Vom 17. Bis 19. September fanden in Russland Parlamentswahlen statt, die den erwarteten Wahlsieg der Kreml-Partei „Einiges Rußland“ brachten. Oleg Bulajew in Moskau berichtet zum Abschluss des Wahlkampfes am 17. September über die realen Prozesse in der russische Gesellschaft, die sich im staatsgemanagten Wahlkampf und Wahlergebnis nur gebrochen widerspiegeln.
Die diesjährige Wahl zur Duma wurde von der schmutzigsten Kampagne seit Jahrzehnten begleitet. Nachdem das Putin-Regime zuerst die UnterstützerInnen des liberalen Oppositionsführers Alexei Nawalny zu Extremisten erklärt hatte, wenden sie jetzt die volle Kraft der Propaganda und des Polizeiapparats gegen die Kommunistische Partei.
Gegen den Willen des Parteiführers Gennadij Sjuganow wurde die Kommunistische Partei zur wichtigsten Oppositionskraft, um die sich alle liberalen und linken Strömungen sammelten.
Unter diesen Umständen wächst in der Partei die Nachfrage nach marxistischen Ideen und einem klaren kommunistischen Programm. Es kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Ergebnisse dieser Wahl den Platz der KPRF im politischen Prozess in Russland für die kommenden Jahre maßgeblich bestimmen werden.
Die Wahlen für die Staatsduma der Russischen Föderation versprechen ein wichtiger Wendepunkt zu werden, sowohl in der Entwicklung des politischen Regimes, das seit 1993 an der Macht ist, als auch in der generellen sozio-politischen Situation. Diese Wahl wird von mehreren wichtigen Faktoren geprägt.
Erstens: der Prozess, der Machtkonzentration und Machtkonsolidierung des Oligarchen-Kapitals, das sich allmählich im post-sowjetischen Russland herausbildete, hat nun seine finale und vollendetste Form entwickelt. Das fällt zeitlich zusammen mit einem Einbruch des Vertrauens der Massen in das System.
Dieses System, das sich nach Jelzins Militärputsch 1993 etablierte, ergoss sich damals in drei parlamentarische Parteien – Einiges Russland, die Liberaldemokraten und Gerechtes Russland, die Russlands politische Bühne heute vollständig dominieren. Seit den Neunzigern sind sie eindeutig und unhinterfragt dem Willen der Exekutivmacht und dem Großkapital untergeordnet, mit bonapartistisch-autoritären Führern wie Wladimir Putin an der Spitze.
Der Präsident und seine parlamentarischen Schoßhündchen sind die entschlossenen Manager und fanatischen Verteidiger der Interessen des Großkapitals. Die Dominanz des Oligarchie-Kapitals und die Konzentration der politischen Macht in den Händen von Putins Clique wurden durch das Verfassungsreferendum Juni/Juli 2020 weiter gestärkt, das Putin erlaubt, für weitere Präsidentschaftsperioden anzutreten.
Putins Autorität stützt sich auf den Sicherheitsapparat des russischen Staats. Eine Zeit lang konnte er sich aber auch auf seine persönliche Popularität verlassen, die er in seinen frühen Tagen als Präsident gewann, als Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion und einer schweren wirtschaftlichen Krise in den Neunzigern einen Aufschwung erlebte. Darauf aufbauend hielt sich in breiten Schichten der Bevölkerung die Illusion, dass Putin ein „guter Zar“, umgeben von „schlechten Bojaren“ sei. Die Krise des russischen Kapitalismus macht es aber mittlerweile unmöglich, das völlige Verfaulen des Putin-Regimes zu ignorieren.
Verkörpert in Nawalnys Person versuchten Teile der liberalen Opposition Untersuchungen über Putins persönliche Korruptheit und die seiner Gefolgschaft anzuleiten. Das hat geholfen, Putins Propagandabild des „asketischen nationalen Führers“ zu untergraben. Das volle Bild der enormen Klassenpolarisation der russischen Gesellschaft in der die haarsträubende Armut der Mehrheit der arbeitenden Menschen einhergeht mit dem opulenten Leben der herrschenden Klasse und ihres Präsidenten wurde nun für jedermann greifbar.
Diese oppositionellen Ermittlungsergebnisse sind von der enormen Verarmung der arbeitenden Bevölkerung überlagert, kombiniert noch mit dem zügellosen Preisanstieg für tägliche Konsumgüter. Nach Rosstat gab Ende letzten Jahres ein Viertel der Bevölkerung fast das ganze Familieneinkommen für die täglichen Bedürfnisse aus, insbesondere Essen, Energie, Rechnungen usw. Weiters stieg im ersten Quartal 2021 die Zahl der überfälligen Überbrückungskredite von fünf auf sieben Millionen Schuldner.
Diese beiden Tatsachen hängen ganz offensichtlich zusammen, da in den meisten Fällen Kreditkartenüberziehungen oder Mikrokredite für die Deckung von Miete und Essen verwendet werden, was vormals von Haushaltslöhnen gezahlt werden konnte. Innerhalb kurzer Zeit waren Millionen ArbeiterInnen dazu gezwungen, auf Überbrückungskredite umzusteigen, um zu überleben. Und jetzt können sie diese Kredite nicht mehr voll zurückzahlen, da das Niveau ihrer Reallöhne immer weiter sinkt, was sie tiefer und tiefer in die Schuldensklaverei bei den Banken führt.
Das erklärt das wachsende Verständnis der Massen über die Essenz des Kapitalismus. Repression, Armut, Erniedrigung, Hoffnungslosigkeit und eine historische Sackgasse – das ist alles, was die Vertreter der Kapitalinteressen, also der Präsident und die Mehrheit der Dumaparteien, den Menschen bieten können.
Es ist dieses Verständnis, das eine zunehmende Protesthaltung gegen die ganze herrschende Ordnung unter den Massen hervorruft. Das kann natürlich immer noch den Weg parlamentarischer Illusionen oder völlig irrationale Formen annehmen, aber die Tendenz hin zu radikalem Misstrauen gegen das herrschende System reift in der Gesellschaft. Das ist unausweichlich und wird zwangsläufig zu einem starken Anstieg an Klassenkämpfen in der kommenden Periode führen.
Das bildet ideale Bedingungen für die Kommunistische Partei, bedeutende Zugewinne bei den Wahlen zu machen. Aber die KP sieht sich zwei mächtigen Hindernissen gegenüber: die kompromittierende Politik der Sjuganow-Clique in der Parteiführung und politische Repression durch das Regime.
Das erste offensichtliche Zeichen des wachsenden Unmuts der Menschen ist der enorme Rückgang der Unterstützung für die herrschende Partei Einiges Russland und ihrer Abkömmlinge. Sogar nach den Schätzungen der Kreml-finanzierten Agenturen liegen ihre Zustimmungswerte momentan in der Region von etwa 30%.
Auch schon vor dieser Wahl konnte die herrschende Partei Macht und gewünschte Mehrheiten bei Wahlen nicht mehr anders erreichen als durch Fälschung, Polizeigewalt, Wahlmanipulation, Entfernung von starken Oppositionellen, Bestechung, Wahlzwang für Staatsangestellte usw.
Zurzeit verdoppeln sie ihre Anstrengungen in diese Richtung und kombinieren diese Methoden mit offener Repression gegen die radikalsten Linken und auch gegen liberale Teile der Opposition. Sie kämpfen mit allen dreckigen politischen Taktiken gegen die einzige legal operierende Oppositionspartei (KPRF) und verwenden die Pandemie als Vorwand, unabhängige Wahlbeobachtungen zu verhindern.
Um die gefährlichsten Kandidaten auszuschließen, verwenden die Behörden eine Reihe an hinterlistigen Tricks. Es wurden Gerichtsverfahren mit dem Vorwurf des Extremismus gegen das berühmteste Mitglied der KPRF, Nikolai Bondarenko initiiert, dessen YouTube-Kanal das größte linke politische Medium in Russland darstellt.
Eines der Strafverfahren gegen Bondarenko wegen „Extremismus“ wurde wegen eines Videos von vor zehn Jahren (!) eröffnet, in dem er das Parteiprogramm von Einiges Russland auseinandernimmt. Das Video wurde 2013 erstmals als extremistisch eingestuft, zwei Jahre nachdem Bondarenko es veröffentlichte. Bondarenko brauchte über einen Monat, um diese verlogenen Vorwürfe abzuwehren. Dieselbe Taktik wurde später gegen Juchnewitsch verwendet, dem Abgeordneten für die westsibirische Stadt Tjumen, der plante, als Kandidat fürs Parlament nominiert zu werden. Er hatte weniger Glück als Bondarenko, wurde zu einer Geldbuße verurteilt und von der Kandidatur ausgeschlossen. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.
Um die Aktivitäten der Kommunistischen Partei so gut wie möglich zu untergraben, sperrt die Polizei regelmäßig Parteiunterstützer ein und legt ihnen Geldstrafen auf, wenn sie zu Demonstrationen gehen oder sich mit Kandidaten treffen. Am 29. Juli beispielsweise wurde ein Mitglied der Internationalen Marxistischen Tendenz in Moskau gemeinsam mit 30 anderen Teilnehmern auf einer Demo wegen „Verletzung des Versammlungsgesetzes“ verhaftet. Solche Inhaftierungen können ernste Konsequenzen haben: eine dreimal festgenommene Person kann einem Strafverfahren zugeführt werden.
In diesen Beispielen sehen wir den praktischen Ausdruck der Angst der Machthaber vor den Kommunisten. Was sie insbesondere an der Kommunistischen Partei oder manchen ihrer Mitglieder fürchten, ist die reale Möglichkeit, dass die KPRF zum zentralen Fokuspunkt für den Klassenkampf werden könnte, der sich unter der Oberfläche in der Gesellschaft zusammenbraut.
Diese Schikane und Repression des Staats stärken aber nur unsere Entschlossenheit und die der Linken in der Kommunistischen Partei, gegen das Putin-Regime und für eine sozialistische Zukunft zu kämpfen.
Valerij Raschkin und eine Reihe an linken Abgeordneten beispielsweise halten jede Woche im Zentrum Moskaus eine Veranstaltung gegen politische Repression und die herrschende Regierung ab. Unterstützer der IMT nehmen regelmäßig daran teil und verteilen unsere Zeitung und Flugblätter unter den Zuhörern. Unter dem Druck der Repressionen öffnen sich mehr und mehr Mitglieder der KPRF und im Komsomol [der Kommunistischen Jugend, Anm.] unseren Ideen.
Die MarxistInnen haben auch die Wahlen genutzt, um unser Programm zu propagieren. In Twer (Zentralrußland) wurde IMT-Mitglied Georgij Kovanskij als Kandidat der KP für den Stadtrat nominiert. Und in Moskau spielten wir trotz unserer begrenzten Kräfte eine aktive Rolle in den Kampagnen zweier Kandidaten der KPRF: Michail Lobanow und Nikolaj Volkow, die beide Vertreter von Universitätsgewerkschaften sind. Sie haben in ihren Wahlkreisen reale Chancen, Putins Handlanger zu besiegen.
Als Teil zu Volkows Kampagne organisierte die IMT eine große antiklerikale Demo im Moskauer Stadtbezirk Sjusino mit Reden unserer Genossen, Volkows und eines unabhängigen Abgeordneten des Bezirkrats, Konstantin Yankauskas. Diese Veranstaltung waren trotz der Anordnung der Behörden an die Kommunalen ArbeiterInnen, unsere Plakate zu entfernen ein Erfolg.
All das bedeutet nicht, dass wir uns auf die Wahlkampagnen linker KP-Kandidaten beschränkt hätten. Wir benutzten diese Wahlen als Plattform, um unsere revolutionären marxistischen Ideen zu verbreiten. Wir appellierten beispielsweise auf einer großen Versammlung in Moskau am 15. August an die KP, ein einheitliches Programm auf Basis des Erbes der russischen Revolution anzunehmen: die komplette Verstaatlichung der Produktionsmittel und die Organisation einer demokratisch geplanten Wirtschaft; die Ersetzung der Polizei durch eine Arbeitermiliz; die entschädigungslose Enteignung der Oligarchen und der größten russischen Monopole unter Kontrolle der Arbeiterklasse, und die Freilassung linker Sträflinge.
Diese Ideen bekommen ein bedeutendes Echo unter den entschlossensten und kämpferischsten Schichten in der kommunistischen Bewegung.
Es ist jetzt schon klar, dass ein bisher unbekanntes Niveau an Betrug diese Wahl begleiten wird. Wie wir oben schon geschrieben haben, gab es seit 1996 keine so schmutzige Kampagne mit Verunglimpfung und Lügen gegen die kommunistische Opposition. Das passiert, weil die herrschende Klasse trotz der relativen politischen Apathie die Sympathien der Massen langsam, aber sicher nach links kippen sieht.
Das lässt sich auch an einer der letzten Umfragen ablesen, die fast zwei Drittel der Russen (62%) als UnterstützerInnen für eine staatlich geplante Wirtschaft und Verteilung aufführt. Das ist der höchste jemals erfasste Zustimmungswert. Zum Vergleich: nur 24% befürworten noch ein auf Privateigentum und Markt gestütztes Wirtschaftssystem.
Weiters sagt beinahe die Hälfte der Russen (49%), sie würden das sowjetische politische System gegenüber dem bestehenden bevorzugen. Das ist der höchste Wert seit den frühen 2000ern Jahren. Lediglich 18% bevorzugen das aktuelle politische System, ein Wert, der sich seit 2015 halbiert hat. Gleichzeitig sagen nur 16%, das beste politische System sei „Demokratie nach Vorbild der westlichen Länder“.
Wie will die Führung der Kommunistischen Partei der intensivierten politischen Repression begegnen? Sie kündigten im Vorhinein geplante Proteste im ganzen Land an. Das haben wir schon öfter gehört, in Wirklichkeit schon die letzten zehn Jahre. Letztlich wurde das aber immer auf kurze Proteste beschränkt, wo zwar große Reden geschwungen, aber keine praktischen Vorschläge geliefert wurden. Die Bedeutung dieser Events für die Sjuganow-Clique liegt darin, der wachsenden Proteststimmung Raum zu geben, nur um dann die ArbeiterInnen wieder zu verraten, wie wir das schon viele Male gesehen haben. Ohne diese kompromittierende und halbherzige Politik der Parteiführung könnten wir sogar von einer realen Chance einer kommunistischen Mehrheit in der Duma sprechen – wenn auch natürlich keine absolute.
Es gibt entschiedenere und ernstere KP-Führer, so wie Raschkin, Bondarenko, usw. Aber trotz all ihres Radikalismus beschränken auch sie sich streng auf den Rahmen der bürgerlichen institutionellen Politik, und bieten daher in letzter Konsequenz keine reale Alternative nach vorne an.
Unsere Aufgabe als MarxistInnen ist es, an den Demonstrationen und Protesten der Kommunistischen Partei teilzunehmen, aber wir sagen der ArbeiterInnen auch, dass die jetzige Parteiführung sie verraten wird, so wie sie es in der Vergangenheit getan hat. Die einzige Lösung ist es, die KPRF auf der Basis echter marxistischer und leninistischer Ideen wieder neu zu errichten, mit der Wiedereinführung eines revolutionären sozialistischen Programms!
Die Krise des russischen Kapitalismus spiegelt sich zunehmend innerhalb der KPRF wider, die von wachsenden Schichten der Arbeiterklasse auf politischer Ebene als zentraler Hebel der Opposition gegen Putin gesehen wird. Trotz ihrer Beschränkungen der Führung hat die Partei die militantesten und progressivsten Elemente der Gesellschaft um sich gesammelt. Indem wir in diesen Wahlen neben den kommunistischen Kandidaten kämpfen und die genuinen Traditionen der Bolschewistischen Partei verteidigen, werden wir die besten dieser Elemente für die Ideen des revolutionären Marxismus gewinnen können.
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