Der Interviewpartner ist ein ehemaliger Aktivist des MIR, auf Deutsch Bewegung der Revolutionären Linken, einer marxistisch-leninistischen und guevaristischen, extraparlamentarischen Organisation. Er war Teil der gewerkschaftlichen Führung einer enteigneten Fabrik, welche 500 ArbeiterInnen beschäftigte. Nach drei Jahren von Kämpfen und Siegen war er, wie alle Linken in Chile nach dem Putsch, gezwungen zu fliehen, wollte er nicht von der siegreichen Diktatur ermordet werden. 1974 kam er in die Schweiz, welche seitdem seine neue Heimat ist. Seinen Namen möchte er nicht genannt haben.
Wir danken ihm für die Informationen aus erster Hand, welche uns ein gutes Bild davon geben, was für politische Fehler zum Putsch führen konnten. Die Aussagen in diesem Interview sind die persönlichen Erfahrungen und Ansichten unseres Interview-Partners. Für weitere Hintergrundinformationen zur chilenischen Revolution und dem faschistischen Putsch verweisen wir auf den Artikel „Die Lehren des Chile-Putsch“.
Wie hast du den 11. September erlebt?
Ich ging wie jeden Tag um sieben Uhr morgens Arbeiten. So zwischen 8 und 10 Uhr haben wir dann über das Radio erfahren, dass ein Putschversuch stattfindet. Alle Informationen die wir darüber hatten, hatten wir über das Radio. Wir hatten uns dann entschieden eine Sitzung abzuhalten, um zu entscheiden was wir nun tun sollten. Als wir dann auf dem Hof versammelt waren, flog ein Helikopter des Militärs über unsere Köpfe. Viele Genossen haben sich dann an den zu verarbeitenden Metallteilen im Hof verletzt, als sie in Panik davon stürmten. Der Helikopter schoss jedoch nicht, er war nur hier um uns einzuschüchtern. Im Schutz des Fabrikgebäudes haben wir dann beschlossen, dass jeder der kämpfen will bleiben soll, und dass jeder der gehen will gehen darf. Alle sind wir geblieben die Genossen des MIR, gemeinsam mit den Sozialisten, den Kommunisten und den nicht organisierten Arbeitern.
Um ca. 12:00 bin ich dann mit einem Genossen in einen Firmenwagen gestiegen und wir sind ins das Hauptquartier des „Cordon Industrial“ (Industrielle Gürtel, sie waren die grössere Organisationseinheit der verstaatlichten Betriebe) gefahren, wo eine Sitzung stattfand. Wir haben entschieden in den Fabriken zu bleiben, auch wenn dies aussichtslos erschien. Nur der militärische Arm des MIR war einigermassen bewaffnet. In der Fabrik selbst hatten wir schon ein paar Waffen, die allerdings nur von schwachem Kaliber waren.
Als wir wieder in der Fabrik ankamen, hatte sich zwischenzeitlich eine Abteilung der Armee in der Nähe unserer Fabrik positioniert, auf einem grossen Gelände auf welchem sonst internationale Ausstellungen stattfanden. Später kam dann per Radio die Durchsage, dass ab fünf Uhr abends Ausgangssperre sei. In einer anschliessenden Sitzung hatten wir dann beschlossen, dass es aufgrund unserer mangelnden Bewaffnung sinnlos und ein Massaker gewesen wäre, wenn wir alle geblieben wären. So machten sich alle Arbeiter ausser einem kleinen Grüppchen auf den Heimweg. Dies geschah auch in den umliegenden Fabriken. Da jedoch keine Busse fuhren, mussten sie alle zu Fuss nach Hause. Es war ein Bild wie ich es noch nie gesehen hatte, die hunderten Arbeiter, wie sie zu Fuss nach Hause liefen. Ich selbst bin dann nur bis kurz nach der Ausgangsperre geblieben. Die Genossen drängten mich zu gehen, sie sagten es sei Irrsinn wenn ich mich einfach so ausliefern würde.
Ich habe mich dann in der Nähe mit Genossen des MIR getroffen, wo wir die Situation besprochen haben. Die Nacht habe ich dann bei einem Genossen verbracht, der im Gebiet unseres Cordon wohnte. Die ganze Nacht durch wurde gekämpft. Es war Krieg. Am nächsten Tag haben sie dann damit begonnen die Viertel zu durchkämmen. Alle Leute auf die Strasse, die Häuser durchsuchen, um die Gesuchten dann in Konzentrationslager zu verfrachten.
Kam der Putsch überraschend?
Die unglaubliche Schnelligkeit in welcher der Putsch durchgezogen wurde, hat gezeigt, dass der Staatsstreich sehr gut vorbereitet war. Alle Konzentrationslager waren bereits errichtet. Alles war sehr gut organisiert. Jede militärische Einheit wusste was sie tun musste. Wir hatten keine Zeit um zu reagieren. Widerstand wurde nur in den Cordones, in der Moneda (der Präsidentenpalast Chiles) und den Universitäten geleistet. Allende rief dazu auf sich nicht zu wehren, da er jeden Widerstand für aussichtslos hielt. Es war auch aussichtslos, wir, die Linke, hatten militärisch nichts organisiert. Der MIR hatte zwar einen bewaffneten Arm, wir waren jedoch viel zu wenige um gegen das Militär anzukämpfen. Die Kämpfe dauerten darum auch nur wenige Tage.
Doch dass ein Putschversuch kommen würde, haben wir gewusst. Nach dem Sieg der UP wurde der oberste General der Streitkräfte Chiles, General Schneider, welcher ein überzeugter Demokrat war, umgebracht, weil er nicht in die Pläne der Rechten und der USA passte. Im Jahr 1970, im Oktober wurde er von Mitgliedern der (von den USA finanzierten) rechtsextremen Bewegung „Patria y Libertad“ ermordet.
Weiter haben die Rechtsparteien, also Christdemokraten und Nationale Partei, wegen behaupteten terroristischen Aktionen des Volkes grossen Druck auf die Regierung Allende ausgeübt. Im Kongress wurde im Oktober 1972 daher, noch vor dem Militärputsch, ein Waffenkontroll-Gesetz verabschiedet. Als dieses Gesetz von der Regierung Allende in Kraft gesetzt wurde, machte sich das Militär sofort daran die enteigneten Fabriken zu stürmen. Es war wie eine Kostprobe des Putsches. Die Militärs haben alle Arbeiter zu Boden geworfen und einzelne mit dem Gewehrkolben geschlagen. Dies alles mit Erlaubnis der demokratischen Regierung. Sie haben alles gestürmt egal ob Universitäten, Fabriken oder landwirtschaftliche Güter. In der Nähe des Cordon Maipu, dem grössten Industriebezirk in Santiago, wurde ein Teil des Heeres stationiert. Danach war sofort klar, dass da etwas Grösseres vorbereitet wurde. Man stellt nicht einfach mal so einen Teil seiner Truppen mitten in die Stadt. Das erfordert eine grosse und aufwendige Infrastruktur um sie zu unterhalten. Am 29 Juni 1973 erfolgte dann der erste Putschversuch, durch das Regimentes „Tacna“, welcher allerdings scheiterte.
Mit all diesen Aktionen der Armee, gemeinsam mit den Parteien und dem US-Imperialismus, war es nicht schwierig zu verstehen, dass die Regierung in dieser Form nicht lange weiter bestehen konnte.
Wenn wir ihn doch erwartet haben, so hat den Putsch niemand am 11. September erwartet. Alle dachten, das Militär wäre in diesen Tagen mit sich selbst beschäftigt, da der 17. September der Nationalfeiertag Chiles ist und am 18. immer eine Militärparade stattfindet. In dieser Zeit plante die unter äusserstem Druck stehende Regierung Allende ein Plebiszit, um sich vom Volk in ihrer Politik bestätigen und legitimieren zu lassen. Doch wie sich heraus gestellt hat, wollten die Militärs dieses Referendum um jeden Preis verhindern, weshalb der Putsch vorverschoben worden war.
Ihr wart also trotz der Wahrscheinlichkeit eines Putsches nicht auf den Ernstfall vorbereitet?
Es gab den Versuch zu Vorbereitungen. Teile der lokalen und regionalen Körperschaften der KP und der Sozialistischen Partei, also vor allem die Basis, waren auf der Linie des MIR, dass es auf lange Zeit nicht gut gehen kann und man eine Volksmiliz benötigt. Wir wollten für den ersten Mai 1973 einen Marsch der Volksmiliz organisieren um die Rechte einzuschüchtern, die Basis dazu hätten wir gehabt. Das Militär hätte es sich dann zehnmal überlegt zu Putschen, wenn sie gesehen hätten, dass auch wir Vorbereitungen treffen. Dies wurde jedoch von deren Führungen abgelehnt, da sie die Bourgeoisie sowie das Militär nicht ängstigen wollten. Aus Angst vor dem Putsch haben sie das Bestreben zur Schaffung einer Volksmiliz blockiert. Sie gaben den Slogan raus: Nein zum Bürgerkrieg.
Aber auch wir als MIR waren in der Frage der Volksmiliz nicht hundert Prozent einig, da gab es eine Strömung welche zuerst grössere Massen hinter sich sammeln wollte und die andere, welche sich hauptsächlich darauf konzentrieren wollte sich militärisch vorzubereiten. Dies traf in abgeschwächter Form auf die gesamte Linke Chiles zu. Die Strömung der Militarisierung war jedoch ausserhalb des MIR in den Führungen sehr schwach. Den Druck gegen die Putschfreudigkeit der Bourgeoisie wollte die Mehrheit durch Massenaktionen, also grosse Aufmärsche, Demonstrationen und Besetzungen aufbauen. Allende und die parlamentarische Linke dachten, dass es in Chile schwierig sei einen Putsch zu machen. Sie hatten sich geirrt. Der Putsch kam aufgrund des Versagens der reformistischen Politik, die nicht bereit war auch militärisch auf den Plan zu treten.
Kann der Putsch also als Folge der Politik der UP angesehen werden?
Schau, auch wenn das Programm der UP revolutionär war, so gingen die Massen doch weit darüber hinaus. Sie nahmen sich Fabriken, Ländereien, Banken, alles. Die Arbeiterklasse wollte vorwärts schreiten, versuchte sich selbst zu bewaffnen. Der Fehler der UP Popular bestand darin, dass anstatt sich an die Spitze der Massen zu setzen, sie es mit der Angst zu tun bekam und anfing alles zu blockieren. Sie haben so die Einheit der ArbeiterInnen zerbrochen, sie demobilisiert und gehindert in ihren Versuchen sich selbst zu organisieren.
Dies ist auch der Grund wieso sie keine Unterstützung von Seiten der Sozialistischen Länder erhielten, der Sowjetunion und so weiter, weil ihnen bewusst war, dass dies so zum Scheitern verurteilt war. Sie sahen, dass nur die Arbeiterklasse vorwärts schritt, während die Führung rückwärtsging. So gab es auch nur eine Unterstützung in Worten und keine materielle. Wir waren isoliert. Wir wurden erstickt durch den Boykott der kapitalistischen Welt und wurden ignoriert von der sozialistischen. Denn wer ein revolutionäres Programm aufstellt muss auch an den militärischen Aspekt denken. Die Eroberungen müssen verteidigt werden, weil die Gegenseite nicht mit Wasserpistolen spielt, die haben echte Waffen. Das ist der Grund für das Scheitern des Reformismus.
Die Volksmiliz hätte gefördert werden müssen. Das Bewusstsein war da, was fehlte war das Gewehr (der Slogan des MIR war Volk, Bewusstsein, Gewehr, Anmerkung der Redaktion). Das Revolutionäre Bewusstsein des Chilenischen Volkes war sehr fortgeschritten, durch die ganze Bevölkerung hindurch, Arbeiter, Bauern, Studenten. Es fehlte das militärische Bewusstsein der Führung. Politisch war Chiles Linke sehr fortgeschritten im Vergleich zu anderen südamerikanischen Ländern, militärisch hinkte sie weit hinterher. Dies ist auch der Unterschied zwischen den sozialen und den Guerillabewegungen. Die Guerillabewegungen setzen sich an die Spitze. Sie sind letzten Endes auch die einzigen in Lateinamerika die Erfolg hatten.
Was möchtest du der internationalen Linken mit auf den Weg geben, welche Lehren sollten sie aus der chilenischen Erfahrung ziehen?
Das klingt jetzt hart: die Linke muss aus der Erfahrung Chiles lernen, dass ohne das Bewusstsein für die Militärfrage alles zum Scheitern verurteilt ist. Als Linke kann man durchaus im Parlament arbeiten. Aber wehe dir wenn sie durch die Wahlen an die Regierungsmacht kommen, ohne dabei ein Militärprogramm zu haben. Dies endet in einem üblen Massaker für die Bevölkerung. Es ist besser kleine Verbesserungen im Parlament zu erreichen als Pseudorevolutionär zu sein. Betrügt nicht das Volk mit versprechen, welche ihr fürchtet einzulösen. Entweder man ist bereit den Kapitalismus ganz über Bord zu werfen oder gar nicht. Bleibt wo ihr seid wenn ihr Angst vor dem revolutionären Enthusiasmus der Massen habt.
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024
Europa — von Jack Halinski-Fitzpatrick, marxist.com — 11. 11. 2024