Die letzten 18 Monate waren für die Bevölkerung Frankreichs ein wahrer Wirbelwind politischer Erfahrungen. Diese fliessen nun in die Stimmung vor dem Wahlkampf ein. Doch um zu verstehen, wieso sich die Geschehnisse in Frankreich so intensiviert haben, braucht es einen Blick auf die Entwicklung der Stellung Frankreichs innerhalb Europas.
Ein langsamer Abstieg
Frankreichs Entwicklung in den letzten zwei Jahrzehnten ist einerseits gezeichnet durch die rapide De-Industrialisierung und andererseits durch eine hartnäckige Verteidigung der Arbeitsbedingungen. Dieser Prozess baute Spannungen auf. Frankreich beherbergt Europas zweitstärkste Volkswirtschaft. Diese befindet sich in direkter Konkurrenz zu derjenigen Deutschlands. Dieses Verhältnis ist gezeichnet von einem kontinuierlichen Vorteilsverlust auf Seiten Frankreichs.
Dass die ArbeiterInnenbewegung standhaft ihre Errungenschaften verteidigte, verunmöglichte es den französischen KapitalistInnen – Im Vergleich zu den deutschen – mit Hilfe von Lohnsenkungen, Arbeitszeitverlängerung und Arbeitsintensivierung ihre Verwertungsbedingungen entscheidend zu verbessern.
Einige Zahlen: Die Vollzeitbeschäftigten in Frankreich arbeiten jährlich 1’661 Arbeitsstunden, die deutschen 1’847. Das sind über zweieinhalb Stunden weniger pro Woche, über 200 Stunden weniger im Jahr!
Gleichzeitig wurden in Frankreich zwischen 1980 und 2007 1.9 Millionen Arbeitsplätze in der Industrie vernichtet. Das waren ein Drittel der Jobs in der Produktion. Doch Frankreichs KapitalistInnen modernisierten dabei nicht ihren Produktionsapparat: In der Periode zwischen 1995 und 2012 haben in Deutschland die Investitionen in die Industrie – in Maschinen, Werke etc. – um 40% zugenommen, während jenseits des Rheins nur 5% mehr investiert wurde. Dies führt zwangsläufig dazu, dass die deutsche Industrie gewinnbringender produzieren kann. Im gleichen Zeitraum stieg die Profitabilität der deutschen Exporte um 15%, während sie in Frankreich um gleich viel abnahm.
Es sind diese Verschiebungen, welche erklären, wieso heute Deutschland einen Exportüberschuss von (jährlich) 252,9 Milliarden ? vorweisen kann, während Frankreich 48,1 Milliarden – mehr importiert als exportiert – gerade da die beiden Volkswirtschaften z. T. in direkter Konkurrenz stehen (z.B. im Automobilsektor). Diese Zahlen zeigen deutlich, dass Deutschlands Wirtschaft im Verhältnis sehr gut dasteht, während Frankreichs Wirtschaft serbelt. Die Veränderung im wirtschaftlichen Gleichgewicht führt schlussendlich zu einem veränderten politischen Gleichgewicht. In der Griechenlandkrise wurde klar aufgezeigt, wer das Sagen hat.
Eine schmerzhafte Erfahrung
Vor diese Probleme sah sich der „Sozialist“ Hollande gestellt, als er 2012 sein Amt antrat. Dazu kamen noch drei Millionen Arbeitslose (10%). Seine Versprechen waren deutlich: Kampf gegen die Finanzelite und Einführung einer Reichensteuer. Um diese Versprechen zu verwirklichen, hätte er die Interessen der KapitalistInnen frontal angreifen müssen. Doch diese Möglichkeit war für ihn seit jeher ausgeschlossen. Bereits im ersten Amtsjahr war offensichtlich, auf welche Seiteer sich im Zweifelsfall stellte: die Seite der KapitalistInnen. In den ersten beiden Jahren folgten die Liberalisierungsmassnahmen einem gemächlichen Rhythmus, während sich die soziale Situation verschlimmerte. 2015 wurde die Konterreform „Loi Macron“ (Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten, weniger Schutz für Gewerkschaftsdelegierte etc.), benannt nach dem neuen Wirtschaftsminister, per Vertrauensvotum durchs Parlament geprügelt.
Für die KapitalistInnen war diese Politik ein Erfolg. Seit 2012 stiegen die Lohnkosten (pro Arbeitsstunde) in der französischen Industrie nur um 4.8%? knapp die Hälfte des Anstiegs in Deutschland (9.3%). Doch die französische ArbeiterInnenschaft spürte diesen Rückschritt am eigenen Leib. Die soziale Temperatur stieg an, es kam aber nur zu isolierten, jedoch kämpferischen Streiks. Im Herbst 2015 zeigte ein Zwischenfall bei Air France die wahre gesellschaftliche Stimmung. Als die CEOs der Fluggesellschaft entschieden, knapp 3000 Angestellte zu entlassen, umstellten die Angestellten das Sitzungsgebäude. Ein Firmenboss entkam mit zerschlissenem Hemd. Dieses Hemd wird zum Sinnbild der Wut gegen die Politik der Regierung.
Terror als Mittel
Die schrecklichen Terroranschläge von November 2016 würgten diese Protestwelle ab. Die Regierung liess mit Erfolg die nationale Einheit aufleben und die Gewerkschaften sagten für die Dauer des Ausnahmezustandes alle geplanten Proteste ab. Das Notstandsgesetz wurde regelmässig erneuert, mit Stimmen der KP- und fast allen SP-ParlamentarierInnen.
Die Regierung fühlte sich wieder sicher im Sattel. In dieser Situation schätzen Wirtschaftsminister Macron und Premier Valls die Zeit als reif für ihren grössten Angriff auf die Gewerkschaften und die Wochenarbeitszeit. Sie lancierten die Arbeitsmarktreform, benannt nach der Arbeitsministerin El Khomri. Das war eine krasse Fehleinschätzung.
Es regte sich unerwartet schnell Widerstand. Die Jugend riss einen Teil der ArbeiterInnenschaft mit und zwang damit die Gewerkschaften, Protesttage zu organisieren. Es kam zu Demonstrationen mit über einer Million Teilnehmenden. Schlussendlich wurde dasGesetzt aber trotz des enormen Widerstandesmit einer Vertrauensabstimmung durchs Parlament gepeitscht. Die verräterische Gewerkschaftsführung wollte es nicht auf einen entschiedenen Machtkampf mit der Regierung ankommen lassen und liess die Bewegungversanden.
Doch diese Episode lehrte die Jugend und einem Teil der ArbeiterInnenschaft einige Lektionen: Erstens erlaubte sie einer neuen Generation, welche in ihrem aktiven politischen Leben nur die soziale Regression kannte, erste wichtige Kampferfahrungen zu sammeln. Zweitens setzte der Widerstand zwischenzeitlich den Front National (FN, „NationaleFront“) K.O., denn über 70% seiner Wählerschaft unterstützen die Bewegung. Seine AnführerInnen waren zum Schweigen gezwungen. Dies zeigte die Widersprüche innerhalb der FN-Wählerschaft offen auf.
Eine lange Kampagne
Erst im Herbst 2016 gewinnt die Bourgeoisie wieder an Selbstvertrauen. Die Medienlandschaft benutzt absichtlich den FN und sein zynisches Aufbauschen eines vermeintlichen „Kulturkampfes“, um die öffentliche Debatte zurück auf das Terrain der „nationalen Identität“ und der Islamophobie zu führen.
Wie schon in Griechenland und in Spanien konzentriert sich nun die Aufmerksamkeit der Lohnabhängigen auf die politische Arena. Nach einer langen Periode von erfolglosen sozialen und industriellen Kämpfen setzte die griechische ArbeiterInnenschaft Anfang 2015 auf die SYRIZA. In Spanien entwickelte sich nach zwei Jahren unermüdlicher Demonstrationen die Partei PODEMOS. Dieses Phänomen wird bestätigt durch den Anstieg der Registrierungen auf den Wahllisten (um wählen zu dürfen), welche in ganz Frankreich sprunghaft zugenommen haben. In gewissen Bezirken um über 10%.
Dadurch erhöht sich noch die Unvorhersehbarkeit, welche in diesem Wahlkampf herrscht. Gewisse Hochrechnungen geben die Kandidaten Macron und Le Pen als klare Gewinner des ersten Wahlganges aus. Anderen Umfragen zufolge geniessen die vier Kandidaten Fillon (Republikaner), Macron, Le Pen und Mélenchon (siehe weiter unten) jeweils unterstützungswerte zwischen 22.3% und 18%. Doch wie der Brexit und die Trump-Wahl gezeigt haben, ist die einzige Gemeinsamkeit aller Hochrechnungen, dass sie keine sicheren Vorhersagen erlauben.
Ein brauner Elefant
Der FN dominiert den Wahlkampf. In erster Linie profitiert er von der Diskreditierung aller Parteien und ihrer Unfähigkeit, irgendetwas gegen die sozialen Verschlechterungen zu tun. Dies erklärt den Wahlrekord der Regionalwahlen 2015: 6.8 Millionen Stimmen (27%).Mit diesem Resultat wäre ihnen der zweite Wahlgang garantiert. Wäre! Denn es ist immer noch die Wahlenthaltung, welche die grösste „Partei“ darstellt. 73% der Jugendlichen, 65% der „Arbeiter“ und 68% der „Angestellten“ gehen nicht wählen. Das reduziert die FN-Unterstützung gesamthaft von 40 auf 13%, bei den 18- bis 30-Jährigen von 30 auf 8%. Das ist weit weg von der „massiven Verankerung“ welche die Medien verkünden.
Dazu kommt, dass auch der FN von internen Widersprüchen nicht verschont wird. ImWahlkampf verfolgt die Partei zwei z. T. widersprüchliche Strategien. Im Norden des Landes soll ein Anti-Establishment- Populismus die ex-PS-WählerInnen überzeugen. Dafür müssen reaktionäre Forderungen (wie das Verbot von Abtreibungen) fallengelassen werden. Im Süden jedoch stützt sich der FN auf die rechtere, reaktionär-katholische WählerInnenschaft. Dies bildet die Basis des Machtkampfes zwischen Marine und ihrer rechtsextremeren Nichte und Parlamentsabgeordneten Marion Maréchal-Le Pen. Dazu kommt noch Marines eigener Veruntreuungsskandal. Das EU-Parlament behauptet, sie hättemit 300’000 ?, welche für persönliche MitarbeiterInnen bestimmt waren, die Löhne ihres Wahlkampfteams bezahlt.
Rebellisches Frankreich
Links aussen zeichnet sich um Jean-Luc Mélenchon eine klare Alternative ab. Diese beginnt, die vorhandene Radikalisierung zu verkörpern. Der Kandidat war bereits 2012 Präsidentschaftskandidat, erreichte mit 11% ein ansehnliches Resultat und organisiert Meetings mit über 100’000 Personen.
Für 2017 gründete er die Bewegung „Rebellisches Frankreich“. Sein Programm ist das eines Linksreformisten, welcher versucht hat, Schlüsse aus dem Syriza-Versagen zu ziehen, aber nicht über einen linken Nationalismus hinauskommt. Doch viel mehr als sein Programm zeigt das explosive Wachstum seiner Bewegung deren Potential: 200’000 (im Internet) registrierte UnterstützerInnen. Bei einer Schicht an radikalisierten ArbeiterInnen und Jugendlichen herrscht eine binäre Betrachtungsweise: Entweder du unterstützt Mélenchon oder du verteidigst das korrupte Regime.
Der Wahlkampf hat noch nicht begonnen, doch die Wogen gehen bereits sehr hoch. Nach der Hollande-Erfahrung war der Vertrauensverlust in die bürgerlichen Institutionen Frankreichs noch nie so hoch. Keine der Kandidaturen kann der krisengeschüttelten Republik ihre Stabilität zurückgeben. Der Wahlkampf wird heiss, eine Abkühlung wird
es auch danach nicht geben.
FRANÇOIS FILLON
Les Républicains
Dank dem Ex-Präsidenten Sarkozy und seiner Wahlkampfkorruption unterzog sich die UMP einem Rebranding und änderte ihren Namen – die Politik blieb die gleiche. Fillon präsentierte sich als Saubermann und klar liberaler. Sein Ziel: 500’000 öffentliche Angestellte entlassen. Doch seitdem Anfang Februar Korruptionsvorwürfe publik gemacht worden sind, befindet sich seine Kandidatur in der Schwebe. Fillon soll während den letzten 20 Jahren über 900’000€ Staatsgelder an seine Familie ausbezahlt haben. Er behauptet, das sei alles legal gewesen. Die Umstände sprechen gegen ihn.
EMMANUEL MACRON
En Marche
Der Ex-Wirtschaftsminister von Hollande war nie Mitglied einer Partei, dafür Partner bei der Investmentbank Rothschild. Dort bezahlte er sich selber z.B. 2 Millionen aus, als er für Nestlé die Pudermilchsparte von Pfizer für 9 Milliarden kaufte. 2016 gründete er seine Partei „En Marche“ (Vorwärts) – laut gewissen Medien mit Hilfe von 120’000 – seiner Spesenabrechnung als Minister. Er geniesst die Unterstützung vieler KapitalistInnen, welche auch die Medienmonopole beherrschen, was seiner sterilen, künstlichen Kampagne eine ununterbrochene Berichterstattung garantiert.
BENOIT HAMON
Sozialisten
Der SP-Kandidat, verbaler Kritiker der Regierung (der aber im Parlament dennoch für sie stimmte), mit seinem dezidiert „linken“ Programm, ist die einzige Chance für die PS, überhaupt ihre Daseinsberechtigung zu verteidigen. Der Hollande hatte noch das Vertrauen von 11% der französischen Bevölkerung im letzten November. Dass seine Popularität nach dem Entscheid, nicht zu kandidieren um 14%zunahm, spricht Bände. Mit der Worthülse des „Zusammenschlusses der Linken“ versucht Hamon Druck auf Mélenchon auszuüben. Gleichzeitig verteidigt er alle rechten PS-Minister (inkl. El Khomri und Valls) als ParlamentswahlkandidatInnen.
Caspar Oertli
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