Kaum ein Kommentar oder Nachruf schafft es das Phänomen Chavez zu fassen. Wo Aufklärung Not täte, werden Fakten verschwiegen. Wo politikwissenschaftliche Denkkategorien an der Dynamik einer Revolution scheitern, werden Stereotypen bedient. Ganz zu schweigen von der unverhohlenen Schadenfreude einiger Kommentatoren – der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho hat sie getrost als „geistige Armut“ bezeichnet.
Was aber steckt tatsächlich hinter dem Hype um den verstorbenen venezolanischen Präsidenten? Eine Antwort darauf gab unmittelbar nach Chávez´ Tod eine junge Frau im venezolanischen Fernsehsender Telesur: „Wir waren ausgeschlossen. Als Frau, als Mutter, Als Arbeiterin. Jetzt habe ich Macht. Wir wissen, dass wir mehr wert sind als Gold. Chavez hat uns aus einem Alptraum erweckt, und jetzt sind wir wach. Liebe, Gesundheit, Hoffnung das bleibt uns für immer. Und wir sind jetzt ein gebildetes Volk. Nie wieder lassen wir die Oligarchie zurück an die Macht, den Sozialismus im 21. Jahrhundert werden wir von nun an alleine aufbauen.“
In der Tat liegt das Ausmass der Trauer um den commandante zunächst einmal in den materiellen sozialen Errungenschaften seiner Präsidentschaft begründet. Zur Erinnerung einige Zahlen: Der Anteil der Armen in der venezolanischen Gesellschaft ist zwischen 2002 und 2011 von 48,6 % auf 29,5 % gesunken. Dies ist die schnellste Reduktion von Armut, die in Lateinamerika je gemessen wurde, und stellt alle andern Politkonzepte in den Schatten. Der Gini-Koeffizient, ein Masstab für Einkommensungleichheit ist im Vergleichszeitraum massiv gefallen und stellt heute mit 0,41 den niedrigsten Wert ganz Lateinamerikas dar . In der vom Londoner Legatum-Institut abgefragten Lebenszufriedenheit der Bevölkerung kommt Venezuela auf einer Skala von 1-10 auf einen Wert von 7,5 – deutlich über dem globalen Durchschnitt von 5,5.
Alphabetisierung, Zugang zu medizinischer Versorgung auf höchstem Niveau, Bildungs- und Stipendienprogramme für alle Altersgruppen, ein massives Wohnbauprogramm, Frauenrechte, Mitbestimmungsstrukturen in Betrieb und Wohnvierteln, die historische Aussöhnung mit der indianischen Urbevölkerung, die Liste der Reformen liesse sich fortsetzen.
Die Grundlage für diese Politik wurde mit der Zurückdrängung der Erdölkonzerne geschaffen. Bis ins Jahr 2001 streiften die Konzerne satte 84 % des Verkauferlöses ein – Jahr für Jahr. Erst eine Gesetzesnovelle, die den Erlös aus den natürlichen Rohstoffvorkommen dem Gemeinwohl zugute kommen lassen wollte, sollte diesen Zustand beenden. Gleichsam sollte sie zum unmittelbaren Auslöser des Putschversuches vom April 2002 werden. Die Rückeroberung der Präsidentschaft Chavez durch den dreitägigen Volksaufstand. schmiedete ein festes Band zwischen den Massen und dem Präsidenten. Wenn Standard-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid Chávez´ Qualifizierung der Opposition von 2003 als „Faschisten, Lügner und Putschisten“ zitiert, wäre es angebracht dem Leser zumindest den Hinweis zu liefern, dass diese einer realen politischen Erfahrung folgte. Denn tatsächlich begann die Opposition erst nach dem Scheitern aller Putsch- und Sabotageakte damit, die Möglichkeit eines Wandels mit demokratischen Mitteln überhaupt anzudenken.
Dass die Bedeutung von Hugo Chavez über das blosse Mass an materiellen Verbesserungen hinausgeht, eröffnet sich auch wenn man zuhört, anstatt vorschnell zu urteilen. Dieser Tage rief mich ein Freund aus der Stahlstadt Bolivar an. „Wir, die Armen und Arbeiter“, begann er seine Klage, „wir haben unser Gesicht verloren. Nicht nur hier, auf der ganzen Welt.“ Dieses Motiv zieht sich durch alle Interviews und Sprechchöre die man heute von den Strassen Venezuelas hört. „Er hat uns eine Heimat gegeben“, „er ist Teil von mir“, „wir alle sind Chavez“, „heute haben wir Würde“ und sie fügen hinzu: „wir sind wachsam“, „niemand nimmt uns das Erreichte weg“, „wir lassen die Oligarchie nicht zurück an die Macht“. Und der am öftesten skandierte Slogan lautet: „Chavez lebt, der Kampf geht weiter“.
Das Geheimnis Chavez ist nicht seine „krude Mischung“ ideologischer Versatzstücke. Es liegt auch nicht in seinem medienbewussten Auftreten und rhetorischen Ausritten begründet. Und schon gar nicht lässt sich die Zuneigung, die ihm entgegen gebracht wird, mit einem massenhaften Stockholmsyndrom erklären. In der – auch posthumen – Verehrung des „Genossen Präsidenten“ spiegelt sich vielmehr die in einer harten gesellschaftlichen Auseinandersetzung erkämpfte Selbstachtung der Marginalisierten wider.
Hugo Chavez war Motor, Vordenker und Projektionsfeld dieses Prozesses, die venzolanische Revolution nicht nur ein gewaltiger Ausbruch aus sozialer Exklusion, sondern der Ausdruck der Selbstermächtigung eines unterdrückten Volkes.
Es gibt keinen Grund zu verbergen, dass es auch Verlierer gab: der gesellschaftliche Respekt gegenüber privaten Produktions- und Dienstleistungsunternehmen ist enden wollend, das mediale Privileg privater Medienkonzerne über Sendefrequenzen wurde angekratzt, den Wohlhabenden sitzt eine diffuse Angst vor dem Volk (in dem sie bisher nur die „Erdigen“ sahen) im Nacken und die Devisenkontrollen verteuerten die Wochendausflüge nach Miami bedeutend.
Es bietet sich an hier Stellung zu beziehen. Seine polarisierende Vita, die noch lange nachhallen wird, muss auch nach seinem Tod der Debatte zugänglich sein.
Aber ein Einwurf: Argumentieren sie korrekt! Stundenlanges Warten auf einen Interviewtermin ist keine „Hetzjagd auf ausländische Journalisten“. Politisch motivierte Gefangene gibt es überschaubar wenige und nur insoweit sie in bewaffnete umstürzlerische Aktivitäten verwickelt waren. Gemeinhin wird dies als Terrorismus bezeichnet.
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