die zweite Wahlrunde vorzudringen, sie droht sogar, das Präsidentenamt zu gewinnen [was letztlich auch geschehen ist – Anm. d. Red]. Die bürgerliche Demokratie steckt bis zum Hals in einer Legitimitätskrise, und zwar weil sie keines der Probleme der Massen lösen kann und von den Massen richtigerweise als völlig korrupte Institution im Dienste der Reichen, der Kapitalisten und der imperialistischen Herren dieser Länder angesehen wird.
Eines der markantesten Beispiele dafür ist das Ergebnis der Wahlen der Verfassungsgebenden Versammlung in Chile. Diese Wahlen zeigen erstens eine sehr deftige Niederlage für den rechten Block, der die Regierung stellt und derzeit völlig diskreditiert ist. Ich glaube aber auch, dass es sehr bezeichnend ist, dass die Parteien der alten Concertación de Partidos por la Democracia («Koalition der Parteien für die Demokratie»), die sich in Nueva Mayoría («Neue Mehrheit») umbenannte, besiegt wurden. Diese Koalition umfasste alles von der Kommunistischen Partei bis zu den Christdemokraten, aber jetzt sind die Sozialistische Partei, die Christdemokraten und andere Parteien dieses Blocks bei diesen Wahlen völlig diskreditiert. Sie können sich nicht als Ablösung für die Rechten geben und haben dementsprechend wirklich schlechte Wahlergebnisse erzielt, die sie in eine sehr tiefe Krise gestürzt haben.
Aber auch darüber hinaus muss man sehen, dass es innerhalb der Linken la Lista del Pueblo, also die Liste des Volkes ist, die, wenn auch auf eine etwas verzerrte oder nicht ganz klare Weise, den Aufstand von 2019 besser oder direkter repräsentiert. Sie hat Vertreter der sozialen Bewegungen und der Volksversammlungen, und sie hat praktisch das gleiche Ergebnis erzielt wie die Apruebo Dignidad (ungefähr: «Ja zur Würde»), was die Liste ist, welche die Kommunistische Partei und die Breite Front umfasst. Das sind zwei Organisationen, die eine viel längere Tradition haben als die in den letzten Monaten improvisierte Lista del Pueblo, die viel stärker militant verwurzelt sind und die ebenfalls gute Ergebnisse erzielten. Es ist bezeichnend, dass Apruebo Dignidad die Ex-Concertación in der Anzahl der Stimmen und in der Anzahl der Wählerstimmen übertrifft.
Diese Ablehnung aller politischen Parteien spiegelt sich in der Tatsache wider, dass unabhängige oder vermeintlich unabhängige Kandidaten die Mehrheit in der Verfassungsgebenden Versammlung gewonnen haben. Hinzu kommt, dass die Enthaltung mit 58 Prozent sehr hoch war, die Beteiligung also nur 42 Prozent betrug. Nicht einmal die Verfassungsgebende Versammlung und die Versprechen, nun alles anders zu machen und die alte Pinochet-Verfassung in die Tonne zu treten, nicht einmal das konnte einen Grossteil der Bevölkerung begeistern! Sie sehen nicht ein, wie so irgendetwas gelöst werden soll.
Der Kampf in Chile drückt sich nicht nur in den Wahlen, sondern auch in den Mobilisierungen aus. Eine Woche vor den Wahlen wurden die Häfen bestreikt und mit Generalstreik gedroht, was die bürgerlichen Institutionen, in diesem Fall das Verfassungsgericht, dazu zwang, der Piñera-Regierung in der Frage nach dem dritten vorgezogenen Rentenbezug in den Rücken zu fallen. Die ArbeiterInnen forderten, zum dritten Mal, einen Teil des Geldes, das sie in private Rentenfonds eingezahlt haben, abheben zu können. Die Regierung war dagegen, aber das Verfassungsgericht hat das klar durchgeboxt, um eine erneute soziale Explosion zu vermeiden. Eine wichtige Entwicklung.
Ich denke, wir müssen einen Moment innehalten, um diese Frage der Verfassungsgebenden Versammlung zu betrachten. Was bedeutet die Verfassungsgebende Versammlung im Allgemeinen und was bedeutet sie im Besonderen in Chile? Hier war sie ein Manöver der Bourgeoisie, des Regimes, um die Aufmerksamkeit der Massen während des Aufstandes 2019 abzulenken. Es war klar, dass die Massen den Sturz der Regierung forderten, als Piñera und das gesamte Regime in den Seilen hing. Damals trafen sich alle Parteien, von der Breiten Front auf der Linken bis zu den Parteien, die Piñeras Regierungsmehrheit unterstützen, die pinochetistische Rechte, in einem großen Nationalen Friedensabkommen, und kamen so auf diese Idee, eine Verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Bloss die Kommunistische Partei blieb fern, widersetzte sich dem Abkommen aber nicht, wenn sie es auch nicht unterschrieb.
Eindeutiges Ziel war es, die Beteiligung der Massen am revolutionären Kampf auf den Strassen, der das gesamte Regime zu stürzen drohte, zu unterbinden und die Bewegung in den bürgerlichen Parlamentarismus zu lenken, der natürlich viel leichter zu lenken ist. Und in der Praxis ist ihnen das auch gelungen. In dem Masse, wie die revolutionäre Alternative oder eine wegweisende revolutionäre Führung fehlte, in dem Masse haben sich die Massen unvollständig und verzerrt durch die Wahlen ausgedrückt.
Ganz allgemein aber ist diese Frage der Verfassungsgebenden Versammlung in vielen lateinamerikanischen Ländern aufgeworfen worden, in denen es enorme Umwälzungen stattfanden. Sie wird in Peru aufgeworfen und in vielen anderen Ländern diskutiert. Das hat zwei Seiten: Erstens ist eine Verfassungsgebende Versammlung im Allgemeinen ein bürgerliches Parlament. Sie ist eine bürgerlich-demokratische Versammlung, die sich von einem normalen Parlament nur dadurch unterscheidet, dass sie nicht allgemein Gesetze macht, sondern die Aufgabe hat, ein verfassungsgebendes Gesetz, also eine neue Verfassung auszuarbeiten.
Für die Bourgeoisie dient die Verfassungsgebende Versammlung manchmal dazu, das System zu rehabilitieren, das heißt, die Legitimität des bürgerlich-demokratischen Systems zu regenerieren – oder sie versucht es zumindest. Angesichts einer Situation, in der die Massen alle gegenwärtigen Institutionen als verfault ansehen, sagt die herrschende Klasse: Wir werden eine neue Verfassung diskutieren und alles wird viel besser und viel demokratischer sein und wir werden die Massen dazu bringen, dem System wieder zu vertrauen.
Aus der Sicht der Massen drückt diese Forderung jedoch oft auf verzerrte Weise die Idee aus, dass «wir alles ändern werden», dass «wir alles an der Wurzel anpacken müssen, das ganze System ist verrottet, und wir brauchen ein neues». Das Problem ist, dass eine neue Verfassung nicht dazu ausreicht, die Situation grundlegend zu verändern. Es ist nicht so, dass Länder wie Chile oder Peru einfach eine unvollkommene, undemokratische bürgerliche Demokratie hätten, die dem Erbe der Diktaturen geschuldet wären. Das ist zwar ein Problem, aber es ist nicht das grundlegende Problem. Selbst bei einer «perfekten» bürgerlichen Demokratie in Peru, Chile und Kolumbien wären die Herrschenden noch immer dieselben, nämlich die EigentümerInnen der Produktionsmittel. In Peru würde die CONFIEP (Nationaler Verband der Privatunternehmen) weiter regieren, in Chile würden Piñera und seine Millionärsfreunde und die großen Kupfermultis weiter regieren, und in Kolumbien würde dieselbe Oligarchie weiter regieren, die sich auf Großgrundbesitz stützt und, verbunden mit dem Drogenhandel und anderen Sektoren der Bourgeoisie, im Dienste des US-Imperialismus steht und vor diesem auch kuschen muss.
Was ist dann unsere Aufgabe? In erster Linie müssen wir das gefährliche Potenzial der Verfassungsgebenden Versammlung erklären, eine revolutionäre Mobilisierung in Richtung des bürgerlichen Parlamentarismus abzulenken. Aber gleichzeitig müssen wir uns mit dem gesunden Instinkt der Massen verbinden, welche nach Veränderung dürsten und die das gesamte etablierte Regime hinwegfegen wollen. Die blosse Tatsache, dass es in einem Land wie Chile eine Verfassung gibt, die unter Mitwirkung von Pinochet geschrieben wurde; oder dass es in einem Land wie Peru eine Verfassung gibt, die unter Mitwirkung von Alberto Fujimori geschrieben wurde, ist ein Riesenskandal. Wir lehnen den Kampf für demokratische Freiheiten und Rechte nicht ab. Wir müssen aber erklären, dass dieser Kampf allein die dringendsten Probleme der Massen – die Armut, das Elend, die Obdachlosigkeit, die Brot- und Arbeitslosigkeit – nicht lösen kann.
Sagt die Verfassung aus, dass jede und jeder ein Anrecht auf Arbeit und Obdach hat, so heisst das in einem kapitalistischen System noch lange nicht, dass diese Rechte zur Realität werden, nur weil sie auf Papier niedergeschrieben sind. In den letzten Jahren haben in mehreren lateinamerikanischen Ländern Verfassungsgebende Versammlungen stattgefunden: in Ecuador, in Bolivien, sogar in Kolumbien (1991); die Wahrheit aber ist, dass diese Länder immer noch kapitalistisch sind und die Wirtschaft nach wie vor von Grossgrundbesitzern, Bankern, Kapitalisten und internationalen Konzernen kontrolliert wird.
Zum Beispiel haben wir in Chile während des Aufstandes davor gewarnt, dass wir die Forderung nach der Verfassungsgebenden Versammlung nicht unterstützen.Wir haben davor gewarnt, dass sie vom Regime benutzt werden könnte, was letztendlich auch geschah. Wir schlugen eine andere Forderung vor, die einen anderen Charakter hatte, die mit den grössten demokratischen Bestreben der Massen schritt halten könnte, die aber einen Charakter des totalen Widerstands hatte, welche die Frage stellen sollte: Wer regiert hier? Entweder regieren die KapitalistInnen oder die ArbeiterInnen. Diese Forderung, die wir mehr oder weniger zaghaft aufstellten, war die einer Nationalversammlung der Werktätigen mit Delegierten, die in Volksversammlungen, in den offenen Räten, unter dem kämpfenden Volk, in den Gewerkschaften, in den Betrieben, in der Jugend gewählt werden sollten. Eine Losung also, welche die Frage der Doppelmacht aufwarf: Hier ist die Macht der Bourgeoisie, in diesem verfaulten Regime, und hier ist die Macht der Arbeiterklasse, der Bauern, der Armen und der Jugend im Kampf.
Mit anderen Worten, die Losung einer nationalen Versammlung der Arbeiterklasse oder einer Volksversammlung der Arbeiter und Bauern. Oder, wie wir das in Kolumbien genannt haben, eine nationale Krisensitzung der ArbeiterInnen, der Bauern und des gesamten Volkes; von Delegierten also, die in den Fabriken, in den Vierteln, auf den Straßen, unter der Jugend und unter den Bauern gewählt werden. Lasst diese Delegierten zusammentreten und entscheiden, wie wir die Kontrolle über dieses Land übernehmen werden. Das ist eine Losung mit sowjetischem Charakter, anders als die Forderung nach einer Verfassungsgebenden Versammlung.
Und wenn wir auch gemahnt haben, dass dies eine Falle der Bourgeoisie ist, so ist unsere Position, sollten die Wahlen für die Verfassungsgebende Versammlung stattfinden, die gleiche wie gegenüber jedem anderen bürgerlichen Parlament: Wenn die revolutionäre Bewegung nicht die Kraft hat, den bürgerlichen Parlamentarismus durch die Machtergreifung zu überwinden, dann hat sie die Pflicht, an diesen Wahlen ohne Illusionen teilzunehmen und sie als ein Mittel zu nutzen, um die Notwendigkeit eines revolutionären Programms zu erklären.
Diese Diskussion muss in Zukunft vertieft werden, weil sie in immer mehr Ländern relevant sein wird.
Peru ist ein weiteres Land, in dem auf die kapitalistische Krise eine enorme Klassenpolarisierung folgt. Bei den Präsidentschaftswahlen am 6. Juni tritt auf der einen Seite Pedro Castillo aus der Partei Peru Libre an, die sich als marxistisch, leninistisch und mariateguistisch sieht. Er wird von der Oligarchie als Linksextremer, als Kandidat der maoistischen Gruppe Sendero Luminoso, als «Terrorist», als «Castro-Chavist» und so weiter verschrien. Und auf der anderen Seite kandidiert Keiko Fujimori, eine rechte Demagogin und Diktatorentochter, die aber nicht die Interessen der gesamten herrschenden Klasse politisch vertritt, sondern nur eines Teils von ihr, obwohl sich jetzt alle KapitalistInnen hinter ihre Kandidatur gestellt haben.
Auch wurde Pedro Castillo durch seine führende Rolle im Lehrerstreik 2017 bekannt, einem Streik, der gegen den Willen der Gewerkschaftsbürokratie der SUTEP stattfand, die von Patria Roja kontrolliert wird. Mit anderen Worten: Peru Libre steht auch in Opposition zu den beiden offiziellen kommunistischen Parteien, von denen die eine die Führung der SUTEP und die andere die Führung der CGTP (Allgemeiner Peruanischer Arbeiterbund) kontrolliert.
Dass ein Kandidat mit solchem Profil, der fast zufällig in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen rutschte, jetzt kurz vor dem Wahlsieg steht, ist ein Ausdruck der enormen Diskreditierung aller Parteien und Institutionen der bürgerlichen Demokratie. Dieses Phänomen ist vielen lateinamerikanischen Ländern gemein und in der tiefen Krise des Kapitalismus verwurzelt.
Eine kürzlich in Kolumbien durchgeführte Umfrage ergab, dass die Ablehnung von Präsident Duque mit 79 Prozent einen historischen Rekordwert erreicht hat, obwohl sie immer noch nicht die Werte von Piñera in Chile erreicht, der die Unterstützung von nur 7 Prozent der Bevölkerung hat. Noch erstaunlicher war aber, dass nur 5 Prozent der Befragten in Kolumbien eine positive Meinung von politischen Parteien im Allgemeinen hatten; demgegenüber hatten 90% eine negative Meinung.
Es ist also äusserst bedeutsam, dass Pedro Castillo trotz aller Angriffe und seiner kämpferischen Biografie massive Unterstützung in der zweiten Runde erhielt (tatsächlich ist seine Unterstützung in den Umfragen zurückgegangen, da er seine Botschaft in der zweiten Runde abgemildert hat). Diese Tatsache spiegelt die allgemeine Ablehnung des Regimes von 1993 und die Suche nach einer radikalen Alternative wider, und je radikaler, desto besser.
Das Programm von Castillos Partei Peru Libre leidet jedoch an denselben Mängeln wie die Programme der Parteien der reformistischen Linken in ganz Lateinamerika, und zwar an der Tatsache, dass sie die Lösung der schwerwiegenden Probleme, die die Massen betreffen, innerhalb der Grenzen des kapitalistischen Systems suchen. Das drückt sich in der Idee aus, dass «der Neoliberalismus bekämpft werden muss», als ob der Neoliberalismus etwas rein Ideologisches wäre und nicht das Ergebnis der tiefen kapitalistischen Krise. García Linera in Bolivien würde davon sprechen, durch den Staat einen «andin-amazonischen Kapitalismus» aufzubauen. Als ob es innerhalb der Grenzen des Kapitalismus Spielraum für eine andere Politik gäbe! Im Fall von López Obrador in Mexiko drückt sich dies in der Idee aus, dass das Problem nicht der Kapitalismus, sondern die Korruption sei. Wenn die Kapitalisten Steuern zahlten und die Korruption beseitigt würde, wäre alles wunderbar und Milch und Honig würden fliessen.
Das Programm von Peru Libre sagt ganz klar aus, dass sie gegen die Interessen der Bergbau- und Energiemultis vorgehen werden, aber gleichzeitig fordert es die Zusammenarbeit mit der «nationalen» «produktiven» Geschäftswelt, die «Steuern zahlen» soll usw. Um direkt zu zitieren: «Neues Wirtschaftsmodell des Staats: Unsere Partei schlägt die Wirtschaft des Volkes mit Märkten vor, ein Aspekt, der im vorigen Kapitel detailliert ausgeführt wurde. Wir lehnen private Unternehmen nicht ab, solange ihre Tätigkeit der Mehrheit der Peruaner zugute kommt».
Diese verantwortungsvollen, produktiven Unternehmer, denen das nationale Interesse, die souveräne Entwicklung des Landes am Herzen liegt – existieren in Wirklichkeit nur in der Vorstellung der Führer der reformistischen und nationalistischen Linken.
Diese Politik ist nichts anderes als ein Aufguss der stalinistischen Politik der zwei Etappen. Sie besagt, dass wir erst eine nationale, demokratische Revolution bräuchten, bei der wir mit der fortschrittlichen Bourgeoisie zusammenarbeiten müssten, und von Sozialismus könnten wir später sprechen. Diese Politik hat überall dort, wo sie angewandt wurde, zur Katastrophe geführt. Die nationale Bourgeoisie ist in der Epoche des Imperialismus unfähig, irgendeine fortschrittliche Rolle zu spielen, erstens, weil sie durch tausend Fäden an die Interessen des Imperialismus und der Großgrundbesitzer und Viehzüchter gebunden ist, und zweitens, weil in Wirklichkeit jeder Versuch, sich an die Spitze der Nation zu stellen und die ArbeiterInnen und Bauern zu mobilisieren, eine Bedrohung für ihr eigenes Herrschaftssystem darstellen würde. Dies hat Trotzki in Die permanente Revolution sehr gut erklärt.
Es gibt nirgendwo eine progressive Bourgeoisie. In Peru selbst haben wir gesehen, wie sich alle Sektoren der Bourgeoisie gegen Pedro Castillo verbündet haben, obwohl sein Programm nicht über die Grenzen des Kapitalismus hinausweist.
Bei der Vorbereitung des Wirtschaftsprogrammes von Peru Libre dienten die Regierungen von Evo Morales und Rafael Correa als Vorlage. Ich find es wichtig, aus diesen «progressiven Regierungen» Lateinamerikas die Bilanz zu ziehen und dabei auch ihre Unterschiede und Nuancen zu berücksichtigen, denn diese Regierungen waren ja nicht alle gleichwertig, noch haben sie genau dasselbe repräsentiert. Man muss verstehen, dass diese Regierungen von einem Zyklus hoher Rohstoffpreise profitierten, der etwa von 2003 bis 2014 andauerte. Das schuf ihnen einen gewissen Spielraum, um eine Politik der Zugeständnisse an die Massen und eine Reihe von Sozial-, Gesundheits- und Bildungsprogrammen usw. durchsetzen zu können. Es war dieser Periode hoher Rohstoffpreise in den Exportländern, der eine gewisse Verbesserung der Lebensbedingungen der Massen ermöglichte und diese Regierungen festigte bzw. während 10 Jahren eine gewisse Stabilität verlieh.
Das war allerdings eine recht einzigartige Periode, deren Motor das Wachstum der chinesischen Wirtschaft war und die sich nicht unbedingt wiederholen wird. Um 2013-14, als die Rohstoffpreise zu fallen begannen, gerieten all diese Regierungen in Schwierigkeiten. Sie begannen, Wahlen zu verlieren und ihre Unterstützung, die sie gewonnen hatten, wieder zu verlieren. Wir sahen das 2015 in Argentinien und in Venezuela, beim Referendum, das Evo Morales 2016 verlor, oder auch beim enormen Rückgang der Beliebtheit Dilma Rousseffs nach ihrer Wiederwahl 2014.
Hier sehen wir genau die Grenzen des Versuchs, eine Politik zugunsten der Massen führen zu wollen, ohne aber mit den Grenzen des Kapitalismus zu brechen. Es war nur teilweise und in einem sehr beschränkten Zeitraum möglich, die Einkünfte aus dem Ressourcenhandel zum Vorteil der Massen einzusetzen. In Tat und Wahrheit erfüllten die meisten dieser Regierungen die Funktion, die Legitimität der Institutionen der bürgerlichen Demokratie nach Zeiten revolutionärer Erschütterungen wiederherzustellen.
Wie sieht die Perspektive jetzt aus, angesichts der Möglichkeit, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen ähnliche Regierungen an die Macht kommen? Diese Regierungen werden über einen viel geringeren Handlungsspielraum verfügen. Sie werden nicht zehn Jahre lang hohe Rohstoffpreise geniessen, dank derer sie einige Zugeständnisse machen können. Stattdessen werden sie sehr schnell vor einem Dilemma stehen: Entweder müssen sie sich mit den Interessen der Oligarchie, des Kapitalismus und der multinationalen Konzerne anlegen, um eine Politik zugunsten der Mehrheit der Arbeiterklasse zu betreiben, die sie an die Macht gebracht hat (was sie in den meisten Fällen nicht tun werden) – oder sie werden dazu gezwungen sein, eine Politik zu betreiben, die sie in den Konflikt gegen ihre eigene soziale Basis treiben wird.
Das wird eine notwendige Erfahrung sein, eine notwendige Schule, die die Massen in diesen Ländern durchlaufen müssen, soweit es noch keine revolutionäre Alternative gibt, die der Bewegung die Führung streitig machen kann. Und das ist unsere Aufgabe.
Da wir schon von Peru sprechen, ist es in diesem Sinne interessant zu betrachten, was Mariátegui selbst gesagt hat, denn der arme Mariátegui wird von AkademikerInnen, von «progressiven» Linken und in diesem Fall von Peru Libre beansprucht. Auch Boric in Chile hat ihn kürzlich zitiert, indem er sagte, die Bewegung dürfe «weder eine Nachahmung noch eine Kopie sein, sondern eine heroische Schöpfung». Das ist es, was sie immer von Mariátegui zitieren, aber sie vergessen die zweite Hälfte des Zitats! Mariátegui sagte klar und deutlich: «Die lateinamerikanische Revolution wird nicht mehr und nicht weniger sein als eine Etappe, eine Phase der Weltrevolution. Sie wird einfach und eindeutig die sozialistische Revolution sein.» (Anniversary and Balance Sheet, 1928). Ich sehe nicht, dass Boric das zitiert hätte, auch nicht Pedro Castillo oder Vladimir Cerrón, der Führer von Peru Libre.
Es geht nicht darum, Mariátegui zu idealisieren, der ja auch seine Schwächen hatte, aber in einigen Belangen drückte er sich sehr klar aus, und vor allem stand er in Opposition zur Alianza Popular Revolucionaria Americana (Amerikanische Revolutionäre Volksallianz) und lehnte die Etappentheorie in Peru deutlich ab.
Es ist wichtig, dass wir offen an der Strategie der permanenten Revolution festhalten. Die noch immer ungelösten Probleme der nationalen demokratischen Revolution in Lateinamerika und in anderen rückständigen Ländern, die Fragen der Agrarreform, der echten nationalen Unabhängigkeit können nicht innerhalb der Grenzen des Kapitalismus gelöst werden und auch nicht durch Vertrauen in die Bourgeoisie. Nur die Machtübernahme der Arbeiterklasse an der Spitze aller unterdrückten Schichten kann diese Probleme überhaupt angehen, die dann aber auch nicht im nationalen Rahmen, sondern nur als im Prozess der lateinamerikanischen Revolution und der Weltrevolution wirklich gelöst werden können.
Der «Kampf gegen den Neoliberalismus» bedeutet im besten Fall gar nichts, im schlimmsten Fall ist er ein Schwindel. Der Kampf, der geführt werden muss, ist der gegen den Kapitalismus und den Imperialismus, und das Mittel dazu ist die sozialistische Revolution, die von der Arbeiterklasse angeführt wird.
Der kolumbianische Nationalstreik, der am 28. April begann, beweist eindrücklich den Willen zu Kampf und Widerstand der Massen, die aller brutalen Repression trotzt, auch wenn sie dutzende von Toten, hunderte von Vermissten und Opfer von Sexualverbrechen fordert. Nicht nur die Polizei und die Bereitschaftspolizei ESMAD wurden eingesetzt, sondern in einigen Fällen auch die Armee. Ganze Städte wurden militarisiert, und Aussagen wie «Das sind Vandalen», «Sie sind venezolanische Agenten» oder «Sie werden von Narcoguerillas bezahlt» sollen die Bewegung kriminalisieren.
Nichts von alledem vermochte es, die Bewegung zu zähmen oder ihr die enorme Sympathie zu nehmen, die sie in der Bevölkerung geniesst. Sie ist beeindruckend, heldenhaft und bewundernswert. Darüber hinaus hat sie bereits einige wichtige Zugeständnisse errungen. Ich bin nicht ganz mit der politischen Geschichte Kolumbiens vertraut , aber ich kann mich an keine Bewegung erinnern, bei der die Regierung, schon gar nicht eine so harte rechte Regierung wie die von Duque, gezwungen war, eine Steuerreform zurückzunehmen. Ja, sie werden versuchen, sie auf andere Weise wieder durchzusetzen, aber sie haben sie zurückgezogen. Sie haben auch den Gesetzentwurf zur «Gesundheitsreform» formell zurückgezogen. Zwei Minister sind durch die anhaltende Kraft der Bewegung gestürzt worden. Sie hat sich mit ziemlich fortgeschrittenen Elementen von Selbstverteidigungsorganisationen ausgestattet, sowohl in der bäuerlich-indigenen Minga als auch in die Primera Línea (Frontlinie), die von der Jugend organisiert wird, die an der Spitze dieser Bewegung steht.
Aber wie in Chile und Ecuador fehlt es auch in Kolumbien an einer revolutionären Führung, die der Aufgabe gewachsen ist. Selbst das Nationale Streikkomitee rief nach dem ersten Streiktag am 28. April die mobilisierte Bevölkerung unter dem Vorwand der Pandemie dazu auf, zu Hause zu bleiben, und hielt einen virtuellen Maifeiertag ab, der von der kämpfenden Bevölkerung, von der Jugend, den Arbeitern, den Bauern, den Indigenen völlig ignoriert wurde.
Dies ist eine Massenbewegung, aber in Ermangelung einer revolutionären Führung können wir nicht ausschließen, dass sie vor allem wegen der fehlenden Perspektiven in eine Phase der Erschöpfung und Ermüdung eintritt. Wohin sollen wir gehen? Wie kommen wir weiter? Niemand stellt diese Fragen auf eine klare Art und Weise. Es ist auch möglich, dass diese Bewegung durch die Präsidentschaftswahlen nächstes Jahr schliesslich kanalisiert wird..
Wir haben eine Reihe von Parolen darüber veröffentlicht, was unserer Meinung nach geschehen muss: eine nationale Notversammlung; die Organisation von Volksversammlungen; die Wahl von Delegierten; die Organisation der Selbstverteidigung; die Weiterentwicklung des nationalen Streiks in einen echten Generalstreik. Denn es muss gesagt werden: Der nationale Streik besteht aus Strassenblockaden, Besetzungen von öffentlichen Plätzen, Gebietsübernahmen; er hat sich aber nicht wirklich in einen Generalstreik der Produktion verwandelt, der über einige spezifische Sektoren und zu bestimmten Zeitpunkten hinausgeht. Ein Generalstreik hätte die Kraft, das Land zum Stillstand zu bringen und die Regierung zu stürzen, und das ist bisher nicht der Fall gewesen.
Auf jeden Fall sind unsere Kräfte im Moment klein und unsere Stimme sehr leise, relativ zur Bewegung als Ganzes. Aber egal, welchen Ausgang sie nimmt, diese Bewegung wird schon jetzt eine historische Spur in der revolutionären Geschichte Kolumbiens und in der Entwicklung des Bewusstseins der Massen hinterlassen haben.
Die Ereignisse in Kolumbien sind nicht isoliert, sondern direkt mit jenen in Ecuador und Chile vergleichbar. Die gleichen Bedingungen haben, mit einigen nationalen Eigenheiten, zu den gleichen Ergebnissen geführt. Die gemeinsamen Bedingungen – Angriffe auf die Arbeiterklasse, stetig wachsende Unzufriedenheit – haben eine soziale Explosion verursacht. Ich würde sagen, dass diese Bedingungen mehr oder weniger in den meisten lateinamerikanischen Ländern existieren.
Natürlich haben nicht alle Länder die gleiche Regierung oder die gleichen Bedingungen, noch haben die Massen in der jüngsten Vergangenheit dieselbe Erfahrung gemacht. Aber es ist auch wahr, dass die Arbeiterklasse und die Jugend dazulernen. In einem Land lernen sie von den Mobilisierungen eines anderen Landes. Warum wurde Primera Línea in Kolumbien gegründet? Weil Primera Línea vorher in Chile gegründet wurde. Warum wurde Primera Línea in Chile gegründet? Weil die Indigene Garde bei den Mobilisierungen in Ecuador gebildet wurde. Dies geschieht kombiniert mit dem Bedürfnis der kämpfenden Massen, sich gegen die Repression zu verteidigen. Aber es besteht kein Zweifel, dass dieser Inspirationsfaktor eine Rolle bei der Beschleunigung des Lernprozesses spielte. Die Massen lernen aus diesen Erfahrungen.
In einem Artikel der Financial Times, einer Zeitung, die das Sprachrohr des weitsichtigeren Sektors der Bourgeoisie in Großbritannien ist, hiess es, dass dieser Aufstand in Kolumbien das direkte Ergebnis des Versuchs sei, eine Steuerreform einzuführen, oder zumindest unmittelbar dadurch provoziert wurde – durch die Tatsache also, dass Regierungen grosse Teile ihres BIPs für die Linderung der COVID-Pandemie aufwenden mussten und nun die arbeitenden und mittelständischen Schichten dafür bezahlen lassen wollen. Dies habe die Aufstände verursacht. Ferner, so schreibt die Financial Times, herrschten diese Bedingungen nicht nur in Kolumbien, sondern in ganz Lateinamerika.
In all diesen Ländern konnten wir einen enormen Anstieg der öffentlichen Ausgaben und damit einen Anstieg des Defizits feststellen. Gepaart mit einer beträchtlichen Erhöhung der Staatsverschuldung, die dem Versuch, den Kapitalismus zu retten, geschuldet ist, wird dies in der nächsten Periode zu einem strittigen Punkt werden. Laut Financial Times kann dies auch in anderen Ländern geschehen, und sie nannte insbesondere zwei Beispiele: Ecuador und Brasilien. In diesen zwei Ländern könnten ihnen zufolge Aufstände stattfinden; es sei nicht auszuschliessen. In diesem Fall bin ich mit den schärfsten bürgerlichen Analytikern einverstanden: Solche Aufstände sind in anderen Ländern möglich, zweifelsohne auch in den beiden genannten.
Zum letzten Punkt: In all diesen Mobilisierungen haben wir ein weiteres gemeinsames Merkmal sehr deutlich gesehen, nämlich die Rolle der Jugend und der Frauen. Wer hat die Bewegung in Chile losgetreten? Gymnasiastinnen, Schülerinnen. Wer spielt die führende Vorreiterrolle im nationalen Streik in Kolumbien? Die Jugend, junge Menschen, die nichts zu verlieren haben, weil sie nichts haben. Es sind junge Leute aus den Arbeitervierteln, die nicht studieren, die keine Arbeit haben, weil das bisschen informelle Beschäftigung, das sie über Wasser hielt, durch die Pandemie weggefallen ist. Sie haben nichts zu verlieren und das verleiht der Bewegung Ausdauer, denn wohin sollen diese jungen Menschen gehen? Nirgendwohin. Und jetzt kämpfen sie wenigstens und sind zur Inspiration für die breite Bevölkerung geworden.
Diese Generation junger Menschen, die jetzt zwischen 15 und 25 Jahre alt sind, haben ihr ganzes Leben in der kapitalistischen Krise verbracht. Sie haben die «progressiven Regierungen» des ersten Jahrzehnts des Jahrhunderts nicht miterlebt. Entweder waren sie noch nicht geboren oder sie hatten noch kein politisches Bewusstsein. Sie sind mit der Krise von 2008, die in Lateinamerika am härtesten zuschlug, ab 2013/14 bewusst geworden, politisch auf die Welt gekommen. Und jetzt werden sie von dieser Pandemiekrise getroffen.
Das ist ein internationales Phänomen. Die Jugend widerspiegelt weltweit diese starke Radikalisierung, nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in den USA, wo diese Jugend in der BLM-Bewegung an vorderster Front stand. Das ist die Jugend, die an der Spitze der Mobilisierung der palästinensischen Massen in Israel steht. Das ist die Jugend, die sich überall einem revolutionären Ausweg annähert..
Und damit einhergehend haben wir massive Mobilisierungen für das Recht auf Abtreibung, gegen sexistische Gewalt und Femizide erlebt, bei denen junge Frauen eine führende Rolle spielten.
Wir möchten diese Erfahrungen in Ecuador, Chile und Kolumbien studieren und daraus lernen – nicht aus einem intellektuellen Vergnügen heraus, mehr zu wissen und Ereignisse analysieren zu können, sondern um intervenieren zu können. Lenin würde sagen, dass es ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Bewegung gibt. Diese zwei Dinge sind eng verwoben. Es geht nicht nur darum, die Welt zu interpretieren, sondern sie auch zu verändern.
Denn in all diesen Prozessen ist die entscheidende Frage, die sich am schärfsten offenbart, die des Fehlens einer revolutionären Führung, die einen Ausweg aus dieser Situation der Konfrontation zwischen den Klassen, einer so großen sozialen Polarisierung bieten kann. Mehr kann man von der Arbeiterklasse und der Jugend nicht verlangen: Sie haben beeindruckende Beispiele von Heldentum gelebt, in Ecuador, in Chile, jetzt in Kolumbien. Es geht darum, eine revolutionäre Alternative aufzubauen, die sich fest auf die Ideen und Methoden des Marxismus stützt, um unsere Klasse in dem einen oder anderen Land zum Sieg zu führen, und das hätte Auswirkungen auf den ganzen Kontinent und die ganze Welt.
Unsere Kräfte sind im Verhältnis zu diesem Ziel noch bescheiden, deshalb müssen wir beim Aufbau der Internationalen Marxistischen Tendenz einen Sinn für Dringlichkeit haben. Unsere Aufgabe ist klar: Wir müssen eine revolutionäre Führung aufbauen, die in der Lage ist, die Arbeiterklasse zum Sieg zu führen und diesem kapitalistischen Regime der Unterdrückung, der Gewalt und des Elends ein für alle Mal ein Ende zu setzen und eine lebenswerte Welt aufzubauen.
Jorge Martin, IMT
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