Deutschland wird in diesen Tagen als europäisches Musterland dargestellt, das kaum von der Krise betroffen sei. Die EU-Kommission prognostiziert für das deutsche Wirtschaftswachstum 2012 ein kleines Plus von 0,6 Prozent. In den südeuropäischen Ländern hingegen ist ein Ende des Wirtschaftseinbruchs nicht abzusehen. Die Deka-Bank triumphiert: „Die Rezession fällt aus!“ Was sind die Hintergründe des angeblichen deutschen „Erfolgsmodells“?
Geht die Krise an Deutschland vorbei?
Das kapitalistische Europa wurde auf einem beständig wachsenden Schuldenberg errichtet. Alle Beteiligten hatten jahrelang die Illusion, dass das prosperierende Europa ein Dauerzustand wäre. Mittels einer massiven Ausweitung der Verschuldung wurde der Ausbruch einer globalen Krise mehrfach verzögert. Die Kapitalisten hofften, sie könnten mit einer Verschuldung vor allem der privaten Haushalte, die den Konsum ankurbeln sollte, die Krise vermeiden. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis die Krise ausbrach. Auslöser waren das Platzen der Immobilienblase und die Pleite der US-Bank Lehman Brothers im Jahr 2008.
Die grössten Schuldenberge haben die USA, Südeuropa, Irland und Grossbritannien aufgetürmt. Diese Staaten wiesen immer weiter ansteigende Leistungsbilanzdefizite aus, während zugleich eine fortschreitende Deindustrialisierung einsetzte, die ihnen die Basis für eine mögliche alternative Entwicklung nahm. Andere Länder wiederum erwirtschafteten enorme Handelsüberschüsse, zerschlugen aber auch nicht vollends ihren Industriesektor. Zu diesen Länder gehören u.a. China, Südkorea und Deutschland. Mit ihren Aussenhandelsüberschüssen konnten sie von der immer grösser werdenden Verschuldung in den USA und in den anderen europäischen Ländern profitieren. Die hohen Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands wären ohne den vor zehn Jahren als europäische Einheitswährung eingeführten Euro nicht möglich gewesen. Denn der Anschluss an den Euro nahm den wirtschaftlich unterlegenen südlichen Euro-Ländern die Möglichkeit, die Konkurrenzfähigkeit ihrer nationalen Volkswirtschaft durch Währungsabwertungen und damit billigere Exporte wieder herzustellen. Wenn Deutschland, die grösste Wirtschaftsmacht in der EU, das europäische Einigungsprojekt und den Euro unbedingt retten will, dann deshalb, weil darin für das deutsche Kapital die beste Möglichkeit besteht, „global zu konkurrieren“.
Das deutsche Exportkapital konnte seine Leistungsbilanzüberschüsse nur erwirtschaften, weil sich andere Länder dafür verschuldeten. Und die südeuropäischen „Schuldenländer“ haben in der Vergangenheit besonders vom Euro profitiert, weil die Verschuldung aufgrund der sinkenden Zinslast jahrelang kein Problem darzustellen schien. Somit nährte man die Blasenbildung auf den Immobilienmärkten, wobei der Bausektor als Motor des Wirtschaftswachstums wirkte. Noch vor ein paar Jahren war Deutschland der „kranke Mann Europas“, während Länder wie Spanien und Irland ein starkes Wirtschaftswachstum verzeichneten. Irland wurde auch als „keltischer Tiger“ bezeichnet.
Nach dem Platzen der Immobilienblasen brach die Bauwirtschaft in diesen Ländern stark ein. Ein Vergleich der Industrieproduktion vor der Euro-Einführung im Jahr 2000 und im Oktober 2011 ist aufschlussreich: Während in Deutschland die Industrieproduktion in diesem Zeitraum um 19,7 Prozent zunahm, sank sie in Portugal um 16,4, in Italien um 17,3, in Spanien um 16,4 und in Griechenland um 29,9 Prozent.
Die Kluft in der Industrieproduktion zwischen Deutschland und diesen Ländern wird weiter wachsen, da die von Berlin und der Troika verordneten Kürzungsmassnahmen die Lage dort weiter verschlimmern werden und einer weiteren Deindustrialisierung Vorschub leisten werden. Die soziale Verelendung wird in diesen Ländern weiter zunehmen.
Diese Entwicklung wird die Vorherrschaft Deutschlands in der EU verstärken. Auf dem EU-Gipfel Ende 2011 wurde dies bestätigt: Sparzwang und die Aushöhlung der staatlichen Souveränität mittels Entsendung von EU-Sparkommissaren werden auf deutsche Initiative hin in die EU-Verträge einfliessen.
Diese Politik untergräbt aber langfristig die Grundlage der exportorientierten deutschen Wirtschaft. Mit Forderungen nach immer weiteren „Sparpaketen“ und Schuldenbremsen in Europa werden die eigenen Absatzmärkte ausgetrocknet. 60 Prozent der Exporte erwirtschaftet Deutschland in der Euro-Zone. Dank der deutschen Sparpolitik wird sich die europäische Wirtschaftskrise verschärfen und nicht abebben. Die Exportstärke kehrt sich somit in ihr Gegenteil um. Das Statistische Bundesamt zeigt auf, dass – nicht überraschend – die Auslandsnachfrage in den europäischen Krisenländern wie Griechenland, Portugal und Irland stark abgenommen hat. Von noch grösserer Bedeutung ist aber der Nachfragerückgang in grossen europäischen Abnehmerländern wie Italien, Spanien und Belgien. In diesen Ländern gingen die Importe zwischen 2006 und 2011 um zweistellige Prozentsätze zurück. Ebenso geben bisher stabilere Länder wie Österreich und Frankreich einen negativen Ausblick. Aber auch die USA kaufen aufgrund eigener wirtschaftlicher Probleme weniger in Deutschland ein.
So bleiben die Schwellenländer als Hoffnungsträger für die deutsche Exportindustrie. Diese Länder werden sich jedoch der weltweiten Krise nicht entziehen können. In China z.B. gibt es erste Anzeichen einer wirtschaftlichen Abschwächung. Insbesondere der Nachfrageeinbruch bei Autos in China wird Folgen für die deutsche Automobilindustrie haben, die sehr abhängig vom chinesischen Absatzmarkt ist.
So wird sich die Krise mit einer gewissen Zeitverzögerung auch in Deutschland auswirken. Die Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft birgt grosse Gefahren, wenn die Weltwirtschaft in eine neue Phase der Krise eintritt. Die Weltbank schreibt: “Das Risiko ist real, dass die Märkte weltweit einfrieren und eine globale Krise wie im September 2008 ausbricht“. Zur Zeit versuchen die Eliten Europas auf zahlreichen Krisengipfeln Zeit zu gewinnen, aber die Widersprüche werden früher oder später zu weiteren Verschärfung der Krise führen.
Modell Deutschland?
Die Bourgeoisie investierte im vergangenen Jahrzehnt in die Produktivität ihrer (Export-) Industrie und scheute auch nicht den Konflikt mit der Arbeiterklasse (Agenda 2010, Hartz IV u.a.). Damit hat sie sich deutliche Standortvorteile gegenüber den anderen (süd-)europäischen Staaten geschaffen, wo die Bourgeoisie mit billigem Geld hauptsächlich den Dienstleistungssektor (Bankgeschäfte, Immobilien) bediente. Deutschland ist daher im europäischen Vergleich relativ gestärkt aus dem ersten Kapitel der Krise hervorgegangen. Entscheidend für die Wirtschaftsentwicklung ist die industrielle Wertschöpfung, die in Deutschland rund ein Fünftel des BIP ausmacht, im Rest der Euro-Zone aber nur ein Zehntel. Deutsche Industriekonzerne stellen vor allem Maschinen, Anlagen, Fahrzeuge und Chemieprodukte her. Jene Produkte also, die in den bisher wachsenden Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien nachgefragt werden.
Es gibt aber einen weiteren Grund für die industrielle Stärke Deutschlands mit seiner hohen Exportausrichtung. Deutschlands Exportvolumen hat 2011 laut Statistischem Bundesamt erstmals die Marke von 1000 Milliarden Euro überschritten. Dies wurde durch die Absenkung des Lohnniveaus im Gefolge der sogenannten „Arbeitsmarktreformen“, Agenda 2010 und Hartz-Gesetze in der Ära des SPD-Bundeskanzlers Gerhard Schröder (1998-2005) befördert. Speziell die Hartz-Gesetze als zentraler Bestandteil der Agenda 2010 haben tiefe Spuren auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen. Deutschland hält mit 7,8 Millionen Niedriglöhnern den Europarekord. Die Zahl ist zwischen 1995 und 2010 um mehr als 2,3 Millionen gestiegen. Selbst 560.000 Vollzeitbeschäftigte verdienen weniger als das Existenzminimum, so dass sie ihren Lohn mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken müssen. Zu diesen „Aufstockern“ zählt jeder zehnte Leiharbeitnehmer. Hinzu kommen noch sieben Millionen abgabenfreie Minijobs, die jedes Jahr ein Loch von 4 Mrd. Euro in die Sozialkassen reissen. Das bedeutet eine Lohnsubvention für das Kapital in grossem Massstab. Ergebnis dieser Entwicklung ist eine zunehmende Aufsplitterung der Arbeiterklasse in Stammbelegschaft, LeiharbeitnehmerInnen und Werkvertragsleute.
Spaltung der Arbeiterklasse
Die Ausweitung der Leiharbeit war ein zentraler Bestandteil der Schröderschen Agenda-Politik. Die Betriebe nutzten dies in der Krise 2009 als flexible Personalpolitik: schnell entlassen, aber auch schnell wieder einstellen, wenn es die Auftragslage erfordert. Ende 2011 wurden etwa eine Millionen LeiharbeitnehmerInnen in deutschen Unternehmen gezählt. Doch spätestens seit dem Skandal im konzerneigene Arbeitsüberlassung bei der Drogeriekette Schlecker ist Leiharbeit zunehmend verpönt und schlecht für das Image. Branchenmindestlöhne und Betriebsvereinbarungen über gleichen Lohn machen sie für manche Unternehmen „zu teuer“. An ihre Stelle treten immer mehr Werkverträge – als verkappte Leiharbeit und neue brutale Niedriglohnstrategie. Werkvertragsbeschäftigte gehören zu Fremdfirmen ohne Betriebsrat oder Tarifvertrag, sind vielfach Migranten mit geringen Deutschkenntnissen und auf jeden Cent angewiesen. Aus Angst mucken sie fast nie auf.
Beispiel Automobilindustrie: Im Leipziger BMW-Werk gehört jeder zweite der rund 5000 Beschäftigten zu einer von 26 Werkvertragsfirmen und Subunternehmen. Sie arbeiten nicht nur an der Pforte, in Putzkolonnen oder in der Kantine, sondern leisten auch in den Produktionshallen Knochenarbeit und montieren Achsen, Antriebswellen und Getriebe. Damit umgeht BMW den für Leiharbeiter vereinbarten Tariflohn. Von vier Klassen in der Belegschaft spricht die IG Metall: BMW-Stamm- und BMW-Leihbeschäftigte, feste Werkvertragsbeschäftigte und Werkvertrag-Leiharbeiter. Wer in diesem Spinnennetz von Subunternehmen gefangen ist, hat kaum eine Chance auf den ersehnten festen BMW-Job. Auch Daimler in Stuttgart hat eigene Tochterfirmen ohne Tarifbindung, die Niedriglöhner über Werkverträge beim Mutterkonzern beschäftigen. In der Produktion verdienen Leiharbeiter 17,05 Euro Stundenlohn, ihre Werkvertrags-Kollegen nur knapp neun Euro. Solche Zustände höhlen Tariflöhne und Schutzrechte für alle aus. So dreht sich die Spirale immer weiter nach unten.
Höchste Erwerbstätigenrate und niedrigste Erwerbslosenrate – damit prahlt die Bundeskanzlerin. Allerdings sieht die Realität anders aus. Natürlich profitiert der deutsche Arbeitsmarkt davon, dass sich die Krise in Deutschland noch nicht voll entfaltet hat. Wie oben beschrieben, wird sie sich zeitverzögert auswirken. Dennoch ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt alles andere als beruhigend. Vielmehr sind der Druck und die Repressionen auf die Erwerbslosen immens. Während die Kurzzeitarbeitslosen als „industrielle Reservearmee“ noch eine gewisse Aussicht auf neue Beschäftigung haben, wenn auch unter verschlechterten Bedingungen, gibt es über eine Million langzeitarbeitslose Hartz-IV-EmpfängerInnen, die keine Perspektive mehr haben und bestenfalls als Ein-Euro-Jobber ausgebeutet werden. Allerdings liegt die reale Erwerbslosenzahl sehr viel höher, weil durch „Statistikbereinigungen“ etwa die rund 105.000 Arbeitslosen zwischen 55 und 64 Jahren aus der Zählung herausgenommen wurden. Die europäische Statistikbehörde Eurostat hat für Erwerbslose in Deutschland für 2010 ein Armutsrisiko von 70% ermittelt. Dies ist eine Zunahme im Vergleich zum Vorjahr um 8,3 %. Im EU-Durchschnitt sind dagegen rund 45% der Erwerbslosen armutsgefährdet.
Die wohlhabendsten 10 Prozent der Bevölkerung besassen 2007 gut 61 Prozent des gesamten Vermögens, die reichsten fünf Prozent verfügten über etwa 46 Prozent und das reichste Prozent allein über 23 Prozent des gesamten Nettovermögens. Auf die „unteren“ 70 Prozent entfielen dagegen nur knapp neun Prozent des Vermögens, 27 Prozent haben überhaupt kein Vermögen oder gar Schulden. Die abhängig Beschäftigten erhielten 2010 zwar 66 Prozent des Volkseinkommens, trugen aber 80% der Steuer- und Abgabenlast. Die Steuer- und Abgabenbelastung von Lohneinkommen lag 2010 bei durchschnittlich 45 Prozent, für Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögensanlagen lag der Wert nur bei durchschnittlich 22 Prozent. So funktioniert das neue „Modell Deutschland“.
Die Kluft zwischen den Klassen wird grösser
Die Propaganda der herrschenden Klasse in Deutschland redet der Bevölkerung ein, Deutschland habe durch die „gute Politik“ der vergangenen Jahre die Krise umschifft. Als Beweis wird der Aufschwung im Jahr 2011 herangezogen, den die Medien als XXL-Aufschwung bezeichnet haben. Zwar ist 2011 das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um drei Prozent gewachsen. Aber was hat dieser Aufschwung der Arbeiterklasse gebracht? Die Beschäftigung ist um 1,3 Prozent gestiegen, aber unter den oben beschriebenen Umständen und Einschränkungen. Das reale Masseneinkommen liegt nur um 0,3 Prozent höher als 2001. Die monatlichen, realen Nettolöhne- und Gehälter je ArbeitnehmerIn erreichen nicht einmal die Werte von 1992. Wichtiger als diese statistischen Daten sind aber die realen Erfahrungen der Arbeiterklasse. Mehr Druck und Hetze am Arbeitsplatz, grössere Angst um den Arbeitsplatz und ähnliche Erscheinungen sind die realen Erfahrungen in einer Arbeitswelt, in der der Konkurrenzkampf immer unmenschlicher wird. Interessanterweise finden diese Entwicklungen in einem nicht klassischen Bereich aktuell in der Literatur ihren Niederschlag. Viele Angestellte empfingen ihren Alltag zusehends als Qual. Deutsche Büros gelten als Stätten der Unfreiheit, in denen Mobbing, Selbstoptimierung, Depressionen und Burnout vorherrschen. Viele haben längst die „innere Kündigung“ vollzogen.
Die Angst vor der Entlassung wird als eigentlicher Leistungsantrieb angesehen.
Deutschland ist Vorreiter einer Entwicklung in Europa geworden, die eine Verschlechterung der sozialen Lage der Arbeiterklasse mit sich bringt. Das derzeitige „Wirtschaftswunder“ speist sich aus einer verschärften Ausbeutung, die den anderen europäischen Ländern als erfolgreiches Rezept verabreicht werden soll. Dies müssen wir in einem internationalen gemeinsamen Kampf verhindern.
Der Hintergrund der Euro-Krise liegt in der allgemeinen Krise des Kapitalismus.
Wie bereits im Kommunistischen Manifest von 1848 beschrieben, erfahren wir heute die Auflehnung der Produktivkräfte gegen die Produktions- und Eigentumsverhältnisse. Das private Profitprinzip und das Privateigentum an Produktionsmitteln sind unfähig, eine weltweit vergesellschaftete Produktion harmonisch zu organisieren. Wir haben es nach wie vor mit einer kapitalistischen Überproduktionskrise und Krise gigantischer Überkapazitäten zu tun. Nachdem China, Indien, Russland und sogar Afrika in den letzten 20 Jahren vollständig in den Weltmarkt integriert wurden, ist eine weitere, kontinuierliche Ausweitung der internationalen Märkte nahezu unmöglich. So liegt die kapitalistische „Lösung“ in der Zerstörung von Kapital, Waren, Produktivkräften, Kultur und Zivilisation. Diese Spirale müssen wir durchbrechen – durch den Kampf für eine weltweite sozialistische Demokratie. Grosskonzerne, Banken und Versicherungen gehören in staatliche Hand und unter die demokratische Kontrolle der Beschäftigten. Die alte Parole aus dem Kommunistischen Manifest ist aktuell geblieben: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!
Nordamerika — von Alan Woods, marxist.com — 27. 11. 2024
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
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