Der Krieg in der Ukraine ist zum Abnutzungskrieg geworden. Beide Seiten können nur noch unter großen Verlusten an Menschen und Material vorrücken, größere Durchbrüche sind seit Herbst ausgeblieben. Florian Keller analysiert.

Die monatelange russische Offensive auf die Stadt Bachmut hat zehntausende Opfer auf beiden Seiten gefordert. Die aktuelle Gegenoffensive der Ukraine kann bisher kein Momentum entwickeln. Angesichts immer besser ausgebauter Verteidigungslinien und des massiven Einsatzes moderner Überwachungstechnik ist die Vorbedingung für größere Durchbrüche, die jeweils andere Seite dazu zu zwingen, ihre Reserven aufzubrauchen. Der Chef des ukrainischen Verteidigungsrates Olexij Danilow fasst das unmittelbare Ziel der ersten Phase der Offensive daher so: „die maximale Zerstörung von Truppen, Ausrüstung, Treibstoffdepots, Militärfahrzeugen, Kommandoposten, Artillerie und Luftabwehrkräften der russischen Armee.“

Schon im Frühjahr verbraucht die Ukraine monatlich schätzungsweise 10.000 Drohnen. Die EU will der Ukraine im Jahr 1 Mio. Artilleriegranaten zur Verfügung stellen, was eine enorme Ausweitung der Produktion nötig macht, doch selbst das reicht nicht. Hunderte gepanzerte Fahrzeuge der ukrainischen Armee sind seit Beginn der Offensive bereits zerstört worden – die massiven Verluste an Menschenleben sind nicht zu beziffern. Der Krieg ist in den letzten Monaten immer blutiger und grausamer geworden. Spekulationen darüber, wer hier militärisch die Oberhand behalten wird, sind müßig. Er wird letztendlich politisch gewonnen oder verloren: Wer schafft es, mehr Menschen und Kriegsmaterial einzusetzen? Daher werden insbesondere aufgrund der hohen Verluste auf beiden Seiten auch ständig neue Truppen ausgehoben.

Würde dieser Krieg nur zwischen Russland und der Ukraine geführt, wäre die Ukraine trotz allen Verteidigungswillens schon lange besiegt. Der entscheidende Faktor für den Charakter des Krieges ist, dass er ein Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der NATO ist. Im Jahr 2022 wurden der Ukraine insgesamt 170 Mrd. € an Zahlungen (vieles davon Kredite) zugesagt. Zum Vergleich: Die gesamte Wirtschaftsleistung des Landes im selben Zeitraum betrug ca. 150 Mrd. €.

Spielball Ukraine

Die „Verteidigung der Unabhängigkeit der Ukraine“, „Demokratie“ usw. sind nur ein Deckmantel des westlichen Imperialismus, um seine eigenen Interessen gegen den russischen Imperialismus durchzusetzen. Denn „unabhängig“ ist die Ukraine schon lange nicht mehr: Sie ist seit Jahren Spielball der größeren imperialistischen Mächte, und seit dem Kriegsbeginn vom Westen finanziell, militärisch und wirtschaftlich völlig abhängig – eine Schuldenkolonie.

Während es gelte, die Ukraine zu „unterstützen, so lange es notwendig ist“, saugen die westlichen Banken, Konzerne und Kriegsgewinnler gemeinsam mit den bis in den Kern korrupten ukrainischen Kapitalisten die Arbeiterklasse ohne Erbarmen aus: So sind in der Westukraine tausende Textilarbeiterinnen in Sweatshops für westliche Konzerne zu einem Mindestlohn von 154 € im Monat beschäftigt. Wegen des Ausreiseverbotes für Männer im wehrfähigen Alter sind trotz der Massenmobilisierungen die Löhne im Allgemeinen gesunken, während die Rechte der Arbeiter, sich zu organisieren und zu wehren, mithilfe des Kriegsrechts systematisch untergraben werden.

Der Chef des deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall kann sich derweil darüber freuen, dass „ein Großteil unseres Wachstums […] auf den schrecklichen Krieg in der Ukraine zurückzuführen“ sei. Er skizziert weiter Pläne für den Aufbau einer neuen Panzerfabrik in der Ukraine, in dem „einheimische Beschäftigte“ (zu „einheimischen Löhnen“, versteht sich) jährlich 400 der modernsten deutschen Panzer direkt für die Front produzieren könnten, während die Profite daraus zurück in die Taschen der deutschen Aktionäre fließen werden.

Es geht in diesem Kräftemessen um mehr als nur die Ukraine und die Kontrolle des Schwarzen Meers. Die USA wollen Russland schwächen, um gegen den Hauptkonkurrenten China freie Hand zu haben. Ein weiteres strategisches Ziel ist die Kappung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU (vor allem Deutschland) und Russland, damit die Abhängigkeit Europas von den USA verstärkt wird. So konnte US-Senator Graham bei einem Besuch in Kiew sagen: „Das ist die beste Investition, die wir je getätigt haben.“

Deutschland wollte diese Zuspitzung nicht und hätte stattdessen lieber die Handelsbeziehungen mit Russland aufrechterhalten. Aber spätestens seit der Sprengung der Nordstream-Pipelines hat sich das als unmöglich herausgestellt. Daher wird der deutsche Imperialismus jetzt selbst aktiver. Um den eigenen Einfluss insbesondere in den nord- und osteuropäischen EU-Staaten (vor allem gegenüber den USA!) abzusichern, spannt er ein Luftabwehrschild über Europa (Sky Shield) und erhöht seine militärischen Anstrengungen in der Ukraine selbst. Die Interessen der Ukraine oder gar der ukrainischen Massen spielen dabei keinerlei Rolle.

Kriegspropaganda

Appellierend an das Gefühl der Vaterlandsverteidigung gelingt es den herrschenden Klassen in der Ukraine (gegen den russischen Angriff) und in Russland (gegen die Expansion des westlichen Imperialismus) noch, unter den Massen eine zumindest passive Kriegsunterstützung sicherzustellen. Beide setzen mit ihren Argumenten auch an der Realität an.

Die mächtigsten imperialistischen Gangster in Washington, Berlin und London (und im Beiwagen auch Wien) haben die Welt unter sich aufgeteilt und gehen für ihre Profitinteressen über Leichen: in Jugoslawien, im Irak, Afghanistan, Libyen, durch das Anfachen der Kriege im Jemen, Syrien und nun eben auch der Ukraine. In den 90er Jahren haben sich diese Verteidiger von „Demokratie“ und „Rechtsstaat“ an der Ausplünderung Russlands bereichert, während die russische Arbeiterklasse im Elend versank. Das haben die russischen Arbeiter nicht vergessen.

Der weniger mächtige imperialistische Gangster Russland ist aber wegen seiner schwächeren Position nicht weniger aggressiv oder gar das „geringere Übel“ gegenüber dem westlichen Imperialismus. Unter Putins Herrschaft regenerierte sich der Kapitalismus in Russland wirtschaftlich, militärisch und politisch und nutzt die aus der sowjetischen Planwirtschaft geerbte industrielle und militärische Kapazität, um sich auf der Weltbühne zu reetablieren.
Und auch der kleinste der Gangster in diesem Reigen, die Ukraine, hat nicht weniger reaktionäre Ziele. Die Oligarchen haben sich auf die reaktionärsten Elemente des ukrainischen Nationalismus und Faschismus gestützt, um die Wendung hin zum Westen innenpolitisch durchzusetzen. Und als im letzten Sommer Russland militärische Niederlagen einsteckte, brachen durch den Deckmantel der „Verteidigung des Vaterlandes“ bei den staatlichen Offiziellen sofort Großmachtfantasien einer „Dekolonisierung Russlands“ durch, bei der selbstverständlich die ukrainischen Herrschenden „Beschützer“ der „befreiten“ Nationen wären.

Für die Arbeiterklasse gibt es hier kein „geringeres Übel“. Der Krieg wird von allen Seiten mit reaktionären Zielen und reaktionären Mitteln geführt. Er ist ein Ausdruck der unlösbaren Widersprüche des Kapitalismus in seiner imperialistischen Epoche. Die einzelnen in rivalisierenden Nationalstaaten organisierten Kapitalistengruppen müssen bei Strafe ihres eigenen Untergangs um eine Neuaufteilung der Welt kämpfen.

Dynamit in den Fundamenten

Die Logik des Abnutzungskrieges sorgt derweil dafür, dass auf beiden Seiten immer mehr Soldaten zum Kämpfen und Sterben benötigt werden. Und das sind statt Kriegsfreiwilligen immer öfter wehrpflichtige Arbeiter in Uniform. Die Oligarchensöhne und -töchter auf beiden Seiten verweilen oft im sicheren Ausland oder zumindest im sicheren Hinterland und inszenieren sich dabei als die „mutigsten Aktivisten“. Jene, die nur ein bisschen Geld haben, können zumindest dafür sorgen, nicht an vorderster Front zu stehen.

Besonders die Ukraine (ver)braucht immer größere Teile der Bevölkerung für den Krieg. Ein Reporter des „New Yorker“ berichtet: „Fast jeder Wehrpflichtige, den ich in den Gräben getroffen habe, war ein manueller Arbeiter – Bauer, Zimmerer, Hafenarbeiter, Installateur – und es gab haufenweise Geschichten von Ukrainern mit genügend Mitteln, die durch Bestechung und Nepotismus verhindern, dass sie eingezogen werden. ‚Am Beginn des Krieges konnte man Leute aus den oberen Klassen in der Infanterie finden, aber nach einem Jahr ist kein Ende in Sicht – die Wahrscheinlichkeit, dass du stirbst ist höher, und du bist verdammt nochmal müde‘, erzählte mir ein Veteran“. Die Geduld der ukrainischen Arbeiter mit ihren „oberen Klassen“ wird nicht ewig andauern.

Der russische Staatsapparat versucht, diesen Prozess so weit wie möglich zu verzögern und hat im Herbst nur eine „Teilmobilmachung“ von etwa 300.000 Reservisten durchgeführt. Aber der Preis dafür war die Bewaffnung von zehntausenden Söldnern, die nicht unter der direkten Kontrolle des Verteidigungsministeriums standen. Das hat ebenfalls seinen politischen Preis, wie sich mit der letztendlich gescheiterten Meuterei der Wagnergruppe unter ihrem Führer Jewgeni Prigoschin Ende Juni zeigte. Unsere Korrespondenten in Russland analysieren:
„In seinem ökonomischen Programm unterscheidet sich Prigoschin nicht von Putin. Doch in seiner Agitation wandte er sich an alle, die mit dem – allzu oft völlig mittelmäßigen – militärischen Führungspersonal unzufrieden waren. Vor allem aber ermutigten seine Worte die Leute, die den ‚Krieg bis zum Sieg‘ wollen: Jene, die wie Prigoschin für eine Militarisierung der Wirtschaft, für eine Generalmobilmachung und für die Verhängung des Kriegsrechts sind.“

„Ein solches ‚Aktionsprogramm‘ könnte zu nichts anderem führen als zu einem Umschwung der Stimmung der arbeitenden Menschen und des militärischen Personals, weg von einer passiven Unterstützung des Krieges hin zu seiner aktiven Ablehnung. In Kombination mit der unvermeidlichen wirtschaftlichen Krise und der politischen Instabilität könnte das eine revolutionäre Situation bedeuten.“

Der Hauptfeind steht im eigenen Land!

Im Westen hat die Erschütterung des russischen Staatsapparates jenen Kräften wieder Auftrieb gegeben, die für eine offensivere Haltung gegen Russland und einen „Krieg bis zum Sieg“ stehen. So titelte etwa der deutsche „Spiegel“: „Regime Change in Russland darf für den Westen kein Tabu sein.“

Die Aussicht auf ein Ende des Krieges durch Verhandlungen ist in weite Ferne gerückt. Die Auswirkungen des Krieges insbesondere die hohen Preise für Energie und Nahrungsmittel werden auch hierzulande weiter spürbar bleiben. Schon jetzt werden Abermilliarden in den Krieg und die Aufrüstung gesteckt. Im Frühjahr sprach der Vorsitzende der konservativen Fraktion im EU-Parlament Weber davon, dass sich die EU auf eine „Kriegswirtschaft“ umstellen müsse. Gleichzeitig stehen überall in Europa Gesundheits- und Bildungswesen nach Jahren der Sparpolitik am Rande des Zusammenbruchs.

Die Arbeiterbewegung auch in Österreich darf daher dem Krieg in der Ukraine nicht gleichgültig gegenüberstehen, oder noch schlimmer, die Interessen der eigenen herrschenden Klasse nachvollziehen. Im Gegenteil: Sie muss gegen die Interessen der eigenen Herrschenden und gegen die Unterstützung des Krieges kämpfen.

Hinter dem Deckmantel der „Neutralität“ versteckt das österreichische Kapital die Abhängigkeit vom westlichen Imperialismus genauso wie den Versuch, trotzdem Profite mit beiden Kriegsparteien zu machen. Die Position der österreichischen Arbeiterbewegung muss sein: Kein Cent für den Krieg! Kein Cent Profit mit dem Krieg, nirgendwo!

Keine weitere Zustimmung zu den EU-Kriegskrediten aus Österreich. Die Raiffeisenbank darf keine wie auch immer gelagerte politische Unterstützung bekommen, weiter Milliardenprofite in Russland und der Ukraine zu machen – und keinen Cent „Staatshilfe“, wenn sie damit scheitert. Kein österreichischer Rüstungskonzern darf Waffen liefern, keine Waffen dürfen durch Österreich transportiert werden. Konzerne, die sich nicht daran halten, müssen unter Arbeiterkontrolle enteignet werden. Alle Soldaten raus aus dem Balkan, wo Österreich seine eigene, „kleine“ imperialistische Politik betreibt.

Indem die Arbeiterbewegung und Jugend hierzulande den Kampf gegen die Kriegstreiberei und den Chauvinismus der eigenen Herrschenden aufnimmt, helfen wir den Arbeitern und Jugendlichen in Russland am besten dabei, die Propaganda der eigenen Herrschenden zu durchbrechen und gegen Putin und seine Oligarchenfreunde zu kämpfen. Das wiederrum ist die beste Garantie dafür, dass der Weg für die Arbeiterklasse in der Ukraine frei ist, gegen ihre Kapitalisten und Nationalisten kämpfen zu können. Nur so kann imperialistischer Krieg tatsächlich dauerhaft beseitigt werden: Durch die Machtübernahme der Arbeiterklasse in einer sozialistischen Revolution in allen Ländern.

Florian Keller, Der Funke Österreich
12.07.2023